Jahresbeginn in Österreich

Die Westseite des Retzer Hauptplatzes.
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Eine weitere Schilderung meiner Jugendzeit in den Neunziger Jahren:

Kapitel 19. 1.: Neujahr

1. Januar 1994

Es klingelte an der Haustür. Ich verließ mein Arbeitszimmer, um aufzumachen. Im Flur zog an der Wand der Abreißkalender mit dem aktuellen Datum vorbei: 1. Jänner.
Wie immer wirkte das erste Blatt des Jahres vom Abreißkalender irgendwie feierlich. Ich erinnerte mich, wie mir das schon während meiner Kindheit so vorgekommen war.
Johannes aus meiner Klasse stand draußen. "Joa, Servas", begrüßte er mich. "Scheens neiches Joah winsch i dia. Da Grund, woarum i kumman bin, is dea: A Onkl vuan mia is Fischwiat im Woidviatl. Duatn giabts vü so Fischteiche, scho seit Joahhundoatn. An Sülvösta bringt ea uns imma aaniges an Fischen, woas ea si vuan de Iwaschisse im Betrieb mit hamneman derf. Un mia moachn dahoam imma an Haufn Fischsemml davoa, vuan dennan ma an Großtäül oan unsare Bekoanntn weitagebn. I moach jetz groad mei Runde un hoab ma denkt, doass i eich a a poa bring. Waaßt, dös Fischsemmelessen an Neijoah is hia so a Brauch, goanz oallgemein."
Ich war ganz überrascht. "Na, das ist ja toll. Da bedanke ich mich aber!" Er befand sich bereits wieder halb auf dem Weg. "Und schönes neues Jahr dir auch, dir und deiner Familie", rief ich ihm noch nach.
Danach ging ich in die Stube, da im Fernsehen bald das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker anfing.

Kapitel 19. 3.: Neujahrsmarkt

3. Januar 1994

Ich sah auf die Uhr auf meinem Schreibtisch. Kurz vor Um Zehn. Langsam dürfte auf dem Markt der Betrieb angelaufen sein, dachte ich, so dass es sich lohnt, vorzusehen.
Ich nahm mir noch einmal den Zettel vom Tisch, auf dem ich mir aufgeschrieben hatte, worum mich Thomas am Telefon gebeten hatte. Drei Händler interviewen. Fragen, wie sich das Geschäft in den letzten Jahren entwickelt hat. Und wie lange sie schon hierher auf den Markt kommen. Und zum Schluss natürlich Bilder machen, von den Händlern wie auch vom Markt allgemein.
Neben dem Zettel lag die handgeschriebene Auflistung von den Retzer Märkten das Jahr über, welche ich vom Stadtamt bekommen hatte. Neujahrsmarkt (3. Jänner), las ich als Erstes darauf. Gregorimarkt (14. März). Florianimarkt (9. Mai). Laurenzimarkt (5. September). Simonimarkt (24. Oktober). Diesbezüglich hatte ich mir ja schon vorgenommen, das in dem Artikel mit unterzubringen, erinnerte ich mich.

Ich hatte die Wienerstraße verlassen. Der Hauptplatz lag vor mir. Das Erste, was mir dort auffiel, waren die riesigen Schneewälle, die die Räumfahrzeuge des Städtischen Bauhofes am Rande des Platzinneren aufgetürmt hatten. Ich erinnerte mich an die Radiomeldung vom vergangenen Tag, der zufolge dies der härteste Winter in Niederösterreich seit Jahrzehnten sei. Als ich über den gesamten Platz hinweg sah, bemerkte ich auch, dass ziemlich dichter Nebel über ihm lag.

Ich war beim Modehaus Seidl angekommen und überquerte die Straße.
Eine Unzahl an Gassen war durch die vielen Stände auf dem Inneren des Hauptplatzes entstanden. Direkt vor mir tat sich ein Bereich des Marktes auf, in dem sich vor allem südländische Händler zusammengefunden hatten. Gleich mehrere von ihnen trugen Turbane und dichte Bärte. Einige riefen sich in exotischen Sprachen quer über die Stände irgendetwas zu. Im Vorbeigehen registrierte ich ihr Angebot. Uhren. Sonnenbrillen. Aller möglicher Schmuck. Fan-T-Shirts mit Motiven von Rock-Stars oder mit Tigerkopf-Darstellungen. Fußball-Fanartikel wie Kappen, Schals, T-Shirts. Ein paar vertrieben auch Raumschmuck. Dabei gab es vor allem zwei Sorten. Die eine waren farbige Metallreliefs mit Landschaftsmotiven. Die andere massive Glasovaloide, in deren Inneren eingeschlossene Farbe eigenartige Gebilde darstellte. Unten abgeflacht, damit man sie hinstellen konnte.

Die Stände der südländischen Händler endeten auf der Höhe der Geschäftsstelle der Raiffeisenkasse. Ich erinnerte mich, was in den Stadtführungen immer darüber erzählt wurde. Dass es sich dabei um das Haus des ehemaligen Retzer Weingroßhändlers Lechner handelte, der in der Stadtgeschichte mal eine bedeutende Rolle gespielt hatte.

Ich beschloss, als Nächstes bei den Händlern ganz außen, die sich entlang der Ringfahrbahn postiert hatten, vorbeizusehen. Dazu musste ich wieder kehrt machen.

