Der Tod eines Kirschbaums

Jede Medaille hat zwei Seiten, auf den Blickwinkel oder die
rosa Brille kommt es an. So auch beim:

Der Tod eines Kirchbaums

A) Aus der Sicht eines Romantikers:

Dass ich den Gärtner rief, war meine böse Tat;
verzeih`, lieber Kirschbaum, mir diesen Verrat.
Ich komme mir vor, wie ein böser Wicht,
mit der Säge löscht er dein Lebenslicht.

Ich seh` dein Sterben mit Zähneknirschen,
hab` Dank, lieber Kirschbaum, für die vielen Kirschen.
hab` Dank für den Anblick, den wir konnten genießen,
wenn im Frühjahr deine weißen Blüten ersprießen.
Hab` Dank für den Schatten, den du im Sommer spendest;
verzeih` mir, dass du so grausam endest.

Hab` Dank für die Lieder, die Vögel uns sangen,
wenn sie zum Rasten auf deine Zweige sich schwangen.
Dass sie auch manche Kirsche gefressen,
das haben wir ihnen schon lange vergessen.
Hab` Dank für das Grün und die gute Luft,
die du auf unserer Terrasse uns schufst.

Hab` Dank für die Bewegung, die du uns geschaffen,
wenn im Herbst wir mussten deine Blätter aufraffen.
Du solltest als Möbel ein Denkmal bekommen,
doch hat kein Schreiner dein Holz angenommen.

Dass du den Weg des Vergänglichen gehst
und nun im Kamin zu Asche verwehst,
das danken wir dir in so mancher Stunde,
wenn wir am Kamin sitzen in gemütlicher Runde.
- - - - - - - - - - - - - - -
B.) Aus der Sicht eines pessimistischen Realisten:

Endlich stirbst du, du morscher Baum,
zur Ruhe liesst du kommen uns kaum.
Im Frühling hast du deine weißen Blüten verstreut,
dass man glaubte, es hätte schon wieder geschneit.
Denen mussten wir mit dem Besen zu Leibe rücken
und dachten mit Grausen an`s Kirschenpflücken.

Das war dann die größte Last im Jahresreigen,
hoch auf die Leiter mussten wir steigen,
immer höher mit Bangen und Zähneknirschen,
verkommen sollten sie nicht, die vielen Kirschen.
Und die Tochter warnte, sie ist Röntgen-MTA,
weil sie jedes Jahr zur Erntezeit sah,
wie Patienten kamen mit kaputtenen Knochen,
die sie beim Sturz von der Leiter gebrochen.
Was nützt Bio und das gesparte Geld, wenn der
Gedanke aufblitzt,
das man im Rest seines Lebens im Rollstuhl nur sitzt.
Dann saßen wir in der Küche, gar viele Stunden.
Damit die Kirschen auch im Winter noch munden,
haben wir sie gereinigt und konserviert
und dann nach Monaten noch auf dem Tisch serviert.
Nur Mühe und Arbeit hast du uns gebracht,
fahr zur Hölle, Kirschbaum, in finsterer Nacht.

Bürgerreporter:in:

Walter Wormsbächer aus Marburg

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