Kurzgeschichte: Sie war mal meine beste Freundin

In einer kleinen Schwabinger Kneipe ist sie mir begegnet. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern. Meine Mutter war wenige Tage vorher gestorben, und obendrein kam ich gerade von meinem Freund, dem ich just an diesem Abend die Beziehung vor die Füße geschleudert hatte. Meine Gemütsverfassung war also nicht die Beste, und ich hatte eigentlich nur vor, mich an den Tresen zu setzen und ein Glas Wein (gern auch mehrere Gläser) zu trinken. Ohne Gespräche mit irgendeiner Menschenseele. Ich wollte einfach nur da sitzen, Wein trinken und meine Wunden lecken.
Dazu kam ich aber nicht. Ich wollte gerade einen Schluck nehmen und setzte das Glas an den Mund, als mir ein Ellenbogen heftig in die Seite fuhr, und ein Viertel Liter Chardonnay in meinem Schoß landete. Na Bravo!
Zornig drehte ich mich um, weil ich den Übeltäter mit einer kleinen Schmährede bedenken wollte, als mich zwei blaue Augen anstrahlten und eine hübsche, ungefähr gleichaltrige Frau zu mir sagte: „Oh ... entschuldigen Sie bitte ... wie blöd von mir .... tut mir leid ... die Reinigung bezahle ich selbstverständlich...“. Ihr Gesichtsausdruck war wirklich sehr zerknirscht, die Entschuldigung schien mir also ernst gemeint.
„Ach“, sagte ich, „das ist doch nicht tragisch ... war ja nur Weißwein ... kann ja jedem mal passieren...“ Ich grinste generös. Erleichtert grinste sie zurück, und das war der Beginn einer langjährigen Freundschaft.

Wie gesagt, ich hatte mich gerade von meinem Freund getrennt. Sie lebte mit ihrem zwar noch zusammen, dies aber nicht besonders glücklich, weil er ein Faulpelz war. Sie hatte ihn in Spanien aufgegabelt. Während eines Urlaubs. Wie andere Menschen ein paar Muscheln oder eine handgefertigtes Keramikstück als Mitbringsel nach Hause tragen, hatte sie ihren Strandflirt mitgebracht. Na ja, nicht im selben Flugzeug, aber ein paar Monate nach dem Urlaub hatte er seine Habseligkeiten gepackt und war nach München über gesiedelt. Zu Marion, die damals schon gut verdiente. Im Gegensatz zu ihm. Und das war auch der Grund für seinen Umzug – nicht seine tiefen Gefühle für Marion. Aber das stellte sich natürlich erst später heraus.

Der deutschen Sprache nur mäßig mächtig, fand er erwartungsgemäß keinen Job. Das machte aber nichts, schließlich verdiente Marion genug. Und so dümpelte die Beziehung so vor sich hin, und Marion war sehr froh, mir begegnet zu sein. Was ich verstehen kann, denn schließlich ich bin eine Frau mit Durchblick und habe ihr deshalb dringend empfohlen, das kostspielige Mitbringsel wieder in seine Heimat zu schicken. Was sie dann auch machte. Es dauerte natürlich seine Zeit, aber irgendwann war der Spanier wieder da, wo er hin gehörte: in Spanien.

So, nun waren Marion und ich gleichermaßen Single. Manche Singles mögen diesen Zustand zwar schätzen, wir beide taten das aber nicht und begaben uns demzufolge auf gezielte Männersuche. München, mit seinen vielen Bars, Kneipen und Diskotheken, ist dafür ein geeignetes Pflaster, und ungefähr dreimal die Woche „bretzelten“ (süddeutscher Ausdruck für „raus putzen“) wir uns auf und gingen auf die Pirsch.
Wir trafen uns fast täglich, und wenn wir nicht Männerfang waren, kochten wir gemeinsam. Mal bei ihr, mal bei mir. Die Ergebnisse unserer Kochkunst genossen wir dann bei Kerzenschein, erzählten uns Schwänke aus unserer beider Leben und hatten sehr viel Spaß miteinander. Wir beichteten uns Dinge, die sonst keiner von uns wusste, zogen die Verflossenen durch den Kakao und kicherten wie die Teenager. Ja, innerhalb weniger Monate waren wir dicke Freundinnen geworden.

Die vermeintlichen Traummänner gabelten wir dann nicht während einem unserer Züge durch die Gemeinde auf, sondern entdeckten sie an anderen Orten. Marion verliebte sich in einen Kollegen und ich in den Geschäftsfreund eines Kunden.

Marions Traummann war verheiratet und meiner wohnte sehr weit weg. Beide Umstände hielten uns aber nicht davon ab, fest davon überzeugt zu sein, den Idealpartner gefunden zu haben. Denn selbstverständlich trug sich Marions Lover mit Scheidungs- und meiner mit Umzugsplänen.

Zwar waren wir jetzt nicht mehr auf Männersuche, doch so ganz rund war das Glück halt doch nicht, denn Marions Lover hatte die meiste Zeit keine Zeit, weil er sich um seine Familie kümmern musste, und meiner lebte 500 Kilometer entfernt – im Grunde waren wir also immer noch Singles, allerdings hatten wir jetzt andere Gesprächsinhalte: wir jammerten über unser Schicksal – auch so etwas schweißt zusammen.
Marions Lover ließ sich natürlich nicht scheiden, und meiner zog natürlich nicht um. Ich natürlich auch nicht, bin schließlich nicht doof.