Kurz darauf war ich wieder an der Stelle angelangt, wo ich die Straße überquert hatte. Ich machte jedoch zunächst vor der barocken Dreifaltigkeitssäule halt. Ich hatte beschlossen, sie mir wieder einmal von allen Seiten anzusehen.
Ich begann als Erstes die Figuren in den Bogennischen der untersten Figurenebene zu identifizieren. Auf Anhieb erkannte ich die hl. Maria, da ihre Darstellung denen in Kirchenbildern fast aufs Haar glich. Die nächste Figur war mir vom Äußeren her nicht vertraut. Ich wusste jedoch noch von einer Stadtführung, dass es sich um den hl. Johannes von Nepomuk handelte. Der hl. Florian folgte. Deutlich erkennbar an seiner Ritterrüstung und seinem Attribut, dem Eimer in Ausschütthaltung. Schließlich blieb nur noch der hl. Plazidus übrig, der Schutzpatron von Retz.
In der Etage darüber schlossen sich Christus mit dem Kreuz, die Erzengel Michael und Gabriel sowie eine Schutzengelfigur an. Die Spitze des Bauwerks zeigte sich in Form einer Gottesdarstellung mit der Hl.-Geist-Taube.

Ich setzte den Weg entlang des Fahrbahnrandes weiter fort. Der Platz eines Holzwarenhändlers tauchte auf. Dieser hatte auf einer Decke großflächig seine Erzeugnisse ausgebreitet. Holzbottiche standen auf ihr. Butterfässer, auf denen vorn mit Ölfarbe Blumenmotive aufgemalt worden waren. Holzfußbänke. Handarbeitskästen. Und noch einiges, dessen Zweck ich auf den ersten Blick nicht erkennen konnte. Fast ein Ambiente wie in dem Märchen vom "König Drosselbart", dachte ich.

Wenige Minuten später war ich auf der Höhe des Scherzerhauses mit der Marktpassage angekommen. Bei seinem Anblick beschloss ich, mir nach dem Rundgang und dem Erledigen der Presseaufträge von der Geschäftsfläche der Bäckerei Gold eines der belegten Baguettes zu holen.

Ich betrat wieder die große Fläche innerhalb der Ringfahrbahn. Ein Stand mit Trachtenjacken, welche teilweise bestickt waren, Pullovern und Westowern tauchte als Erstes auf.

Der Händler links gegenüber hatte in seinem Zelt Oberhemden, Häkeleien und Trainingssachen ausgebreitet.

Wandtücher, Blusen und Hüte bot der Nachbar des Trachtenjackenhändlers auf der rechten Seite an.

Auf einem Tisch weiter lagen Jeans in etlichen Farben.

Überall packten Händler etwas ein oder aus, legten Kleidungsstücke zusammen und auf den Tisch. Bei vielen Ständen befanden sich große Spiegel. Sie waren an die Metallstangen, aus denen sich die Stände zusammensetzten, und an die fahrbaren Kleiderständer angelehnt. Bei etlichen standen Kunden davor und sahen sich irgendetwas an.

Ein Verkaufstisch mit Unmassen von Westen zog vorbei. Gilets sagte man hierzulande, erinnerte ich mich.

Ein Stand mit Winterjacken und Wintermänteln schloss sich dem Westenhändler an.

Im Zelt gegenüber hingen und lagen alle möglichen Anziehsachen für Kinder.

Ich kam an der hinteren Front des Rathauses an. Der Stand eines Händlers zog an mir vorbei, der alle möglichen Mittel und Tinkturen aus Kräutern zum Verkauf anbot. "Murmeltier" lautete sein Markenname, wie ich auf einem Schild las. Am Rande seines Verkaufstischs entdeckte ich ein ausgestopftes Murmeltier. Er hatte es offenbar als eine Art Firmenmaskottchen mitgenommen.

Gleich darauf folgte ein Stand, an dem massenhaft Kleidung im Militärlook aushing.

Per Zufall sah ich mir die Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite an. Dabei fiel mir auf, dass die Fassaden in diesem Bereich des Hauptplatzes größtenteils im Biedermeierstil gehalten waren. Sonst herrschte ja überall Renaissance mit einigen barocken Einschlägen vor.

Auf einem der Häuser kurz vor der Apotheke am Beginn der Burggasse war in einer Steinkante das Errichtungsjahr verewigt worden. Die Kante hob sich vom oberen Rand der Vorderfront ab und erstreckte sich über ihre gesamte Länge. Die römischen Zahlen darauf lauteten: MDCCCXV. Ich begann die Zahl ins Arabische zu übersetzen. 1815 bekam ich nach wenigen Augenblicken Rechnerei als Ergebnis. Vom Baustil her würde es ja ungefähr stimmen, dachte ich. Also konnte ich mich zumindest nicht völlig verrechnet haben.

An der Front eines der Häuser daneben bemerkte ich eine ebenfalls lateinische Aufschrift. Sie bestand aus den Worten "CONSTANTIA ET VIRTVS". "Beständigkeit und ..." irgendetwas, übersetzte ich es für mich bruchstückehaft.
Ein Stück tiefer an derselben Hauswand geriet mir ein steinernes Familienwappen mit dem Oberkörper einer Ritterrüstung ins Blickfeld. Wieder darunter die Franz-Liszt-Gedenktafel. Mir fiel ein, wie mal auf einer Stadtführung erzählt wurde, dass er in dem Haus zu Gast gewesen sei. Auch Klavierunterricht soll er in der Zeit gegeben haben.

Ich war mit dem Betrachten der Fassaden am Chinarestaurant angelangt. Welches bereits auf der Südseite des Hauptplatzes stand. Am obersten Ende der Hauswand entdeckte ich ein Relikt aus der Kaiserzeit. Sichtbar vor noch nicht allzu langer Zeit restauriert. "Kais. u. Kön. Hoflieferant" stand mit grüner Farbe an die Mauer geschrieben. Das Areal gehörte ja mal einem Retzer Weingroßhändler namens Vinzenz Liebl, erinnerte ich mich. Nach ihm war auch die Weinkostbar in der Klostergasse benannt worden. Hinter dem Gebäude tauchte ein Stück vom Dach der Dominikanerkirche auf.

