Lyras Klage, Leseprobe aus "Anton"

Es ist schon sehr, sehr lange her, da verliebte sich einer von den Unsrigen in die Tochter eines Kaufmannes, und er blieb bei ihr. Sie liebte sein Geigenspiel, und obwohl ihr Vater dagegen war, heirateten die beiden. Sie wurden nicht glücklich. Er konnte nicht bei ihr bleiben. Denn immer, wenn sein fahrendes Volk in der Nähe war, ging er ein gutes Stück Weges mit ihnen, kehrte aber nach geraumer Zeit immer wieder zu seiner Liebsten zurück. Die Unruhe bestimmte sein Leben. Sein Geld verdiente er mit der Geige. Fröhliche Lieder spielte er auf Hochzeiten und Dorffesten, traurige bei Beerdigungen. Aber wenn die Trauergäste anschließend in der Dorfkneipe dem Toten die letzte Ehre bei einem Umtrunk erwiesen, stritten die Männer, warum die Frauen am Grabe so herzzerreißend haben weinen müssen. Die Einen sagten: Sie flennten um den Toten. Die Anderen, es lag an der Zigeunermusik, und mache behaupteten sogar, sie hätten Tränen aus der Geige tropfen sehen.
Sicher ist das Alles übertrieben. Aber wenn die Sonne unterging, saß er oft oben am Waldesrand und spielte bis tief in die Nacht. Und immer waren es traurige Lieder.
Er hatte Heimweh. Nicht nach einem Dorf oder einer Stadt, er hatte Sehnsucht nach dem freien ungebundenen Leben. Denn sie lebten ständig in der freien Natur - bei Tag und bei Nacht, im Sommer wie im Winter.“
Lyra kommt ins Grübeln. Was sie eben hörte, war ihr fremd. Heimweh verband sie seither immer mit einem festen Platz. Wie kann man Heimweh haben nach dem Zigeunerleben? Eine aufschlussreiche Erkenntnis macht sich breit: Es ist die Ordnung, der Rhythmus. Alles Leben besteht aus Ordnung und Rhythmus.

Bürgerreporter:in:

Waltraud Meckel aus Offenbach

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