Versuch zu einer Kurzgeschichte. Rückblick auf die Schulzeit um 1950.

Das ist, in Ermangelung eines geeigneten Fotos, leider nur eins mit schönen Kieselsteine.
  • Das ist, in Ermangelung eines geeigneten Fotos, leider nur eins mit schönen Kieselsteine.
  • hochgeladen von Rolf Schulte

Das magische Auge.
Alle in der Klasse sollten es sehen. Herr Stein hielt das Schulheft so hoch wie es seine Handprothese erlaubte.
„Kannst Du erklären, warum dein Heft so verschmiert ist?“
Horst hatte mit einer Rüge gerechnet, nicht aber mit einer Demütigung. Er zuckte zusammen, spürte das schwarzbraune Leder der künstlichen Hand, bedrohlich hoch über seinem Kopf. Die Prothese glänzte wie ein frisch geputzter Sonntagsschuh und sein Heft sah aus, als hätte jemand den Inhalt einer Schuhcremdose darüber ausgebreitet und einen Reinigungsversuch mit Terpentin unternommen.
Horst schämte sich, saß gebeugt auf seinem Platz, starrte auf den offenen Tintenbehälter des Schreibpults.
„Steh auf, wenn ich mit dir rede!“
Der 11-jährige zuckte abermals zusammen. Der Deckel des Tintenfasses klappt zu. Die Schreibplatte knallt an den oberen Anschlag. Beides gelang nicht mit der geforderten Geräuschlosigkeit, aber der Schuljunge steht. Ohne den Lehrer anzusehen, sprudelte es aus ihm heraus.
„Wir haben ein neues Radio bekommen. Dabei ist es passiert, weil nämlich ...“
„Dann bist Du also gar nicht schuld, sondern ein Radio.“
Hinter dem Rücken des Lehrers feixte Erwin, mimte Schuldlosigkeit in Richtung Klasse und Hohnlachen zu seinem Freund Horst hinüber.
Auf dem Heimweg werden heute die Fäuste fliegen, fuhr es Horst durch den Kopf. Ein stiller Racheschwur flog zum Pantomimen hinüber. Die Gelegenheit, stolz den Besitz eines Radioapparats hinaus zu posaunen, war verpatzt – verpatzt auch die Absicht, mit der Erzählung eines aufregenden Ereignises zu glänzen.
Bisher durfte Horst nur in Ausnahmefällen Schulfunk hören. Die Nachmittagssendungen kamen ausgerechnet zu jener Zeit, in der es sich sein Vater regelmäßig mit der Hannoverschen Zeitung in der Sofaecke gemütlich machte. Direkt daneben stand, bis zu jenem Freitag als das Malheure mit dem Heft geschah, die 'Göbelsschnauze', wie Vater das alte Radio manchmal beschimpfte.
Jetzt thronte neben dem Sofa auf dem Nähschränkchen ein Loewe Opta mit goldenen Messingeinlagen im edlen Holzgehäuse, mit zwei Drehreglern auf einer beleuchteten Skala.
Der ganzen Familie hatte Vater schon mehrfach erklärt, wie man die Sender richtig einstellt. Selbst die Nachbarin erfuhr:
„Mit den 'Klaviertasten' wählt man zuerst den Wellenbereich. Auf Lang- und Kurzwelle gibt es nur Gepiepse oder an- und abschwellenden Empfang. Hier die Mittelwelle.“
An dieser Stelle der Erklärung folgte eine kleine Pause und ein bedeutungsvoller Fingerzeig auf das langsam heller werdende magische Auge.
Grün leuchtend schaute es aus der Stoffbespannung heraus, die der Lautsprecher bei großer Lautstärke zum Flattern brachte. Auf einfühlsames Drehen des rechten Reglerknopfes veränderte sich die grüne Pupille. Sie verengte sich beim Empfang eines starken Senders zu einem schmalen Spalt.
„Das magische Auge dient der Scharfeinstellung des Senders.“
Diese Worten des Vaters hatte sich Horst gut gemerkt, auch um damit mächtig angeben zu können. Doch wie es zu dem Malheur mit dem verdorbenen Schulheft kommen konnte, davon sollte niemand etwas erfahren. Diesen Auftritt hatte ihm Freund Erwin gründlich vermasselt.
