"Und Sisyphos stieß den Fels in die Tiefe ...“

„Und Sisyphos stieß den Fels in die Tiefe ...“

„Warum nur müsst ihr ständig unsere alten Geschichten aufwärmen und verfälschen? Habt ihr denn keine eigenen Geschichten?“, klagt Ovid aus dem Dichter-Elysium die Nachwelt an. Den Brief aus der Unterwelt hat der Altphilologe Wilfried Olbrich „seinem“ Ovid untergejubelt. Er bildete die Basis seines Referats vor dem Autorenkreis Landsberg, in dem er sich mit „Antiken Mythen in moderner Prosa“ auseinander setzte.
Kein Wunder, die Klage Ovids: Mutierte doch der gewaltige Meeresgott Poseidon bei Kafka zum traurigen Buchhalter, begegnet uns Eurydike, die Gemahlin des Orpheus, bei Walter Vogt als niedersächsische Gasthausschlampe, wird dem armen Odysseus bei Walter Jens die Heimkehr verweigert. Und Sisyphos – seines Daseinszwecks beraubt, als sein Fels bei Günter Kunert auf dem Berg liegen bleibt – stürzt diesen verzweifelt wieder hinab in die Tiefe.
Wilfried Olbrich ging in seinem Referat diesem Wandel der alten Mythen auf den Grund. Als Erstes stellt er dabei eine „Demontage der antiken Götter“ fest, die er der Säkularisierung unserer Gesellschaft zuschreibt. Als Ursache einer unverkennbaren „Entheroisierung“ der mythischen Figuren sieht er einerseits den Heldenkult des vergangenen Jahrhunderts, jedoch auch feministische und pazifistische Ideen. Eine „Korrektur des Mythos“ findet sich z.B., als Odysseus am Ende seine geliebte Penelope nicht in die Arme schließen darf. Diese ist neu vermählt und feiert glücklich – für einen Odysseus ist nach 20 Jahren kein Platz mehr. Neben einem „Perspektivenwechsel“ stellt Olbrich vor allem die „Entdeckung der mythischen Grundmuster im Alltäglichen“ fest: Ödipus- und Elektra-Komplex sind seit Sigmund Freud zur Alltagsdiagnostik geworden, die Achilles-Ferse ist täglicher Sprachgebrauch, Tantalus-Qualen sind Gemeingut, und ins All fliegen wir mit der „Apollo“-Raumfähre.
Der Wandel der polytheistischen antiken Welt zur monotheistischen Welt des Christentums konnte die Kraft dieser Mythen also nicht verdrängen. So schließt Olbrich mit einem Appell an Ovid, er möge seinen Nachkommen Gerechtigkeit widerfahren lassen. Schon das Römische Imperium habe die griechischen Mythen variiert, und heute sei eben an die Stelle der antiken Rhetorik die moderne Psychologie getreten.
Die intensivste Diskussion, die der Autorenkreis bisher erlebte, schloss sich an den Vortrag an. Lebhaft wurde die Bedeutung der Mythen für unsere Zeit analysiert, bis hin zu der gewagten These, der Mensch falle ohne seine Mythen ins Chaos zurück. Der Bogen spannte sich über Märchen, Sagen und Erzählungen aus aller Welt bis zurück zu den Wurzeln des Islam. Sogar für den aktuellen Kampf der Kulturen wurden Grundmuster aus den Mythen bemüht. Wilfried Olbrich jedenfalls schien die Diskussionsfreude, die sein Referat auslöste, sichtlich zu genießen.

Bürgerreporter:in:

Roland Greißl aus Fuchstal

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