Ein Stück weiter den Platz hinunter bemerkte ich ein paar Häuser mit "potjemkienschen" Fassaden. Nach dem Prinzip der Potjemkienschen Dörfer hatte man bei ihnen vor ein eher bescheidenes Gebäude eine repräsentative Fassade gesetzt. Diese war zudem noch ein wenig höher als das Haus, zu dem sie gehörte. Der kleine Betrug fiel jedoch erst auf, wenn man die entsprechenden Häuser von der Seite betrachtete.

An einer der Vorderfronten entdeckte ich die Reliefs ionischer Säulen. Vermutlich Renaissance oder auch Historismus, analysierte ich. Jedes Haus auf dem Platz schien sich in einer völlig anderen Farbe zu befinden, bemerkte ich. Keines glich dem anderen. Mehrere Rottöne gab es, gelb, olivgrün, ocker, ... Und das Sgraffitohaus mit der Eisenwarenhandlung Steffl in seinem Inneren trug erst gar keine Farbe. Es war stattdessen über und über mit Ritzzeichnungen bedeckt.

Auf dem Pflaster hinter den Ständen war der Schnee besonders stark weggetaut. Ebenso bei den Erdinseln, die in diesem Bereich des Hauptplatzes die speziell gepflasterten Parkplatzeinheiten unterteilten. Die ungepflasterten Flächen mit jeweils einer Akazie drauf waren schon fast völlig schneeleer. Überall sah man bereits ihre Granitwürfeleinfassungen in Form langgezogener Rechtecke mit halbkreisförmigen Abrundungen zur Straße hin. Der Grund für die Schneefreiheit lag darin, dass sich dort die Händler ständig in alle Richtungen bewegten.

Ich war am Ende der Rathausrückfront angelangt, wo der Platz spürbar nach Osten hin abfiel. Auf die Dächer der Herrengasse und der Lehengasse konnte ich von meinem Standpunkt aus fast schon hinabsehen. Acht Meter Unterschied existierten zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Punkt des Platzes, erinnerte ich mich wieder an ein Detail von einer Stadtführung.

Links tauchte ein Stand mit Unmengen von Socken auf.

Danach lag genau zwischen zwei Ständen die rostbraun gestrichene Holztür zur Rathauskapelle mit ihrem altmodischen Türklopfer. Auf einer Steintafel über dem Eingang entdeckte ich abermals eine alte lateinische Inschrift. "SACRAMENTO HALEC DAT.VRGLORIA" entzifferte ich. Wahrscheinlich irgendetwas mit "heilig" und "Sieg", dachte ich.

Ich setzte den Weg wieder fort. Nebenbei bekam ich mit, wie einer der Händler einem Kunden erzählte, dass er seit 40 Jahren zu den Retzer Märkten fährt.

Auf der rechten Seite zog der Pranger vorbei. Mit seinem angeketteten Paar Eisenhandschellen rechts. Und auf seiner linken Seite mit der ausgestreckten Armnachbildung aus Metall. Ich erinnerte mich, wie ich auf einer Stadtführung von der Bedeutung des Objektes gehört hatte. Dass in früheren Jahrhunderten während der Markttage ein Fähnchen in die Hand des Eisenarmes gesteckt wurde. Solange es sich da befand, hatte die Bevölkerung von Retz das Vorkaufsrecht. Erst wenn es entfernt wurde, durften auch die Bewohner der umliegenden Ortschaften einkaufen.

Ich kam an einem Stand mit Messern und allen möglichen anderen Küchengegenständen aus Metall vorbei.

Ihm schloss sich ein Korbwarenhändler an. Wie schon der Händler mit den Küchengegenständen aus Holz hatte er seine Erzeugnisse weitläufig auf einer Decke ausgebreitet. Einkaufskörbe, Wäschekörbe, Reisigbesen, Teppichklopfer und Korbsessel bot er an.

Dahinter tauchte das Stadtkino mit der Pension "Zum weißen Löwen" auf. Ich erinnerte mich, wie ich mal auf einer Stadtführung etwas darüber gehört hatte. Bereits um 1600 wurde an dieser Stelle ein so genanntes "Einkehrwührtshaus" erwähnt.

Wieder folgte ein Stand mit Kleidung. Pullover, Westover, Strickjacken, Kopftücher und Trachtenkleider wurden an ihm zum Verkauf angeboten.

In seiner Nachbarschaft befand sich ein Süßwarenhändler. Ich blieb kurz vor seiner Verkaufsniederlassung stehen, um sein Angebot näher zu betrachten. Schaumrollen hatte er ausgelegt, mal mit und mal ohne Schokoladenüberzug. Mir unbekannte kleine Dinger aus orangem Zuckerguss in Form winziger Brote. Verschiedenes Spritzgebäck mit Schokoladenguss und Marmeladenfüllung. Waffelbecher mit Schaumfüllung und dünner Schokodecke.

Mit lauter Stimme machte neben ihm ein Haushaltswarenhändler auf seine Waren aufmerksam, hauptsächlich Emailletöpfe und Backförmchen.

Spitzentischdeckchen wurden am Stand gegenüber verkauft.

Ein Lederwarenhändler folgte, welcher hauptsächlich Portemonnaies im Angebot hatte. Ganze Legionen davon waren auf seinem Verkaufstisch hintereinander aufgestellt. Von einer Stange am Rande seines Zeltes hingen Ledergürtel in allen erdenklichen Formen herunter.

Links tauchte gleich darauf ein Händler auf, der sich auf Bettbezüge und Bettwäsche spezialisiert hatte.

Ein chinesischer Händler schloss sich ihm an. Tierfiguren und stoffverkleidete Holzkästchen mit Qigong-Kugeln hatte er auf seinem Tisch aufgebaut.

