Nächtliche Taxifahrt

Hier eine Geschichte, die mich sehr berührt hat. Gesehen in der Senioren-Zeitung Meppen
12/2013 Nachterlebnis eines Taxifahrers

Der Taxifahrer wurde zu einer Adresse hin bestellt und wie gewöhnlich hupte er, als er ankam. Doch kein Fahrgast erschien. Er hupte erneut. Nichts. Es wäre leicht gewesen, einfach wieder weg zu fahren, doch er entschied sich dagegen, parkte den Wagen und ging zur Haustür. Kaum hatte er geklopft, hörte eine alte gebrechliche Stimme sagen: „Bitte, einen Augenblick noch!“

Durch die Tür hörte er, dass offensichtlich etwas über den Hausboden geschleift wurde. Es verging eine Weile, bis sich endlich die Tür öffnete. Vor ihm stand eine kleine alte Dame, bestimmt 90 Jahre alt. Sie trug ein mit Blümchen bedrucktes Kleid und einen dieser Pillbox-Hüte mit Schleier, die man früher immer getragen hat.

Ihre ganze Erscheinung sah so aus, als wäre sie aus einem Film der 40 Jahre entsprungen.
In ihrer Hand hielt sie einen kleinen Nylonkoffer. Da die Tür jetzt offen war, konnte er nun auch in die Wohnung sehen. Sie sah aus, als hätte hier über Jahre niemand mehr gelebt. Alle Möbel waren mit Tüchern abgedeckt. Die Wände waren völlig leerkeine Bilder oder Uhren hingen dort. Die
Wohnung war leer, kein Nippes, kein Geschirr auf der Spüle, nur hinten in der Ecke etwas. Ein Karton, der wohl mit Fotos oder irgendwelchen Glasskulpturen bepackt war.

„Bitte, junger Mann, helfen Sie mir bitte, tragen Sie meinen Koffer zum Wagen?“ sagte sie. Er nahm den Koffer und ging zum Auto und legte ihn in den Kofferraum. Dann ging er zurück zur alten Dame, um ihr beim Gang zum Auto ein wenig zu helfen. Sie nahm seinen Arm, und sie gingen gemeinsam in Richtung Bürgersteig und weiter zum Auto. Sie bedankte sich für seine Hilfsbereitschaft. „Es ist nicht der Rede wert“, antwortete er ihr, „ich behandele meine Fahrgäste genauso, wie ich meine
Mutter behandeln würde!“ „Oh, Sie sind wirklich ein vorbildlicher junger Mann“, antwortete sie.

Als die Dame in seinem Taxi Platz genommen hatte, gab sie ihm die Zieladresse, gefolgt von einer Frage, ob sie denn nicht durch die Innenstadt fahren könnten. „Nun, das ist aber nicht der kürzeste Weg, eigentlich sogar ein erheblicher Umweg“, gab er zu bedenken. „Oh, ich habe nichts dagegen“,
sagte sie, „ich bin nicht in Eile, ich bin auf dem Weg in ein Hospiz.“ „Ein Hospiz?“ schoss es ihm durch den Kopf, dort werden doch sterbenskranke Menschen versorgt und beim Sterben begleitet. Er schaute in den Rückspiegel, schaute sich die alte Dame noch einmal an.

„Ich hinterlasse keine Familie“, fuhr sie mit sanfter Stimme fort. „Der Arzt sagt, ich hätte nicht mehr lange.“ „Welchen Weg soll ich nehmen?“ fragte er. Für die nächsten zwei Stunden fuhr er mit der alten Dame einfach durch die Stadt. Sie zeigte ihm das Hotel, in dem sie einst an der Rezeption gearbeitet hatte. Sie fuhren zu den unterschiedlichsten Plätzen. Sie zeigte ihm das Haus, in dem sie
und ihr verstorbener Mann gelebt hatten, als sie noch „ein junges wildes Paar“ waren. Sie zeigte ihm ein modernes, neues Möbelhaus, welches früher „ein angesagter Schuppen“ zum Tanzen war. Als junges Mädchen habe sie dort oft das Tanzbein geschwungen. An manchen Gebäuden und in einigen Straßen bat sie ihn besonders langsam zu fahren. Sie sagte dann nichts. Schaute dann einfach
nur aus dem Fenster und schien mit ihren Gedanken noch einmal auf eine Reise zu gehen.
Hinter dem Horizont kamen die ersten Sonnenstrahlen herauf. „Sind wir wirklich 2 Stunden gefahren“, fragte er sich? „Ich bin müde“, sagte die alte Dame plötzlich. „Jetzt können wir zu meinem Ziel fahren.“
Schweigend fuhren sie zu der Adresse, die sie ihm vor der Fahrt gegeben hatte. Das Hospiz hatte er sich viel größer vorgestellt.
Mit seiner winzigen Einfahrt wirkte es wie ein kleines freundliches Ferienhaus.
Jedoch stürmte kein verkaufswütiger Makler aus dem Gebäude, sondern zwei eilende Sanitäter,
die, er hatte kaum den Wagen angehalten, die Fahrgasttür öffneten. Sie schienen sehr besorgt, sie mussten wohl schon lange auf die Dame gewartet haben. Und während die alte Dame in einem Rollstuhl Platz nahm, trug er ihren Koffer zum Eingang des Hospizes.

„Wie viel bekommen Sie von mir für die Fahrt?“ fragte sie, während sie in ihrer Handtasche kramte. „Nichts“, sagte er „Sie müssen doch ihren Lebensunterhalt verdienen“, antwortete sie. „Es gibt noch andere Fahrgäste“, erwiderte er mit einem Lächeln.
Und ohne lange darüber nachzudenken, umarmte er sie. Sie hielt ihn ganz fest an sich gedrückt. „Sie haben einer alten Frau auf ihren letzten Metern noch ein klein wenig Freude geschenkt. Danke“, sagte sie mit glasigen Augen zu ihm. Er drückte ihre Hand und ging dem trüben Sonnenaufgang entgegen.
Hinter ihm schloss die Tür des Hospizes, es klang für ihn wie der Abschluss eines Lebens.

Seine nächste Schicht hätte jetzt beginnen sollen, doch er nahm keine neuen Fahrgäste an. Er fuhr einfach ziellos durch die Straßen, völlig versunken in seinen Gedanken.
Er wollte weder sprechen noch irgendjemanden sehen.

Was wäre gewesen, wenn diese Frau an einen unfreundlichen und mies gelaunten Taxifahrer geraten
wäre, der nur schnell seine Fahrt hätte beenden wollen.
Was wäre, wenn er nach dem ersten Hupen einfach wieder weggefahren wäre. Wenn er an diese
Fahrt zurückdachte, glaubte er, dass er noch niemals etwas Wichtigeres in seinem Leben getan habe.

In unserem hektischen Leben legen wir besonders viel Wert auf die großen bombastischen
Momente. Größer, schneller, weiter. Dabei sind es doch die kleinen Momente, die
kleinen Gesten, die im Leben wirklich etwas zählen. Für diese kleinen und schönen Momente
sollten wir uns wieder Zeit nehmen.

Wir sollten wieder Geduld haben – und nicht sofort hupen – dann sehen wir sie auch, die
schönen Momente.

Bürgerreporter:in:

Heyo Strenge aus Papenburg

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