WARUM DIE BEATLES NICHT NACH MARBURG KAMEN

THE CARIBBEAN LORDS IN DEN STADTSÄLEN MARBURG 1960

Kürzlich sah ich im TV einen halbdokumentarischen Spielfilm vom Marburger Regisseur Michael Wulfes über meinen früheren Freund, Gesangskumpel und Inspirator Ferdinand Kilian. Ich war zunächst enttäuscht, dann zornig und schließlich nachsichtig mit diesem Machwerk.

Die Glaubwürdigkeit liegt bei solchen Unterfangen immer in einer sorgfältigen Recherche. Doch je weiter ein Ereignis zurück liegt, desto schwieriger wird jegliche Nachforschung. Trifft man dann in Interviews auf Zeitgenossen, die glauben, etwas zu wissen und dann aus zweifelhaften Motiven Halbwahrheiten oder Falsches von sich geben, kann man das nur mit anderen nicht fundierten Aussagen anderer Interviewpartner vergleichen und Resümee ziehen. Michael Wulfes hat sich sicherlich über lange Zeit intensiv bemüht, Ferdies Spuren in MR zu verfolgen und daraus Schlüsse zu ziehen. Doch leider wird das Ergebnis unserem „Lord Ferdie“ (sein Künstlername bei den King Singers) nicht gerecht. Er hat ganz gewiss ein anderes Requiem verdient:

Ende der 50er Jahre gab es den Marburger Tanzkreis (hier MTK) – lange vor Club E.
Dort traf sich die Marburger Jugend im Saalbau "Straßburger Hof", in den alten Stadtsälen oder im Berggarten Marbach zum Tanz. Rock’n’Roll war angesagt. Die amerikanische Besetzung, AFN Frankfurt und Radio Luxemburg (abends unter der Bettdecke auf Kurzwelle) hinterließen ihre Spuren bei uns Jugendlichen. Denn der deutsche Schlagermief hing überall in den provinziellen „Gelsenkirchener Barock“-Wohnungen unserer Eltern.

Leider gab es damals keine Bands in Marburg, die Rock’n’Roll spielen konnten, und Schallplatten mit amerikanischen Songs hatte damals kaum ein Händler in seinem spießigen Marburger Sortiment. Also tanzten wir zur Musik von so genannten „Dixieland-Bands“. Das waren „Jazzer“ aus dem Marburger Raum, die den alten New Orleans Jazz aufgriffen und europäisch mehr oder weniger einfühlsam interpretierten. Diese Bands mit Weibezahn (Ketzerbach) oder Vaupel (Am Grün) waren unsere „Tanzunterlagen“. Die wenigen Single Schallplatten, die sich einige von uns per Fahrrad von den Amis in Giessen (PX) besorgten, wurden mit einem alten Grundig Tonbandgerät TK 15 (mit dem magischen grünen Auge) immer und immer wieder kopiert und auf privaten Parties bei schummrigem UV-Licht, in dem die Nyltest Hemden so schön glänzten, eingesetzt.

Außer den „Dixie-Bands“ hatten wir auch noch andere Programmpunkte im Marburger Tanzkreis. Es gab immer wieder schüchterne Versuche von Gleichaltrigen, mit einer billigen Wandergitarre (von den Eltern) Rock’n’Roll oder andere Songs aus aller Welt zu interpretieren. Da gab es den Jürgen Stawenow (Vino) „der Elvis von Marburg“, die King Singers (int. Folklore), Jürgen Bruder im Duo mit einem Freund (amerk. Pop) u.a.

Ferdinand Kilian war der große Organisator des MTK. Er holte sogar die Dutch Swing College Band, die Feetwarmers (Klaus Doldinger), Papa Bue’s Viking Jazz Band, Champion Jack Dupree und andere zu unseren Veranstaltungen in die Stadtsäle. Dort lernte ich Ferdie kennen, und schon bald gründeten wir das Gesangsduo "Caribbean Lords" – auf den Spuren von Harry Belafonte.
Ferdie spielte Clavietta und ich Gitarre (akustisch). Doch unsere Stimmen und musikalischen Fähigkeiten waren sehr begrenzt, so dass wir über eine Privatanzeige in der OP andere Gleichaltrige suchten, die Lust hatten, mit uns die „King Singers“ zu begründen. Zu dieser Gruppe stieß dann auch Ingrid (nicht Inge) Grametbauer („Sugar“), die später Ferdies Ehefrau wurde.

