Zeitmesser für's Leben..

„Morgen ist’ noch früh genug zu spät“                           Erlebnisse, Begebenheiten, Grotesken,
Phantasien Märchen & Geschichten
Gryphon-Verlag - Verlagsalianz  München   2011  ISBN 978-3-938109-26-7  - Einzeltitel  - 185 Seiten
  • „Morgen ist’ noch früh genug zu spät“ Erlebnisse, Begebenheiten, Grotesken,
    Phantasien Märchen & Geschichten
    Gryphon-Verlag - Verlagsalianz München 2011 ISBN 978-3-938109-26-7 - Einzeltitel - 185 Seiten
  • hochgeladen von Wolfgang Kreiner

„Hallo... bin ich denn jetzt richtig verbunden mit dem Uhrengroßversand Zeiger & Söhne?“

„Ja, hier Zeiger & Söhne, Frau Unruh am Apparat, einen schönen guten Tag, was kann ich für Sie tun?“

„Guten Tag Frau Unruh, vielleicht können sie mir ja endlich weiterhelfen. In Ihrem neuen Versandkatalog schreiben Sie, dass Sie Uhren jeder Art führen. Nun..., wie soll ich sagen..., ich bin auf der Suche nach einer Lebensuhr.“

„Eine was?“

„Ja, bitte, eine Lebensuhr.“
„Wie bitte…, eine Lebensuhr? Meines Wissens haben wir so etwas nicht im Programm.“

„Was, Sie haben keine Lebensuhren? Das ist aber komisch. Sie sind doch ein Uhrengroßversand. Wieso führen Sie dann keine Lebensuhren?“

„Ich weiß gar nicht, was Sie genau damit meinen – eine Lebensuhr? Was stellen Sie sich darunter eigentlich vor?“

„Ja, ist denn das so schwer zu verstehen? Eine Lebensuhr ist ganz einfach eine Uhr, ein Zeitmesser, der anzeigt, wie lange mein Leben noch dauern wird. Das kann doch nicht so schwer sein. Ein jeder will doch wissen, wie spät es ist, sozusa¬gen was die Stunde geschlagen hat und wie viel einem von der eigenen Zeit überhaupt noch bleibt.“

„Eine Lebensuhr? Also, ich muss schon sagen... So etwas wurde noch nie verlangt, solange ich hier bin. Beim besten Willen kann ich mich nicht erinnern, davon schon mal etwas gesehen oder gehört zu haben. Von keinem einzigen unserer Uhrenhersteller ist uns jemals so etwas angeboten worden.“

„Aber für einen Menschen ist doch eine Lebensuhr das Wichtigste!
Und, wie sieht es dann mit inneren Uhren aus, haben sie die wenigstens?“

„Was soll das nun wieder sein, eine innere Uhr?“

„Nun ja, für die Zeit eben, die in einem vergeht.“

„Also, derartiges wurde noch nie von einem unserer Kunden verlangt. Wie gesagt, Sie sind der erste, der danach fragt.“

„Aber, wenn jemand nicht wissen will, wie es um die Lebenszeit steht, weshalb sollte er sich dann überhaupt eine Uhr anschaffen?“
„Hören Sie, wir führen jede Art von Uhren, wie Wanduhren, Kuckucksuhren, Standuhren, Schiffsuhren, Taucheruhren, Armband- und Taschenuhren, digital und analog und alle zeigen die ganz normale Zeit an. Außer... Sonnenuhren! Sonnenuhren führen wir selbstverständlich auch nicht. Ebenso Sand-, Eier-, Schalt- Spiel- und Kirchturmuhren, die haben wir selbstverständlich ebenso nicht im Programm.“

„Sehen Sie! Von wegen Uhren jeder Art.“

„Ich sagte Ihnen doch bereits, wir führen nur ganz normale Uhren.“
„Ich weiß, ich weiß, die so genannte allgemeine Zeit. Aber was interessiert mich die allgemeine Zeit! Gerade deshalb frage ich Sie ja nach einer Uhr, die vielmehr die individuelle Zeit anzeigt. Die Zeit nur für mich ganz alleine, meine ganz eigene Zeit, verstehen Sie, was ich meine.“
„Aber so lassen Sie sich doch erklären; Uhren haben schon von jeher nur die normale, die allgemeine Zeit angezeigt. Bei uns hier die Mitteleuropäische sozusagen, im Sommer die Sommerzeit und im Winter die Winterzeit, je nachdem wie die Uhr eingestellt wird.“

