Siegertexte im Schreibwettbewerb: Der Tag, der mein Leben veränderte (von Jana Schrader)

Beim Schreibwettbewerb des Kunstkreises Laatzen zusammen mit dem Calenberger Autorenkreis hat Jana Schrader (17) aus Hildesheim mit diesem Text in der Altersklasse "Klasse 9 bis 13" den dritten Preis gewonnen:

Der Tag, der mein Leben veränderte
Wir wohnten im vierten Stock eines Mehrfamilien Hauses in Namie, einer Stadt in der Präfektur Fukushima. Wir, das waren mein Vater, ein Techniker, meine Mutter, eine Hausfrau, mein kleiner Bruder Toshi und ich. Bis zu dem Tag an dem sich die Katastrophe ereignete und unser Leben sich für immer verändern sollte, wusste ich nicht genau was der eigentliche Beruf meines Vaters war. Alles was man mir sagte war, das es kein leichter Job sie jedoch ein sehr wichtiger. Ich fragte nicht weiter nach, denn ich wusste dass es sich nicht gehörte zu neugierig zu sein, zu viele Fragen zu stellen oder sich in die Angelegenheiten anderer einzumischen. Bei der eigentlichen Katastrophe war ich nicht dabei und ich weiß nicht, ob ich darüber glücklich sein sollte oder nicht.
Im Sommer 2010 verließ ich Japan, für ein Auslandsjahr in Deutschland. Ich hatte über eine internationale Organisation ein Stipendium gewonnen, welches es mir ermöglichte dorthin zu reisen und mein Deutsch zu verbessern. Ich freute mich sehr auf dieses Jahr. Ich sollte in einer Gastfamilie wohnen und mit den Kindern meiner Gastfamilie eine öffentliche Schule besuchen. Meine Freundinnen beneideten mich sehr um mein Glück, besonders meine beste Freundin Akiko, die sich selber für das Stipendium beworben hatte, aber nicht genommen wurde. „Das wird das Jahr deines Lebens werden, Mikoto- san.“, sagte sie mir immer wieder. „Oh, wie ich dich doch beneide!“. Sie war neidisch auf mich und missgönnte mir mein Glück. An diesem Punkt zerbrach unsere langjährige Freundschaft für immer! Aber auch meine anderen Freundinnen beneideten mich sehr. „Ach, du weißt gar nicht, was für ein Glück du hast Mikoto- san!“, riefen sie. Doch, ich wusste was für ein Glück ich hatte. Meine Gastfamilie lernte ich bereits einige Monate vor dem eigentlichen Austausch kennen. Die Maiwalds riefen ein paar Mal bei mir an, später verabredeten wir uns dann für Chats per Skype.
Die Maiwalds lebten in einem netten Reihenhaus mit Garten in der Kleinstadt Laatzen. Herr Maiwald war ein großer Mann mit spärlichem rot blondem Haar und einem gewaltigen Schnauzer, sodass ich bei seinem Anblick immer wieder an ein Walross erinnert wurde. Ich sah ihn fast nie ohne sein abgenutztes, rotes Käppi mit der Aufschrift „Hannover 96“. Dies war sein Lieblingsfußball Verein. Herr Maiwald arbeitete als Handwerker in seiner eigenen Autowerkstatt. Hier bekam er oft Besuch von seiner zwölf- jährigen Tochter Lisa, einem kleinen, schmächtigen Mädchen mit kurzem Haar und einer riesigen Brille aus lila Plastik. Sie interessierte sich zum Leibwesen ihrer Mutter mehr für Autos und Technik, als für Mode und gutes Aussehen. Frau Maiwald war eine große Frau mit langen Locken, die selbst zum Müll rausbringen top gestylt war. Sie besaß einen Kosmetik Salon. Der Sohn der Familie hieß Lukas und war in meinem Alter. Da er sehr groß war und unverschämt gut aussah, war er bei den Mädchen an seiner Schule sehr beliebt. Das er Kapitän des heimischen Fußball Vereins war, konnte da auch nicht schaden. Doch wie der Rest war der Familie war auch er sehr Boden ständig und mir gegenüber unglaublich vertraut und warmherzig.