Zu den Übungsstunden in meinem Elternhaus am Pilgrimstein erschien Ferdie stets "gestylt" mit schwerem Bierzipfel (Gesellschaftsverein Concordia) am Gürtel, seinen Bongos, einem Silberkettchen am Handgelenk, einem dicken Siegelring am Finger und einem schwarzen Dokumentenköfferchen. Darin befand sich eine Clavietta, eine silberne Zigarettendose, gefüllt mit Peter Stuyvesant (er nannte sie "Peter Stoßmichsanft"), eine kurze Zigarettenspitze (er rauchte nur mit Spitze), Kondome und ein Benzinfeuerzeug. Manchmal auch noch „Rumba-Rasseln“(Maracas). Den Ford legte er sich erst viel später zu. Ferdie war ein Macho (kein Homo) Er war stets sehr kreativ und ungewöhnlich phantasievoll. Sehr geschickt und manipulativ im Umgang mit uns jugendlichen Heißspornen.

Ferdie avancierte zum Vorstand des MTK, denn sein Organisationstalent, sein Überblick und seine Begeisterung für Musik waren begehrt und willkommen. Alles was er organisierte, hatte Hand und Fuß, und hunderte von Jugendlichen zollten ihm Applaus. Doch die Musikbranche war schon damals sehr schnelllebig. Dem Rock’n’Roll folgte der Twist mit seinen vielen Modetänzen (Madison, Hully Gully, Surf, Slop, Monkey, Jerk usw.). Und 1962 kam der Beat (britischer R’n’R) aus England. Einige der Jungs des MTK konnten sich E-Gitarren (elektrisch verstärkt) leisten und ihren neuen Idolen aus England nacheifern. Überall in Deutschland schossen so genannte „Beat-Bands“ aus dem Boden. Dies war nicht mehr die R’n’R Generation, zu der wir gehörten, denn 3 oder 4 Jahre Altersunterschied machten (so wie heute auch) musikalische Welten aus.

Diese Beatfans gründeten den Club E (nicht Störmer) und der jetzt antiquierte MTK blutete nach und nach völlig aus. Die Älteren waren stark beruflich eingespannt oder schon verheiratet (so wie Ferdie) und die Jüngeren flohen in den Club E.

Doch Ferdie gab nie schnell auf und überlegte, wie er die Jugend wieder aus dem Club E in den MTK zurückholen konnte. Es müsste doch gelingen, die jungen Beatbegeisterten zurück zu holen. Nicht Kleckern sondern Klotzen war Ferdies Motto. Also – her mit den Beatles nach Marburg. Doch wir wussten, dass dies nie möglich sein würde. Egal – das wäre ein Knaller, der dem MTK wieder die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit (Jugend) zurück bringt. Die OP war damals noch von recht konservativen, verstaubten Redakteuren besetzt, die sich immer gewehrt hatten, über die Aktivitäten des MTK oder der Marburger Rock’n’Roll Jugend zu berichten. Pfadfinder oder Kinderverschickung nach Wolfshausen waren da schon bequemere Themen.

Also verfassten Ferdie und ich eine Meldung an die „Bild“-Zeitung „Die Beatles kommen nach Marburg“ und erhielten dafür 10 DM Honorar. Sofort hängte sich die OP an. Ein Lauffeuer war im Marburger Raum gelegt. Heute nennt man so etwas „Hype“, einen Medienrummel ohne Hintergrund und Fakten, nur um des Rummels willen.

Es gab also niemals eine fadenscheinige Person im Friseurladen der Kilians, die Ferdie einen Beatles-Floh ins Ohr setzte. Es gab auch nie irgendwelche Absprachen mit Konzert-Agenturen oder gar dem Management der Beatles. Die paar Plakate und Eintrittskarten (deren Verkauf übrigens nicht forciert wurde) waren schnell und billig gedruckt, und der MTK war wieder in vielen Munden. Doch Lügen haben kurze Beine, und die verständliche Enttäuschung der Beat Fans traf Ferdie voll, wie man es auch im Film richtig hören kann. Hype war damals noch verwerflich. Der MTK starb einen stillen Tod und der Club E setzte seinen Siegeszug fort, weil dessen neuer Besitzer, mein cleverer und fleißiger Nachbar „Happy Jack“ (Störmer), die Zeichen der Zeit erkannte und den jungen Beat-Fans ein neues Ventil für ihren Alltagsfrust bot.

Richtig ist, dass Ferdie dazu neigte, dick aufzutragen, aber er hatte oft bewiesen, dass er viel zustande brachte, was ihm andere neideten. Ihm gebührt deshalb die Zeichnung eines positiveren Bildes seiner Person, ein besseres Angedenken und vor Allem der Dank der damaligen Marburger Rock’n’Roll Jugend.
Unser Ferdie und sein Lieblingssatz bleiben unvergessen:
"Nichtsdestowenigerdestotrotzalsauchschlechthin!"

Bürgerreporter:in:

Hans-Rudolf König aus Marburg

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