Ein Stand mit Zuckerstangen, Türkischem Honig und Kokosgebäck folgte. Ich beschloss, nachher ein paar Portionen von dem Honig zu nehmen.

Von weitem tauchten die Statuen der Stadtbrunnen auf. Die Brunnenliesl auf dem linken, der sitzende Retzer Löwe mit dem Wappen in den Krallen auf dem rechten.
Ein paar Schritte weiter kamen dann die Brunnen selbst in Sicht. Nach noch ein paar Schritten mehr die daneben in die Schräglage des Platzes eingebauten steinernen Sitzgelegenheiten.
Noch ein wenig später auch die aus Bruchsteinen errichtete Abflussrinne im Boden dahinter.
Weiße Schneeflecken hatten sich auf allen halbwegs waagerechten Stellen der Plastiken angesammelt. Eingeschneit waren auch die Dächer der vier kleinen, rechteckig um die Brunnen angeordneten Straßenlaternen.
Ich trat an den rechten Brunnen heran. Schnee gleich in großen Massen war auch in seinem dem Winterhalbjahr über wasserleeren Inneren liegengeblieben.
Hinter all dem begann bereits wieder das Territorium der südländischen Händler. Eine Dreiviertelstunde zuvor hatte ich von ihm aus meinen Rundgang begonnen. Ich beschloss, mir noch die beiden vor mir liegenden Gassen mit Ständen anzusehen, in welchen ich noch nicht gewesen war. Danach würde ich mich dann um die Presseangelegenheiten kümmern.

Kapitel 19. 4.: Die Sternsinger

4. Januar 1994

Ich hatte gerade das Blatt in die Schreibmaschine eingespannt und die ersten Zeilen für den Artikel über den Neujahrsmarkt am Tag zuvor geschrieben. Plötzlich klingelte es an der Tür. Ich stand von meinem Platz auf, ging zur Tür und öffnete. Auf der Treppenstufe davor befanden sich die Sternsinger. "Grüß Gott!" sagten sie fast im Chor. Ein Stück hinter ihnen entdeckte ich meinen Schulbanknachbar Georg als Begleiter. "So, dann kommt mal rein", forderte ich sie auf.
Ein paar Augenblicke vergingen, in denen sie im Flur Aufstellung nahmen. Danach begann als Erstes der Sternträger seinen Text aufzusagen:
"Ich trage den Stern, ich führe euch an,
die freudige Botschaft verkünde ich dann.
Geboren ist Christus, gesendet von Gott,
den Menschen zu helfen, zu lindern die Not."

Der Darsteller des Kaspar trat nach vorn:
"Ich habe Gold dem Kind gebracht,
doch Jesus schenkt, was reicher macht.
Er hat geschenkt den Glauben mir,
dass Gott uns liebt, ihn preisen wir!"

"Melchior" schloss sich ihm an:
"Der Weihrauch, der zum Himmel steigt,
der Mensch, der sich zum Menschen neigt,
sie lehren uns, was wirklich zählt:
Die Liebe trägt, die Liebe hält."

Zum Schluss blieb nur noch Balthasar übrig:
"Ich brachte Myrrhe, wie ihr wisst.
Und bitter, wie die Myrrhe ist
auf dieser Welt der Menschen Los.
Drum helft! Das Herz sei weit und groß!"

Alle sagten sie schließlich im Chor:
"Für eure Spende danken wir
und machen ein Zeichen an eure Tür.
Wir ziehen nun fort auf unseren Wegen.
Glück wünschen wir und Gottes Segen."

Während der religiösen Handlung hatte sich der Geruch von Weihrauch im gesamten Flur verbreitet. Eines der Kinder trug ihn an einer Kette in einem silbernen Gefäß bei sich. "Wo soi ma d'n n' Segen hischreibn?" fragte mich Georg.
Ich zeigte an den oberen Rand des Inneren der Haustür. "An die Leiste da."
Georg hob den Darsteller des Melchior in die Höhe. Dieser schrieb dann die Buchstaben-Ziffern-Kombination "19-C+M+B-94" an die genannte Stelle. Ich erinnerte mich, wie ich mich bereits im Vorjahr über den Sinn dieses religiösen Codes informiert hatte. Er bedeutete zweierlei. Zum einen gab er die Anfangsbuchstaben der Namen der Könige wieder. In seiner zweiten Bedeutung die Abkürzung für den lateinischen Segensspruch "Christus manseonem benedicat – Christus schütze dieses Haus".
Als der Schreibvorgang beendet war, steckte ich den Kindern den schon zurechtgelegten Hundert-Schilling-Schein in ihre Sammelbüchse. Danach tat ich die schon seit Tagen auf dem Flurtischchen griffbereit liegenden Tüten Drageekeksi in ihren Süßigkeitenbeutel.
"Un du oaweitst jetz nebnbei fia a Zeitung?" fragte mich Georg plötzlich.
"Neuigkeiten sprechen sich wohl schnell herum?"
"I bin groad ums Eck gstoandn, ois d' gestan mit anm vuan de Handler g'redt hoast", klärte er mich auf.
"Das hat sich eigentlich rein zufällig ergeben. Anfang Dezember letzten Jahres habe ich in der Gaststube vom Schloßgasthaus gesessen und einen Gschpritztn getrunken. Da war am Nachbartisch so ein Typ, der herumerzählt hat, dass er gerade eine Regionalzeitung gegründet hat und jetzt Mitarbeiter sucht. Als er gehen wollte, habe ich ihn angesprochen. Eine halbe Stunde lange haben wir dann noch weitergeredet.
In den Tagen darauf habe ich zunächst ein bisschen daran gezweifelt, ob er sich wirklich wieder meldet, wie es ausgemacht war. Aber um Nikolaus herum hat er dann angerufen. Und danach habe ich die ersten Aufträge für ihn erledigt. So bin ich zu der Sache gekommen."