„Sehen Sie, genau das ist es, daher kommt nämlich das ganze Durcheinander. Jeder lebt nur im Zeitkorsett der allgemeinen Zeit.
Und warum kommt einer zu spät? Ich sage es ihnen; weil er nämlich unbewusst trotz allem nach seiner eigenen Zeit lebt. Auch der Busfahrer und der Zugführer. Und deshalb geraten die Fahrpläne auch durcheinander, deshalb reicht am Ende des Monats das Geld nicht und genau deshalb haben ältere Männer jüngere Freundinnen.
Jeder handelt unbewusst nach seiner eigenen Uhr, weil die biologische Uhr in jedem Menschen ganz unterschiedlich tickt. Daher eben auch das ständige Aneinandervorbeilaufen und all die Hetze im Alltag, der ganze Stress.
Die verschiedenen Länder haben doch auch ihre individuelle Zeit, wieso also nicht der einzelne Mensch?
Würde ich eine Dame schon bei der Verabredung zu einem Rendezvous fragen können, wie spät es auf ihrer inneren Uhr gerade ist, würde ich mir genau ausrechnen können, wann sie nach meiner inneren Uhr dann tatsächlich dort einträfe und nicht vierzig Minuten lang dumm mit den Blumen herumstehen und meine eigene Zeit verplempern müssen.
Auch wüsste ich jedes Mal sofort, ob es sich noch lohnen würde, zu heiraten, auf etwas zu sparen oder mit dem Lesen eines längeren Romans zu beginnen.
Führen Sie denn dann wenigstens biologische Uhren?“

„Nein, Herrgott noch mal! Wir führen weder Lebens- noch innere- noch biologische Uhren! Außerdem glaube ich langsam, dass Sie nicht richtig ticken und mir hier am Telefon nur meine wertvolle Zeit stehlen wollen!“

„Sehen Sie! Sehen Sie! Jetzt haben Sie es selbst zugegeben, dass auch Sie selbst über eine individuelle Zeit verfügen. Über eine wertvolle sogar! Warum also soll man das, was einem wertvoll ist, nicht messen können? Aus welchem Grund also verweigern Sie mir nun schon die ganze Zeit so vehement einen Zeitmesser für meine eigene Zeit?“

„Mit Ihnen, mein Herr, werde ich noch wahnsinnig hier am Telefon!“

„Und das, liebe Frau Unruh, nur weil ich nicht in Ihrem Zeittakt leben will, nur weil ich Ihre Ruhe oder Unruhe nicht akzeptieren will, nur deshalb wollen sie mir meine Lebensuhr nicht verkaufen, sondern nur eine von denen, die Sie da haben und für normal halten.
Sehen Sie, werte Frau Unruh, Sie werden doch nur wahnsinnig bei dem Gedanken, dass vielleicht ich normal bin, weil ich nach meiner eigenen Lebensuhr leben will und nicht nach der Ihren. Denn ich könnte ja viel¬leicht sogar Recht haben, nicht wahr?
Ich könnte ja im Gegensatz zu Ihnen auf der Höhe der Zeit sein und Sie sind es, die völlig falsch tickt und nachgeht. Und das ist es wahrscheinlich auch, was Ihnen im Moment zu schaffen macht.
Sie, liebe Frau Unruh, gehören wahrscheinlich auch zu den Leuten, die denken, dass es morgen auch noch früh genug zu spät ist!
Sagen Sie mir doch bitte, welche Uhrzeit haben wir denn jetzt?“

„Jetzt...? Jetzt ist es viertel nach zehn.“

„Sehen Sie..., da haben wir’s ja. Genau darauf habe ich nur gewartet.
Von wegen es ist viertel nach Zehn!
Für Sie vielleicht!

In Wirklichkeit ist es aber vielleicht schon fünf vor Zwölf!“

Bürgerreporter:in:

Wolfgang Kreiner aus München

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