Am 9. August 2010 ging es endlich los. Meine Familie brachte mich nebst meinen Freundinnen zum Flughafen. Akiko war nicht dabei, angeblich hatte sie die Grippe. Allerdings hatte ich sie noch am Abend zuvor im Einkaufszentrum gesehen. Händchen haltend mit einem Jungen. Es tat mir nicht leid um sie! Mai und Yumi, meine anderen Freundinnen, hatten ein großes Plakat für mich gebastelt auf dem „So long Mikoto!“ geschrieben stand. Fast wäre ich in Tränen ausgebrochen, doch ich schaffte es mich zu beherrschen. Meine Mutter drückte mich etwas steif an sich und mein Vater strich mir kurz über das Haar, ehe ich durch das Gate ging und sie hinter mir ließ. Ich drehte mich nicht noch einmal um als ich ging und ich bereue es bis heute.
Im Flieger saß ich am Fenster neben einem Mann in Nadelstreifenanzug, der geschäftig an seinem Blackberry herum fummelte und ab und zu leise vor sich hin murmelte. Ich selber steckte mir die Kopfhörer meines iPods in die Ohren und las ein wenig in einem Buch, das ich mir zum üben auf Deutsch gekauft hatte. So verging die Zeit rasch und ehe ich mich versah, drückte mich Frau Maiwald an sich, als wäre ich eine lang verschollene Tochter die nun endlich heimkehrte. Auch die Maiwalds hatten ein Schild für mich gebastelt. Darauf waren die japanische und die deutsche Flagge gemalt und Lisa hatte in Blockbuchstaben „Herzlich Willkommen Mikoto“ auf Deutsch und Japanisch geschrieben. Die japanischen Worte hatte sie, wie sie mir im geheimen verriet, bei Google Übersetzter eingegeben. Nun, dementsprechend sahen sie aus.
Ich fühlte mich sofort heimisch bei den Maiwalds. Sie nahmen mich ganz selbstverständlich in ihrer Mitte auf und sahen mich als Teil ihrer Familie an, nicht als Gast. Auch meine Klasse an der Albert- Einstein- Gesamtschule nahm mich freundlich auf. Schneller als ich gedacht hätte, fand ich Freundinnen. Dies lag sicher auch daran, dass mich Lukas in seinen Freundeskreis integrierte. Jeder Tag brachte etwas neues für mich und ich wünschte mir das dieses Jahr nie zu ende gehen würde!
Doch dann kam der 11. März 2011. Zu diesem Zeitpunkte lebte ich seit acht Monaten in Deutschland. Von der Katastrophe hörte ich das erste Mal in den 20 Uhr Nachrichten. Ich hörte dass ein Tsunami über Japan hereingebrochen war, doch ich dachte mir nichts dabei. Wir Japaner wachsen mit der ständigen Erdbeben und Tsunami Gefahr auf. Ständig gibt es Probe Evakuierungen und darum geraten wir nicht so leicht in Panik. Ich hörte das es auch ein Erbeben geben hatte und dachte: „Oh, das ist nicht so gut. Das ist vielleicht ein wenig viel.“. Doch ich machte mir noch immer keine Sorgen. Dann hörte ich die Erbebenstärke. 9,0 und dies zwei Minuten lang. Das war heftig und ich begann mir Sorgen zu machen. Um meine Familie, unser Haus, meine Freundinnen. Und dann, ganz langsam sickerte die Nachricht zu mir durch das es einen Atomunfall gegeben hatte. Ein oder mehrere Reaktoren des Kernkraftwerks Fukushima I waren beschädigt wurden. Der Reaktorblock I war überschwemmt wurden, die Schutzmauer war nicht hoch genug gewesen. Auch in die Reaktorblöcke 5 und 6 drang Wasser ein. Die Notstromaggregate fielen aus, genau wie die Notkühlsysteme. Wegen Überhitzung kam es zur Kernschmelze, zudem ereigneten sich Wasserstoffexplosionen in den Reaktoren 1, 2,3 und 4. Wortfetzen wie „gefährliches Plutonium“, „Kernschmelze“, „ein Erbeben von apokalyptischem Ausmaße“ oder „schlimmer als Tschernobyl“ drangen an meine Ohren, doch ich konnte ihren Sinn nicht erfassen. Ich dachte nur: „Was ist mit meiner Familie?“.