Kapitel 19. 5.: Der "Retzer Kalender"

5. Januar 1994

Es klingelte an der Haustür.
Draußen stand ein ehrenamtlicher Helfer der SPÖ. Er verteilte den "Retzer Kalender", welcher durch Werbeeinschaltungen kostenlos an jeden Haushalt in der Gemeinde ging.

Gleich darauf saß ich dann am Tisch in meinem Zimmer und sah mir die einzelnen Monatsblätter an. Man hatte es auch diesmal wieder verstanden, aus dem schier unerschöpflichen Motivreichtum der Region besondere Stücke herauszufiltern.

Kapitel 19. 6.: Neujahrskonzert der Stadtkapelle Retz

6. Januar 1994

Kapitel 19. 6. 1.: Ankunft im Stadtsaal

Ich hatte den Absatz auf der Treppe zum Stadtsaal im Althof erreicht. Dort blieb ich kurz stehen und sah aus dem Fenster. Draußen hatte sich feuerroter Abendhimmel ausgebreitet. Als fast pechschwarze Silhouette erschienen darunter die Weingärten.
Wie üblich bei Veranstaltungen an diesem Ort stauten sich wieder einmal die Gästemassen am Eingang. Nicht zuletzt durch den Tisch mit dem Spendenkörbchen und den Programmzetteln. Es nahm eine gewisse Zeit in Anspruch, ehe ich in den Saal gelangte.
Hinter der Tür standen auch bereits wieder zwei Feuerwehrleute in ihren grünen Uniformen. Deren Anwesenheit bei solchen Veranstaltungen aus Sicherheitsgründen vorgeschrieben war. Zahlreiche Gäste standen noch an den Rändern und unterhielten sich. Andere bewegten sich im Mittelgang auf der Suche nach einem Platz. Gleich vor mir in der letzten Reihe der linken Seite waren noch ein paar Plätze frei. Nachdem mir das aufgefallen war, steuerte ich auf den Sessel ganz links außen zu und besetzte ihn.

Kapitel 19. 6. 2.: Einzug der Musiker

Nach und nach hatte sich der Saal nahezu bis auf den letzten Platz gefüllt. Das Althof-Personal hatte sogar noch eilig ein paar Stöße der Sessel hergeräumt. Diese stellte es dann auf dem noch frei gebliebenen Platz hinter mir auf.
Mit einem Male brandete tosender Applaus auf. Die Musikerinnen und Musiker der Stadtkapelle zogen in ihren Ulanenuniformen in den Saal ein.
Durch den Mittelgang strömten sie in Richtung Bühne. Dort angekommen, teilten sie sich auf und marschierten nach links und rechts. Beide Hälften gingen die Bühne hoch. Die rechte über die kleine Treppe. Die linke durch die Tür zu Füßen der Bühne. Am rechten Rand der Bühne hatte sich bereits Stadtamtsmitarbeiter Hermann Neumayr postiert. Er fotografierte dort den Einmarsch fürs Stadtarchiv.
Nachdem der lange Beifall verebbt war, stimmten ein paar Musiker ein letztes Mal ihre Instrumente. Schlagartig hörten sie damit auf, als abermals Beifall aufbrandete. Stadtkapellendirektor Neumayr und Hauptschuldirektor, ÖVP-Ortsvorsitzender und "Tourrrrrrrrrrrrrismusstadtrrrrrrrrrrrrrat" Gruber betraten den Saal. Mit Ausnahme der Bühne wurden danach überall die Lichter gelöscht. Ein Musikstück setzte ein.