Wenn Herr Stein durch die Reihen der Schulbänke ging, sich die Hefte zeigen ließ und mit dem zwischen Daumen und anderen Lederfingern seiner Prothese geklemmten Rotstift sein St unter die Hausaufgaben kritzelte, duldete er keinen Hokuspocus hinter seinem Rücken. Er reagierte auf die kleinste Unruhe mit einer schnellen Kehrtwende; so erwischte den Übeltäter oft und strafte unverzüglich mit einer Ohrfeige.
Die Drehung, so meinten einige Schüler, gelang ihm nur deshalb so blitzartig, weil er sie heimlich üben würde. Anders Erwin, der glaubte, nur mittels einer Spiralfeder im Korsett, das Herr Stein als ehemaliger Offizier trage, sei solch ein plötzliches Herumschnellen überhaupt möglich.
„Quader entriegelt eine Sperre. Sein Arsch dreht sich von der Spiralfeder angetrieben schlagartig und die Ohrfeige kommt mit voller Wucht aus der Drehung heraus.“
„Stein ist besonders gemein. Er trainiert das, um die Wirkung das Schlags zu erhöhen.“
Mehrere Schüler beobachteten, Lehrer Stein schnellte stets rechts herum. Bei Linksdrehungen bewegte er sich gemächlich. Die Verfechter der Spiralfeder-Theorie führten mechanische Ursachen für diese unterschiedlichen Geschwindigkeiten an.
Mädchen, die überhaupt keine Ahnung davon haben konnten, wie belämmert man sich nach einer Ohrfeige, wenn die eine Backe schmerzend und die andere vor Scham errötet, fühlt, suchten ebenfalls eine Erklärung.
Aufgrund einer Kriegsverletzung kann Herr Stein nur mit der linken Hand schlagen. Er bevorzugt beim Drehen einfach den kürzeren Weg.
Immerhin konnte er die Tafelkreide oder andere Schreibstifte, diesmal sogar zur Freude von Erwin das Schreibheft von Horst hochhalten.
Erwin duckte sich etwas zu spät. Hart getroffen plumpste er auf seine Sitzbank. Die Schulglocke läutete. Ende der ersten Runde dachte Horst.
„Wenn der Hund wenigsten seinen blöden Ring vom Finger nehmen würde, ...“ schimpfte Erwin auf dem Heimweg. „und warum quatscht du überhaupt so'n blödes Zeug über euern Volksempfänger?“
„Wir haben ein neues Radio, eins mit einem magischen Auge.“
„Ich haut dir auch gleich eins!“
Erwin wollte das Hinausposaunen seines Freundes stoppen. Es gelang ihm nicht.
„Wegen des alten Radios hätte es im Haus fast gebrannt. Ich durfte es mit in meine Kammer nehmen. Habe es auf den Tisch gestellt und dabei die Schulbücher beiseite geschoben. Es gab da aber keine Steckdose. Du kennst doch diese braun-grün getarnten Telefondrähte, die die Amis überall in den Bäumen hängen ließen. Davon habe ich zwei Enden als Verlängerungskabel genommen.“
„Die sind doch so bockig. Wenn die irgendwann mal aufgerollt waren, kriegt man die nie wieder gerade. Das sind doch Stahlseile mit einem hauchdünnen Kupferdraht in der Mitte.“
„Genau! Sie sind so heiß geworden, dass es sofort fürchterlich qualmte. Eine braune Masse hat alles verschmiert. Das Schulheft und meine Bettdecke haben was abgekriegt. Bis hin zur Küche stank es nach verbranntem Wachs. Es dauerte eine Weile bis ich die Sicherung raus geschraubt hatte. Der Zählerkasten ist im Flur. Deshalb hat mir mein Vater das Radio wieder weggenommen.“
„Und nun?“
„Komm mit! Jetzt zeig' ich dir, wie das mit dem magischen Auge funktioniert.“

Bürgerreporter:in:

Rolf Schulte aus Hildesheim

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

7 folgen diesem Profil

3 Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.