Am nächsten ging ich nicht zur Schule. Ich versuchte meine Eltern anzurufen, doch ich erreichte sie nicht. In den Nachrichten sprachen sie von Stromausfällen und sorgten sich um die Menschen in Tokio, doch ich wollte davon nichts hören. Durch die Zeitung erfuhr Lukas, dass einige Internet Suchmaschinen spezielle Seiten eingerichteten hatten, auf denen man nach Angehörigen suchen konnte. An seinem Computer gab ich die Namen meiner Mutter, meines Vaters und meines Bruders ein. Namie war völlig zerstört und bereits am 12. März waren alle Bewohner nach Nihonmatsu evakuiert wurden. So auch meine Mutter und Toshi. Von meinem Vater fehlte jedoch jede Spur. Akiko lebte nicht mehr. Ihr Haus hatte dem Tsunami nicht stand gehalten, die Wassermassen hatten sie und ihre Familie erdrückt. Mein herz verkrampfte sich und voller Schmerz dachte ich daran, dass wir uns wegen einer Lappalie zerstritten hatten. Nun würden wir uns nie wieder vertragen können. Yumi war am 11. Zu besuch bei ihrer Tante auf der Insel Hokkaido gewesen und von der Katastrophe verschont geblieben.
Ich sah lange Listen mit Toten oder Vermissten. Sah Namen von Klassenkameraden und Bekannten und wünschte dass alles nur ein furchtbarer Traum sei, aus dem ich jeden Moment erwachen würde. Doch es war kein Traum und ich erwachte nicht. Ich las Mais Namen auf einer dieser Listen und wünschte ich könnte weinen, doch ich konnte nicht. Die ganze Zeit über konnte ich nicht weinen. Es war als wäre ich ausgetrocknet. Meine Gefühle schalteten sich aus und ich begann nur noch zu funktionieren. Stundenlang suchte ich nach meinem Vater, doch ich fand ihn nicht. Er war nicht bei Mutter und Toshi in der Notunterkunft, noch in einer anderen. Er war nicht als Vermisst gemeldet wurden und erschien auch auf keiner Totenliste. Erst später erfuhr ich was mit ihm geschehen war und zu diesem Zeitpunkt wünschte ich mir, er wäre für immer verschwunden geblieben.
Eine Woche nach der Katastrophe fasste ich einen Entschluss, den ich der Familie Maiwald beim Frühstück mitteilte. „Ich möchte nach Japan zurückkehren und meiner Familie beistehen.“, erklärte ich ruhig, mit der Roboterhaften Stimme, die meinem Mund entschlüpfte seit ich das erste Mal von der Katastrophe gehört hatte. Frau Maiwald nickte. „Wir haben uns bereits gedacht dass du diesen Wunsch äußern würdest und wir verstehen dich gut.“. Sie schwieg kurz ehe sie fort fuhr: „Aber vielleicht wäre es klug noch ein wenig zu warten, nur so lange bis die Situation ein wenig unter Kontrolle ist?“. Ich schüttelte nur den Kopf. „Ich kann nicht warten. Zwei meiner Freundinnen sind gestorben, meine Mutter und mein kleiner Bruder leben in einer Notunterkunft und von meinem Vater fehlt jede Spur. Ich kann nicht hier bleiben und so tun als wäre nichts passiert, es tut mir leid!“. Frau Maiwald nickte. „Wir können dich wohl kaum aufhalten.“. Herr Maiwald versuchte sofort ein Ticket für den nächsten Flug nach Japan zu organisieren. Da der Flugverkehr jedoch eingestellt war und man nur ausreisen, jedoch nicht einreisen konnte, dauerte es ein paar Monate ehe er mir einen Flug buchen konnte. Schließlich war es jedoch so weit und die Maiwalds und ich fuhren zum Flughafen. Es war eine Tränenreiche Verabschiedung. „Pass auf dich auf.“, baten sie mich und Lisa weinte und flehte mich an zu bleiben, doch ich konnte nicht auch wenn ich sie alle vermissen würde. Es klang hart, doch ich fühlte mich dieser Familie mehr verbunden, als meiner biologischen.