Kapitel 19. 6. 3.: Begrüßung der Ehrengäste

Mit einem tosendem Applaus endete der erste Programmpunkt. Gruber trat an das Mikrophon. "Mit einem herzlichen 'Grüß Gott' und den besten Wünschen für das Jahr 1994 darf ich Sie, sehr geehrte Damen und Herren", begann er in seiner durch tiefe Stimme und ein extrem rollendes R gekennzeichneten Aussprache seine Begrüßungsworte, "hier im Stadtsaal zu unserem 25. Neujahrskonzert willkommen heißen. Mit der 'Revolutionsfanfare' haben wir Sie musikalisch begrüßt.
Es erfüllt mich als Stadtrrrrat fürrrr Tourrrrismus mit großer Freude" – hat er ihn wieder einmal untergebracht, den "Stadtrat für Tourismus", dachte ich, das tat er ja in jeder seiner Reden mindestens einmal – "dass Sie unser Angebot angenommen haben und heute zu uns gekommen sind, um mit uns den Jahresbeginn musikalisch zu feiern.
Ein besonderer Willkommensgruß gilt der Abgeordneten zum Niederösterreichischen Landtag, Frau Marianne Lembacher."
Beifall.
"Willkommen heißen möchte ich ebenso den Klubobmann der Sozialdemokratischen Partei im Niederösterreichischen Landtag, Herrn Dr. Hannes Bauer."
Beifall.
"Auf das Herzlichste begrüßen darf ich unseren Herrn Bürgermeister Hofrat Dipl.-Ing. Adolf Schehr."
Beifall.
"Ebenfalls unseren Stadtamtsdirektor Andreas Piglmayr."
Beifall.
"Sehr herzlich begrüße ich die Stadträte Herrn Dir. Wiesmann mit Gattin", ... Beifall, "... Herrn Stadtrat Karl Gebhardt", ... Beifall, "... sowie alle erschienenen Gemeinderäte."
Beifall.
"Mit einem 'Grüß Gott' heiße ich unseren Herrn Stadtpfarrer Geistlicher Rat Johannes Groll recht herzlich willkommen."
Beifall.
"Begrüßen wollen wir die Vertreter der heimischen Banken, den Geschäftsleiter der Raiffeisenkasse Retz-Pulkautal, Gustav Schausenberger mit Gattin", ... Beifall, "... von der Hypobank den Herrn Direktor Wiesmann, wie schon erwähnt, und den Geschäftsstellenleiter Herrn Franz Kurz mit Gattin", ... Beifall, "... und auch von der Weinviertler Sparkasse den Geschäftsstellenleiter Herrn Flammer, unseren Kassier."
Beifall.
"Ein besonderer Willkommensgruß geht an die Presse: an den Herrn Josef Höß vom 'NÖ Anzeiger'", ... Beifall, "... und Herrn Altrogge von den 'Bezirksnachrichten Hollabrunn'".
Beifall. Ich stand kurz auf, nickte nach allen Seiten und setzte mich wieder hin.
"Ganz herzlich heißen wir alle unsere ehemaligen Mitglieder, alle ehemaligen Musiker, alle Unterstützungsmitglieder und allen voran unseren Ehrenobmann Dr. Franz Schell, recht herzlich willkommen."
Beifall.
"Zufrieden dürfen wir auf das Jahr 1993 zurückblicken. Viele musikalische Auftritte hat die Stadtkapelle Retz hinter sich. Zwei Höhepunkte möchte ich erwähnen: die Verleihung des Silbernen Ehrenpreises für sechsmaligen ausgezeichneten Erfolg bei der Marschmusikbewertung im Landhaussaal in St. Pölten aus den Händen des Landeshauptmannes, und erwähnen möchte ich noch die Aufnahme in einer Gemeinschafts-CD mit dem Titel 'Viertels-Klänge' mit den Kapellen Hardegg, Ziersdorf und Ravelsbach. Falls Sie noch nicht im Besitz dieser CD sind, haben Sie die Möglichkeit, in der Pause oder im Anschluss an unser Konzert sie zu erwerben. Ich darf an dieser Stelle meinen Kollegen im Tourismusverein für die finanzielle Unterstützung bei der Produktion dieses Tonträgers recht herzlich danken."
Beifall.
"Zum Schluss bleibt mir noch übrig, den Obmann der Stadtkapelle Retz, Herrn Robert Langer zu begrüßen, der Sie heute durchs Programm führen wird."
Beifall.
"Ich darf Ihnen nun gute Unterhaltung und uns gutes Gelingen wünschen."

Kapitel 19. 7.: Die Neujahrssammlung der Feuerwehr

7. Januar 1994

Es klingelte an der Haustür. Ich ging hin, um zu öffnen.
Einer der Männer von der örtlichen Feuerwehr stand in Festuniform da. Er war für die jährliche Neujahrssammlung gekommen. Ich lief ins Innere der Wohnung zurück, um den zurechtgelegten Geldschein zu holen.

Kapitel 19. 8.: Ball der Rugia Retz

8. Januar 1994

Kapitel 19. 8. 1.: Exklusives Ballambiente im rustikalen Gasthaus

Ich betrat den nächtlichen, winterleeren Gastgarten des Schloßgasthauses. Dabei bemerkte ich bereits von weitem das Gedränge hinter den beiden Glastüren vom Extrazimmer.
Ich öffnete die Tür zum Haupteingang rechts von mir. Und schloss sie gleich wieder hinter mir. Danach trat ich durch die zweite Tür in das eigentliche Innere.
Unzählige Ballgäste hatten sich bereits in dem engen Raum um die Theke versammelt. Die Männer entweder in Smoking mit Fliege oder Anzug mit Krawatte. Die Frauen in extravaganten Abendkleidern.
Ich rief den Wirtsleuten ein "Guten Abend" über die Theke hinweg. Danach machte ich mich durch den schmalen Gang links auf den Weg zum Schlittensaal. Gleich darauf kam ich an der Küche vorbei. Dort rief ich ein weiteres "Guten Abend" in den Raum hinein.
Während des anschließenden Gehens überlegte ich mir bereits den ersten Satz für den Artikel: "Glanzvoller Auftakt der diesjährigen Ballsaison in der Stadt war wie immer der Ball der 'Katholischen Österreichischen Studentenverbindung Rugia Retz." Gleich darauf fiel mir auch der Schlusssatz ein: "Bis Mitte Februar wird dann eines dieser gediegenen Tanzvergnügen das andere jagen."
Ich kam in dem kleinen Extrazimmer mit den dicken, viereckigen Säulen und den kleinen, burgartigen Fenstern an. Dort standen bereits überall Mädchen in weißen, spitzebesetzten Debütantinnenkleidern und Rugen in ihren farbigen Uniformen herum. Einige der Uniformträger saßen auch auf den breiten und niedrigen Fensterbrettern. Unzählige Jacken und Mäntel hingen an den Kleiderhaken an den Säulen. Es waren so viele, dass sie wegstanden. In einer Ecke des Raumes entdeckte ich Cornelius. Er stand an die grüne Holzverschalung gelehnt, die die gesamte untere Hälfte der Wände umgab. Dort befand er sich gerade mit zwei anderen Rugen im Gespräch. Auch er trug die volle Montur der Verbindung. Ich beschloss, vorerst nicht auf ihn zuzugehen. Ein Durchdringen zu ihm wäre unmöglich gewesen. Und bei der Lautstärke hätte er nicht einmal mitbekommen, wenn ich ihm etwas zugerufen hätte. Stattdessen bahnte ich mir einen Weg in Richtung Schlittensaal. Um mir dort gleich für die Eröffnungspolonaise einen guten Platz zum Fotografieren zu suchen.
Am Eingangstor zum Schlittensaal lag ein Strauß Rosen auf dem Tisch, von dem jeder weibliche Gast eine ausgehändigt bekam. Am Tisch daneben saßen auch wieder zwei Feuerwehrmänner in ihren grünen Uniformen.
Ich betrat den langen Saal, in dem ich mich noch nie zuvor befunden hatte. Ausgetretene Holzbretter lagen in seinem Boden. Sie knarrten wie die im Extrazimmer davor, als ich über sie drüber lief.
Das Erste, was mir danach auffiel, war das altertümlich wirkende Dachgebälk. Offensichtlich ein Überbleibsel aus der Zeit, als der Raum noch als Kornspeicher diente. Grüngestrichene Wagenräder hingen davon herunter, auf denen die Raumbeleuchtung montiert war.
Im Vorbeigehen begrüßte ich auch das Servierpersonal. Es hantierte hinter einer langen Theke aus Holzbrettern. Sie begann gleich hinter dem Eingang. Von dort aus erstreckte sie sich über fast die gesamte rechte Längswand des Raumes.
Ein langer Gang lag vor mir. Links an ihm zogen sich etliche Tischreihen entlang. Rechts die Holzbretter-Theke mit einer einzelnen Tischreihe danach.
Als ich den Gang durchquert hatte, tat sich eine Tanzfläche auf. An ihrem rechten Rand befand sich eine kleine Holzbühne. Eine Tanzband hatte sich bereits darauf niedergelassen.
Ich überquerte die Tanzfläche und blieb an der Wand gegenüber der Bühne stehen.