Doch irgendwann schlich sich etwas in unsere Freundschaft ein, das anfangs kaum zu bemerken war: wir hatten uns immer weniger zu sagen. Oder besser ausgedrückt: unsere Interessen begannen sich zu verschieben. Marion entdeckte als ultimative Freizeitbeschäftigung den Sport. Kraxelte an den Wochenenden auf die Berge oder unternahm mit ihrem Rennrad ausgiebige Touren. Ich finde Bergwanderungen ja ganz nett, bin aber nicht der Typ dafür, eine Leidenschaft daraus zu entwickeln. Genauso verhält es sich mit dem Radfahren. Außerdem spiel(t)e ich lieber Tennis. Unsere Freizeit verbrachten wir also zunehmend getrennt. Was ja nicht tragisch war.

Dann lernte ich bei einem Tennisurlaub Astrid kennen. Sie lebte auch in München, und es war „Liebe auf den ersten Blick“. Sie war zwar ein völlig anderer Typ als ich, und wir hatten gar nicht viele Gemeinsamkeiten, aber trotzdem waren die Gespräche mit Astrid lebendig und erquickend. Nach dem Tennistraining fläzten wir uns in die Liegestühle und philosophierten über Gott und die Welt. Das war ganz neu für mich: mit einer Frau über etwas anderes zu reden als über Männer und Kochrezepte. Und das hat mir unheimlich viel Spaß gemacht. Wir redeten uns zwar manchmal die Köpfe heiß und keine gab so schnell ihren Standpunkt auf, aber letztendlich fanden wir immer ein zufrieden stellendes Ergebnis.

Und irgendwann mir auf, dass mir immer spontan irgendwelche Ausreden einfielen, wenn Marion mich sehen wollte. Ich verspürte immer weniger Lust, mich mit ihr zu treffen. Auf die Verabredungen mit Astrid hingegen freute ich mich immer riesig und konnte kaum erwarten, bis es endlich soweit war.

Und dann fiel mir noch was auf, denn hin und wieder traf ich mich natürlich auch mit Marion. Schließlich konnte ich nicht dauernd irgendwelche Ausreden vortäuschen. Also, mir fiel auf, dass die Abende mit Marion sich hinzogen wie Kaugummi, die Abende mit Astrid hingegen wie im Flug vergingen. Saß ich mit Marion im Lokal, schaute ich heimlich immer wieder auf die Uhr, deren Zeiger sich nur widerwillig fortzubewegen schienen. Saß ich mit Astrid im Lokal, standen die Kellner irgendwann mit verschränkten Armen und vorwurfsvollem Blick in der Gegend herum und gaben unmissverständlich zum Ausdruck, dass sie jetzt schließen wollten, weil es bereits mal wieder weit nach Mitternacht war. Ich habe mir den Kopf zerbrochen, worin der Unterschied liegen könnte. Denn die Dinge, über die ich mit Astrid sprach, waren grundsätzlich auch nicht wesentlich anders als die mit Marion. Wir sprachen über Beziehung, Beruf, Sport und alles mögliche andere. Alles nichts Weltbewegendes. Ich grübelte lange. Sehr lange. Bis mir der Unterschied wirklich klar wurde, hat es Jahre gedauert. Jahre, in denen ich die jeweiligen Treffen hinterher immer Revue passieren ließ.

Doch eines Tages fiel der Groschen. Marion plapperte in alter Frische vor sich hin. Gab Allgemeinplätze über dies und jenes von sich. Aber sie dachte nicht nach. Und sie stellte keine Fragen. Sie plapperte und plapperte, lachte viel und war guter Dinge. Aber sie gab nichts von sich, das mich zum Nachdenken veranlasst hätte. Im Gegenteil, ich langweilte mich. Außerdem kannte ich mit der Zeit schon all ihre Berichte über missgünstige Kolleginnen und den schikanösen Chef und auch die ausgiebigen Schilderungen ihrer Bergwanderungen und Radtouren waren mir mittlerweile vertraut.

Astrid hingegen nahm die Welt mit anderen Augen wahr. Und darüber sprachen wir. Und: Astrid stellte Fragen. Sie stellte sich Fragen und suchte nach Antworten, und sie stellte mir Fragen und hoffte auf Antworten. Natürlich hatten wir immer wieder mal unterschiedliche Standpunkte, aber genau das machte die Sache ja so interessant. Und nach jedem Treffen waren wir wieder ein bisschen „schlauer“ als vorher. Natürlich haben Astrid und ich auch viel gelacht. Denn Blödeln gehört auch dazu und ist Entspannung für die Seele. Aber es gibt tatsächlich auch Qualitätsunterschiede im Blödeln. Ich möchte damit keine Wertung über Marion abgeben. Ich mochte sie, aber wir entwickelten uns einfach immer weiter auseinander. Kontinuierlich und unaufhaltsam. Als ich dann mal meinen Mut zusammen nahm und mit Marion darüber sprechen wollte, hat sie mich erst verständnislos angeguckt und dann gemeint, ich rede Quatsch. Und irgendwann war die Zeit für den Abschied gekommen. Unausgesprochen und für immer. Ich bedauere das. Aber ich muss auch akzeptieren, dass es Freundschaften gibt, die endlich sind.

Gott sei Dank gibt es aber auch welche, die einen durchs Leben tragen. Die Häufigkeit der Treffen oder Telefonate spielt dabei keine Rolle. Die Verbundenheit der Herzen ist es, die Freundschaft ausmacht. Und solche Gespräche erfüllen einen mit Glück - weil die Herzen miteinander sprechen. Das mag jetzt ein wenig kitschig klingen, ist aber so.
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Geschichte aus meinem Buch: "Mit einem Lächeln durchs Leben"
http://www.renateblaes.de/blog/vom-blog-zum-blook/

Bürgerreporter:in:

Renate Blaes aus Schondorf am Ammersee

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