Kindheitslexikon: Satire: Mein Ostalgie-Himmel auf Erden

Erster Tag: Das Sandmännchen vom DDR-Fernsehen holt mich mit irgendeinem Ost-Lkw von zuhause ab. In der auf magische Weise wieder auferstandenen "Mocca Milch und Eisbar" in der Karl-Marx-Allee in Ost-Berlin dann Eisessen mit etlichen Filmdiven des Ostblocks: Friederike Aust, Petra Blossey, Sigrid Göhler, Cox Habbema, Marie Horáková, Julie Jurištová, Katrin Martin, Libuše Šafránková, Miroslava Šafránková. Wir essen riesige Eisbecher mit Softeis, wie es früher zu DDR-Zeiten üblich war.
Die Schauspielerinnen sind altersmäßig alle in den Zwanzigern und Dreißigern, der Glanzzeit ihrer Karrieren. Als ich eintreffe, teilen sie mir jubelnd mit, dass sie nur auf mich gewartet haben.

Zweiter Tag: Wir fahren zu einem Bahnhofsgelände. Auf den Gleisen dort befinden sich:
Diesellokomotiven der Baureihe V 200 ("Ludmilla", "Russe", "Sergej", "Taigatrommel").
Diesellokomotiven der Baureihe 199.8 ("Rotes Kamel").
Diesellokomotiven der Baureihe 119.
E-Lokomotiven der Baureihe E 11.
Diesel-Rangierlokomotive V 60.
Davor sind folgende Straßenfahrzeuge geparkt:
Lkw's vom Typ G 5.
Lkw's vom Typ H 6.
Lkw's vom Typ Multicar.
Lkw's vom Typ Robur und Vorgängermodelle.
Lkw's der Typen S 4000 und S 4001.
Lkw's vom Typ Škoda.
Lkw's vom Typ W 50.
Kleinbusse vom Typ Barkas.
Traktoren der Typen ZT 300 und ZT 303.
Bagger vom Typ T 174.
Auf einer Asphaltfläche zwischen all diesen Fahrzeugen ist ein riesiges, verwinkelt angelegtes Tischsystem aufgebaut. Daran sitzen alle möglichen Comicfiguren und Werbemaskottchen aus DDR-Zeiten:
Der Fit-Tropfen.
Die Fewa-Johanna.
Der Koch von der Nudelverpackung.
Der Tiefkühlgemüse-Schneemann.
Das Leipziger Messemännchen.
Das rote und das grüne Ampelmännchen.
Der Koch von der Erwa-Suppenwürze.
Bummi und die zwei anderen Teddys Maxl und Mischka.
Das Männchen von der Tele-Lotto-Sendung.
SERO-Emma.
Ali und Archibald.
Käpt'n Lütt und Koko.
Otto und Alwin.
Tüte und Mäxchen.
Kundi.
Korbine.
Das Seifenkätzchen.
Piefke und Schniefke.
Benno Leichtfuß und der Verkehrsengel Lotsi.
Die Digedags.
Die Abrafaxe.
Lexi aus den frühen Mosaikheften.
Max und Maxi.
Fix und Fax.
Feuerwehrmann Fix.
Erst nachdem ich alle begrüßt habe, bemerke ich, was sich auf dem Tisch befindet. Es sind kulinarische Spezialitäten aus der alten DDR:
Die "Konsum"-Brötchen und die "Achter"-Brötchen.
Würstchen aus der Region nahe Hessen und Bayern.
Eberswalder Fleischkonserven.
Rügener Fischpaste.
Fischbrötchen mit Fisch von der Ostsee.
Spreewald-Gurken.
Melonen aus Ungarn, groß, reif und süß, nicht so wie diese verkrüppelten Mickerlinge aus heutigen Supermärkten.
Obst aus unserem Garten: Weintrauben, Himbeeren, Erdbeeren, schwarze Johannesbeeren, gelbe Stachelbeeren, die Äpfel bei Rauhs an, Brombeeren.
Biersorten aus Köstritz, Apolda, Berlin, Ehringsdorf.
Club-Cola.
Vita-Cola.
Rotkäppchen-Sekt.
Spirituosen aus Nordhausen.
Die Lakritzzylinder mit Zuckerguss-Außenhülle.
Hansa-Kekse.
Hansa-Gebäckmischung.
Othello-Kekse.
Knusperflocken.
"Fetzer"-Milch-Schokoladenriegel.
Zetti-Schokolade.
Schlager-Süßtafeln.
Blockschokolade.
Die Schokolade mit der Pfefferminzcremefüllung.
Der Pralinenkasten "Thüringer Spezialitäten".
Irgendwann, nach Stunden der Schlemmerei, spreche ich eine der Figuren auf den noch ausstehenden dritten Tag an. Ich sage, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie man das, was ich bisher erlebt habe, noch steigern kann. Ich sage: Ich habe ausgezeichnetes Eis mit den größten Filmdiven der DEFA gegessen, habe alle meine Lieblingsschienen- und –straßenfahrzeuge auf einmal gesehen, habe euch alle getroffen – was kommt denn noch?
Die zwei Figuren, die vor mir standen, sahen sich vielsagend an.

Dritter Tag: Man sagte mir, ich solle durch eine Tür gehen. Das tat ich. Danach befand ich mich urplötzlich an einer Küste. Als ich instinktiv zurücksah, war plötzlich die Tür verschwunden, durch die ich gekommen war.
Das hier musste die Ostsee sein, dämmerte es mir.
Plötzlich stand in einiger Entfernung vor mir inmitten der Dünen eine nackte Frau auf. Als ich auf sie zuging, erschien etwas neben ihr eine weitere. Entdecke schließlich, dass sich bestimmt an die hundert nackte Frauen an diesem Abschnitt des Strandes befinden, jede mit einer eigenen Liegedecke. Mit einem Male leuchtet mir ein, dass dies alle Frauen sein müssen, die jemals nackt im "Magazin" abgebildet worden sind. An dieser Stelle blendet die Kamera ab.

Bürgerreporter:in:

Christoph Altrogge aus Kölleda

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