Kapitel 19. 8. 2.: Eröffnung

Plötzlich begannen aus einem Recorder auf der Bühne die ersten Takte der Fächerpolonaise in A-Dur Opus 40 von Carl Michael Ziehrer zu erklingen. Schlagartig kehrte Ruhe im Saal ein. Vom Eingang her näherte sich im Rhythmus der Musik das Tanzkomitee. Bald darauf hatte es die Fläche vor der Bühne erreicht. Ich nahm die mir um den Hals hängende Kamera hoch. Ich stellte das Objektiv ein, bis ich den gewünschten Bildausschnitt hatte. Schließlich begann ich, ein Tanzpaar nach dem anderen abzufotografieren. Nach einer Weile kam Cornelius an vorbei. Er nickte mir zu, als er mich bemerkte.

Tosender Beifall erklang, als die Tänzerinnen und Tänzer ihre Darbietung beendet hatten.
Emanuel Wiesmann, der Sohn von Kulturstadtrat Wiesmann und Senior der Verbindung, trat ans Mikrophon. Bevor er zu sprechen begann, bog er es sich zurecht. "Meine sehr verehrten Damen und Herren!" sprach er gleich darauf hinein. "Liebe Bundes- und Farbenbrüder!
Als Senior der Rugia Retz begrüße ich Sie recht herzlich zu unserem diesjährigen Ball und wünsche Ihnen hiermit eine rauschende Ballnacht!
Unter den heutigen Ehrengästen möchte ich recht herzlich den Bürgermeister der Stadt Retz, Herrn Dipl.-Ing. Adolf Schehr, begrüßen."
Beifall.
"In Vertretung des Bezirkshauptmannes Herrn Bezirkshauptmannstellvertreter Ober-Regierungsrat Mag. Johannes Klammer."
Beifall.
"Weiters Bundesbruder Stadtrat Karl Gebhardt vulgo Rembrandt."
Beifall.
"Bundesbruder Dir. Sepp Mohr vulgo Schnurli."
Beifall.
"Bundesbruder Dir. Ewald Brodesser vulgo Rackel."
Beifall.
"Bundesbruder Stadtrat Dir. Reinhard Gruber vulgo Cicero."
Beifall.
"Bundesbruder Stadtrat Walter Stallmeier vulgo Falstaff."
Noch eine ganze Reihe weiterer Bundesbrüder samt Verbindungsnamen folgte. Dann trat plötzlich Cornelius ans Mikrophon und verkündete: "Namens des Jung-Damen- und –Herren-Komitees darf ich mich recht herzlich bei unserem Bundesbruder Dipl.-Ing. Emanuel Wiesmann vulgo Liszt für das Einstudieren der Eröffnungspolonaise bedanken."
Beifall.
Wiesmann übernahm wieder das Mikro. "Weiters danke ich unserem Bundesbruder Philistersenior Erich Bronner für die Leitung der Mitternachtseinlage."
Beifall.
"Ich bitte nun den Bürgermeister der Stadt Retz, den Ball zu eröffnen. Dankeschön!"
Beifall.
"Hochwohlgeborene Damen und Herren!
Geschätzte Rugen! Liebe Jugend!
Es ist schon eine liebe Tradition, seit Jahrzehnten, dass der Rugenball der erste Ball in der Ballsaison ist. Seit dem Jahr 1963 ist der Rugenball nun schon ein fester Bestandteil des Retzer Jahreskreises. Viele Bälle sind nicht mehr, aber die heutige Besucheranzahl zeigt, dass nach solchen Veranstaltungen Nachfrage ist, und ich darf den Veranstaltern, den Rugen, recht herzlich gratulieren zu dem guten Besuch der heutigen Veranstaltung. Ich darf mich aber auch als Bürgermeister bei den Rugen für das abgelaufene Jahr recht herzlich bedanken für die Aktivitäten, die sie immer wieder entwickeln zum Wohle der ganzen Großgemeinde, zum Wohle ihrer Institution, verständlicherweise, und zum Wohle, zur Unterhaltung der Bevölkerung.
Ganz besonders, das darf ich hier sagen, möchte ich mich bei den jungen Damen und Herren bedanken für die wunderschöne Polonaise, die wir hier zu sehen bekommen haben."
Einige klatschten vorsichtig, worauf der Bürgermeister sagte:
"Bitte, es darf applaudiert werden, selbstverständlich!"
Beifall.
"Und ich hoffe stark, dass es in der heurigen Ballsaison nicht die einzige Vorstellung, Darbietung des Jung-Damen- und Jung-Herren-Komitees sein wird, sondern ich würde bitten, vor allem den Herrn Dipl.-Ing. Wiesmann, im heurigen Jahr mindestens noch einmal in so einer gekonnten Weise aufzutreten. Ihnen allen, meine Damen und Herren, darf ich für den heutigen Abend alles Gute wünschen und mit dem Spruch 'Wer sich heute freuen kann, soll warten nicht bis morgen' den Ball eröffnen. Danke!"
Beifall.
Irgendein mir unbekanntes barock klingendes Musikstück setzte nun ein. Das Ballkomitee absolvierte dazu die zweite Runde seiner Tanzvorstellung.