Mit dem Bus fuhr ich vom Tokioter Flughafen nach Nihonmatsu und ging dann zu Fuß zu der Notunterkunft, in der meine Mutter und Toshi lebten. Es handelte es sich um eine Schulsporthalle. Die Halle war überfüllt mit Menschen. Sie lagen auf Feldbetten oder auf dem nackten Boden. Alles was sie noch besaßen war die Kleidung die sie seit einer Woche am Leib trugen. Viele trugen Masken vor Mund und Nase. Es roch nach Krankheit, Schweiß und Verlust. Meine Mutter und Toshi teilten sich ein Feldbett und ein paar Decken. Als sie mich erblickte wurden die Augen meiner Mutter feucht und fast hätte sie mich umarmt, doch sie tat es nicht und in diesem Moment wusste ich, warum ich mich hier nie so heimisch gefühlt hatte wie in Deutschland. Mir fehlte die wärmende Liebe von dort! Ich gab Mutter und Toshi das Essen, die Decken und die frische Kleidung die ich aus Deutschland mitgebracht hatte. Für Toshi hatte ich außerdem Spielzeug und ein Kuscheltier von Lisa bekommen. Die anderen Dinge hatten mir die Maiwalds und meine Klasse von der Albert- Einstein- Gesamtschule bekommen. Vorsichtig fragte ich nach meinem Vater. „Ka-san, wo ist To-san?“. Meine Mutter blickte zu Boden und flüsterte: „Er ist tot.“. „Aber wieso? Ihr lebt doch, war er nicht bei euch?“, fragte ich verständnislos. Meine Mutter wischte sich über die Wangen. „Er war Techniker im Reaktor I. Er hatte Schicht als es passierte. Er starb an Überhöhten Strahlenwerten.“. Auf einmal liefen Tränen über ihre Wangen und sie drehte mir den Rücken zu, um sie vor mir zu verbergen. „Ich konnte ihm nicht einmal Lebewohl sagen.“, schluchzte sie. Ich erinnerte mich an den Tag vor 8 Monaten, als ich mich von meinen Eltern verabschiedet hatte. Damals hatte mein Vater mir nur kurz über das Haar gestrichen. Ich fühlte diese raue Männerhand noch immer auf meinem Kopf. Spürte diese sanfte Berührung, doch an den Mann dem diese Hand gehörte, konnte ich mich nicht mehr erinnern. Wie hatte sein Gesichtsausdruck ausgesehen? Ich konnte es nicht sagen! Toshi saß wimmernd auf dem Feldbett und drückte das Stofftier an seine Brust. Mit einer Hand zupfte er an dem Pullover meiner Mutter um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, doch sie wand den Stoff aus der kleinen Kinderhand und drehte sich auch von Toshi fort. Er vergrub sein Gesicht in dem Stofftier auf der Suche nach der Liebe, die seine Mutter ihm nicht geben wollte.
„Ich werde zurück nach Deutschland gehen. Und Toshi kommt mit mir.“, verkündete ich. Meine Mutter blickte nicht auf und drehte sich auch nicht um. Ich erhob mich und nahm Toshi auf meinen Arm. Dann verließ ich die Notunterkunft und fuhr mit meinem kleinen Bruder zum Flughafen zurück. Fünf Tage später erschien der Name meiner Mutter auf einer der Todeslisten, neben dem meines Vaters.
Der 11. März 2011 veränderte das Leben vieler Japaner für immer. Auch meines. Doch ich hatte bereits zuvor ein neues begonnen. In einem fremden Land. Und dieses Leben bedeutete mir mehr, als dass das ich hinter mir ließ. Der Tag der mein Leben veränderte war nicht der 11. März 2011 um 14:46 Uhr japanischer Zeit, sondern der 9. August 2010 um 16:10 deutscher Zeit.

Bürgerreporter:in:

Robin Jantos aus Hannover-Mitte

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