Die Illussion

"Sehr geehrter Herr Neumeier,

bitte verzeihen Sie die erneute Unannehmlichkeit, die ich Ihnen mit meinem heutigen Brief zweifellos bereite. Entschuldigen Sie bitte, dass ich dennoch erneut einige Bemerkungen äußere.
Seit langer Zeit bringen einige Tageszeitungen in ihren Wochenendausgaben die lockenden Inserate für Ihre Partnervermittlung, in denen Sie jeweils die bravourösen Erfolge Ihres Instituts hervorheben.
Die strahlenden, sonnendurchfluteten, in ihren Aussagen sehnsuchtauslösenden Bilder ihrer Hochglanzbroschüre, in den verschiedenen Jahreszeiten des Lebens aufgenommen, breiten sich nun an diesem grauen, regenverhangenen Novembertag vor mir aus.
Während unserer unzähligen Telefonate betonten Sie immer wieder, dass eine gigantische Schar charmanter Damen jeder Altersgruppe aus der gehobenen Gesellschaft Ihrem Institut vertrauen. Sie alle würden ernsthaft einen Partner oder Ehemann suchen.
Zunächst war ich skeptisch und dachte, dass doch bestimmt mehr Männer als Frauen...
Aber diese Bedenken wurden von Ihnen sofort ausgeräumt, indem Sie mir versicherten, in Ihrer Kartei befänden sich wesentlich mehr Frauen, als Männer und viele der Frauen würden hervorragend zu mir passen. Es sei sozusagen Ihre Spezialität.
Un¬zählige Frauen würden sich nach meiner Aufnahme in Ihre Kartei bei mir melden, die ich dann auch unverzüglich persönlich kennen lernen könne.
Minutiös ausgefüllt schickte ich bereits am 23. Oktober letzten Jahres den Fragebogen zurück, bezahlte die ver¬einbarte Gebühr von 8.000, - Euro, erhielt aber bis zum heutigen Tage keinerlei brauchbare Antwort Ihrerseits. Völlig verblüfft muss ich feststellen, dass Sie es während dieser gesamten Zeit für absolut entbehrlich erachteten, mir mitzuteilen, was nun weiter geschehen soll.
Ich tappe im Dunkeln, und Sie glänzen durch beharrliches Schweigen.
Als ich Sie Anfang dieses Jahres anrief, um mich höflichst zu erkundigen, wann Sie möglicherweise gedenken, eventuell einmal von sich hören zu lassen, versprachen Sie, mir in der darauf folgenden Woche ausführlich zu schreiben.
Vierzehn Tage später erlaubte ich mir nochmals bei Ihnen anzurufen, um Ihnen mitzuteilen, dass noch immer keine Zeile von Ihnen bei mir eingegangen sei.
Im März dann, als alles spross und sprießte, und ich auch in mir erneut die Sehnsucht nach einer Frau verspürte, belästigte ich Sie erneut, um mir zu gestatten, mürrisch zu monieren, dass Ihr seltsames Verhalten mich mächtig befremde.
Sie versprachen mir erneut, noch in der gleichen Woche ausführlich zu schreiben.
Frauenlos und frustrationsreich ging das Frühjahr indes an mir vorüber und bei einem weiteren Anruf, den ich mir gestattete, konfrontierten Sie mich mit dem spontanen und genialen Einfall Ihrerseits, ich müsse nun eben selbst auch alle Anstrengungen unternehmen, eine geeignete Partnerin zu finden, weil die Vermittlung durch Ihr Institut nur als eine weitere Alternative zu allen anderen Möglichkeiten gesehen werden könne. Ich solle doch weiterhin unermüdlich auf Bekanntschaftsanzeigen Antworten.
Niemals wäre ich selbst auf eine derartige Idee gekommen und habe Ihnen für diesen Tipp sehr zu danken.
Ich nehme an, dass sich möglicherweise keine weiteren Frauen auf Ihre Annoncen gemeldet haben und Ihnen vielleicht deshalb die Frauen in Ihrer Kartei ausgegangen seien.
Ich entschuldige Ihnen daher, dass Sie sich geirrt haben und bitte verzeihen Sie auch mir, dass ich mich von Ihnen damals beeinflussen ließ, mich in Ihrer Kartei aufnehmen zu lassen.
Zweifellos ist meine Neigung zur Illusion und Leichtgläubigkeit kein Fehler Ihrerseits.

Mir freundlichen Grüßen

Bürgerreporter:in:

Wolfgang Kreiner aus München

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