Kapitel 19. 8. 3.: Abgang durch die Mitte

Nach einer Weile ging das Musikstück, das ich nicht kannte, in die Johann-Strauß-Komposition "Wiener Blut" über. Emanuel Wiesmann trat ans Mikrophon und rief: "Alles Walzer!". Aus dem Publikum drängten nun massenhaft Paare auf die Tanzfläche.
Ich hatte alle Bilder gemacht, die ich brauchte. Ich verschwand daher hinter dem Vorhang, der den Ausgang zum Stadtpark verdeckte. Dort nahm ich die Kamera vom Hals ab und verstaute sie in meiner Arbeitstasche. Schließlich öffnete ich die Tür zu der kleinen Holzbrücke über den Graben entlang des Gasthauses.
Draußen herrschte bereits stockfinstere Nacht. In der kalten Winterluft konnte man den gefrorenen Atem sehen. Es war ein eigenartiges Gefühl, von dem Lärm und der Musik drinnen plötzlich in die Nachtstille zu treten.
Allmählich gewöhnte ich mich an die Dunkelheit. Danach bemerkte ich mit einem Male, wie sehr die Schneedecken auf der Erde, den Bäumen und den Dächern die Finsternis erhellten.
Auf dem Parkweg hinter dem Ende der Brücke blieb ich kurz stehen. Ich überlegte, ob ich im vorderen Teil des Gasthauses noch kurz etwas Trinken gehe. Ich entschied mich dann aber, den Rest des Abends zu Hause zu verbringen.

Kapitel 19. 9.: Christbaumentsorgungs-Aktion

14. Januar 1994

Überall in der Stadt lagen bereits Weihnachtsbäume vor der Tür. Schlagartig erinnerte ich mich an die kurze Ankündigung, die ich in die letzte Ausgabe der Zeitung noch mit reingebracht hatte: "Ein bewährter Öko-Service der Retzer ÖVP steht auch heuer wieder allen Bürgerinnen und Bürgern der Großgemeinde zur Verfügung: die kostenlose Christbaumentsorgung. Alle Christbäume, die am 15. 01. bis spätestens 8:00 Uhr sichtbar vor dem Haus liegen, werden umsonst mitgenommen. Im Vorjahr machten über 600 Haushalte von diesem Angebot Gebrauch."

Kapitel 19. 10.: Fackelwanderung des Dorferneuerungsvereines Altstadt Retz

21. Januar 1994

Es war stockfinstere Nacht. Kälte herrschte. Man entdeckte den Atem in der Luft, wenn man genau hinsah. Schnee lag überall auf dem Boden und auf den Dächern.
Die Fladnitzerstraße war von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen die ganze Zeit über menschenleer gewesen. Gleiches galt auch für Autos. Kaum ein Fahrzeug war während meines Marsches vorbeigekommen. Nur von Ferne hörte man verworrene Motorengeräusche. Dies und die Lichter in den Häusern waren die einzigen Lebenszeichen.

Ich hatte das Ende des Fußweges am Beginn der Angerwiese erreicht. Vor mir lag die durch den Anger bedingte Häuserlücke. In ihr der Rand der Angerwiese, welche sich mit der Fladnitzerstraße eine gemeinsame Grenze teilte.
In ungefähr 20 Metern Entfernung tauchte, im Winkel von 90 Grad von der Fladnitzerstraße nach Norden abbiegend, das alte Gemeindehaus auf. Ich erinnerte mich, wie ich auf einer Stadtführung gehört hatte, dass dieses Haus bis zur Vereinigung von Stadt Retz und Altstadt Retz im Jahre 1941 das Gemeindeverwaltungsgebäude von Retz-Altstadt war.
Bereits etliche Teilnehmer der Fackelwanderung hatten sich bereits vor der Vorderfront des Hauses eingefunden. Fast alle hatten sie ihre Fackeln bereits entzündet. Ungewöhnlich starker Lichtschein in der umgebenden Dunkelheit war so entstanden.

Die Route führte zunächst über den Manhartsberg in Richtung Hofern, dem Nachbardorf. Dabei war der Altenberg gleich hinter Retz die erste Station. Die nächste das Forstdenkmal. Der Galgen. Der Wolfsteich bei Niederfladnitz. Der ehemalige Ziegelofen. Danach gab es eine erste Essenstation. Das Hetzhaus. Vorbei an Hofern. Kurz nach der Ortschaft beim "Bilderbaum", einem Baum am Wegrand, an dem alle möglichen sakralen Objekte montiert worden waren, nahmen wir die Abzweigung nach Obernalb. Vorbei am aufgelassenen Obernalber Steinbruch.
Als Ausklang der Wanderung wurde dann im Windmühl-Heurigen hoch über Retz bis in die Abendstunden hinein gegessen und getrunken.

Bürgerreporter:in:

Christoph Altrogge aus Kölleda

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