Wandlungen...

Gemeinsam wollten sie durchs Leben gehen.
Zumindest hatten sie sich das ganz fest versprochen. Besonders sie wollte ihm immer die treue Frau sein, ein unwandelbares Bild, welches er immer wieder finden konnte, auch wenn seine Wege einmal irrten.

Sie gingen über sonnige Wiesen, deren Blumen und Gräser leise von der Liebe erzählten.
Im Geäst am Bachrand zärtliche Vogelstimmen, welche die Umarmungen begleiteten. Und die Blumen, die Vögel und der Wind flüsterten ihnen zu, wie sehr sie sich über ihr Glück freuen konnten.

Dann kam eine Zeit, in der er alleine davon ging.
Sie wartete geduldig.
Dann brachte er Blumen oder ein Geschenk für sie mit nachhause.
Eines Tages kam er auf seinem Ausflug durch den Park, es war warm, die Büsche und Blumen dufteten. Aber er hörte nicht mehr die Blumen, die Vögel und den Wind, sondern nur noch das Sprudeln des Brunnens: "Du bist ein Geißbock, du bist ein Geißbock."

Sie wunderte sich schon, als er springend und meckernd nachhause zurückkehrte.
Aber sie gewöhnte sich daran, seine Sprünge lustig zu finden und seine Stöße zu ertragen. Manchmal sprang sie sogar mit ihm um die Wette, ohne jedoch das Bild von ihrem Selbst in Frage zu stellen.

Der Geißbock sprang hinaus, sprang über Bäche, zupfte Gräser und ließ sich auf neckische Spiele mit anderen Geißlein ein. Er brachte Kräuter und Gräser mit nachhause und sie bereitete ihm davon Salate.

Eines anderen Tages kam er hungrig auf eine Wiese mit saftigen Kräutern.
Aber er hörte nicht die Blumen, die Vögel und den Wind, sondern nur noch das Plätschern des Baches: "Du bist ein Tiger, du bist ein Tiger."

Sie bekam einen großen Schrecken, als er nachhause zurückkehrte. Aber mit einem so starken Tiger im Haus brauchte man wenigstens keine Angst mehr zu haben, dachte sie. Manches Mal versuchte sie sogar mit ihm zu fauchen und zu knurren, wenn auch ihr Knurren kaum hörbar war.
Jetzt brachte er junge Rehe, Fasane und Karnickel mit, und sie briet und grillte ihm die saftigsten Braten.
Fortan trieb der Tiger sich in einem Tal herum, durch das er täglich hungrig pirschte.
Schafe weideten dort.

Längst hörte er nicht mehr die Blumen, die Vögel und den Wind, sondern nur noch das Rauschen des Flusses: "Du bist ein Wolf, du bist ein Wolf."
Da sprang er, biss zu und berauschte sich am Blut.
Jedoch sie heulte nicht mit ihm, und sie briet ihm auch die Lämmer nicht mehr, die er ständig anschleppte.

Da ging sie selbst hinaus.
Die Beeren und Früchte, die sie fand, schmeckten süß und verführerisch.
Auch sie hörte die Blumen, die Vögel und den Wind nicht mehr wie früher, vernahm aber dafür das Gurgeln der Quelle: "Du bist eine Schlange, du bist eine Schlange."

Von nun an hatten sie als Wolf und Schlange nicht mehr viel gemeinsam. Jeder holte seine Beute für sich alleine und bereitete sein eigenes Mahl. Und jeder suchte sich sein eigenes Lager, so, wie es ihm bequem war.
Beide waren sie fortan verachtet als der böse Wolf und die falsche Schlange.
Sie hatten zwar ihre Erinnerungen an Umarmungen auf sonnengefluteten Wiesen, die von Vogelstimmen begleitet waren, an Blumen und Gräser, die leise von der Liebe erzählten.
Jedoch ein Wolf und eine Schlange umarmen sich nur schwer. Sie gehen sich lieber aus dem Weg, denn sie würden sich nur töten.

Es könnte aber auch sein, dass sie sich auf den Weg gemacht haben, sich erneut zu begegnen, aber vermutlich hören sie nicht mehr, was ihnen die Blumen, die Vögel und der Wind von Anbeginn zuflüstern.

Bürgerreporter:in:

Wolfgang Kreiner aus München

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