Kinder in Deutschland – geprügelt, gequält, missbraucht, verstummt

Elisabeth Keller im Gespräch mit dem Lebensberater Hans Georg van Herste

EK Auch Sie mussten als Kind so einiges erdulden.

vH Es gibt Dinge, die man nie vergisst. Ich habe oft nächtelang wach in meinem Kinderbett gelegen, weil ich Angst davor hatte, mein Vater könnte in mein Zimmer kommen. Ich hörte ihn immer, wenn er spätabends total besoffen heim kam und schreiend durchs Haus rannte. Manchmal öffnete er meine Tür, tat aber nichts, wenn er bemerkte, dass ich schlief. Meistens schlief ich nicht. Ich tat nur so.

EK Hat er Sie oft verprügelt?

vH Nein, er hat mich nicht oft verprügelt. Ich kann mich an eine Szene relativ genau erinnern. Ich war vielleicht drei. Ich wurde in der Küche gewaschen und stand vor dem Bottich. Plötzlich verspürte ich einen dumpfen Schlag am Hinterkopf. Für einen Moment schien ich an der Decke zu schweben und mich und den Bottich von oben zu sehen. Dann war ich plötzlich beim Arzt, der mir eine Stirnwunde klammerte. Mir war schwindlig.

EK Was war passiert?

vH Da, außer meinem Vater, kein anderer im Raum war, der mich hätte schlagen können, meine Mutter hat das nie getan, hat er mir wohl von hinten einen Schwinger versetzt, der mich umgeworfen und mit der Stirn auf den Bottich hat aufschlagen lassen. Da der Schwindel tagelang anhielt, war offenbar mein Gehirn in Mitleidenschaft gezogen worden. Heute weiß ich, dass er mein Sehzentrum getroffen hatte. Daher muss ich seit meinem fünften Lebensjahr eine Brille tragen. Obendrein höre ich auf dem rechten Ohr nicht so viel, wie auf dem linken. Ich denke, das rührt von einer Ohrfeige her.

EK Das heißt, Sie haben bleibende Schäden davongetragen.

vH Damals gab es nur Brillen mit breitem Hornrand. Die Dinger waren dermaßen schwer, dass ich manchmal nur schnell von einer Seite zur anderen schauen musste, um mir die Brille von der Nase zu katapultieren. Neben der Hänselei, die ich in der Schule über mich ergehen lassen musste, musste ich obendrein meine sportlichen Aktivitäten stark einschränken.

EK Sie erzählten mir, dass sie im Grunde genommen niemanden hatten, der Ihnen wirklich beigestanden hätte.

vH Mein Vater ist ein Feigling. Für Leute, die stärker oder einfach nur selbstbewusster waren als er, spielte er den Liebenswürdigen. Dazu gehörte z. B. eine meiner Tanten. Allerdings gelangte ich vom Regen in die Traufe, wenn ich zu der flüchtete. Als Gegenleistung für ihren Schutz, musste ich sie masturbieren.

EK Sie befanden sich also in einer ausweglosen Situation.

vH Damals empfand ich den dauernden Psychoterror noch fast schlimmer, als die körperlichen Übergriffe. Mir wurde ständig von meinem Vater eingeredet, ich sei ein Schwächling, ein minderbemitteltes Kind. Sobald ich in sein Gesichtsfeld trat, wurde ich gemaßregelt, grundlos zusammengeschrien, zum Idioten abgestempelt. Nachts nässte ich vor Angst ins Bett. Tagsüber verkroch ich mich und nagte meine Fingernägel bis aufs Blut ab. Ich war hypernervös und eigentlich ständig auf der Hut oder auf der Flucht. Schon auf dem Heimweg von der Schule, versuchte ich, die Stimmung im Haus zu erahnen, wenn unser Haus in Sicht kam. Mehrmals hielt er mir vor, ich hätte ihn an dieses Haus gefesselt, da ich der Heiratsgrund gewesen wäre. Später erklärte er mir mehrmals, ich könne höchstens Fahrkartenknipser bei der Bahn werden, da ich für jeden anderen Beruf zu blöd sei.

EK Was haben Ihre Verwandten dazu gesagt?

vH Nichts. Eine Tante und eine Urgroßmutter haben mich zwar beschützt, ihn zur Rede gestellt hat ihn niemand. Als ich etwas älter war, nahm ich hin und wieder, aber eher selten, meinen ganzen Mut zusammen und sprach über die Zustände in unserem Haus. Niemand wollte mir glauben. „Das bildest du dir alles nur ein“ oder „Du willst dich nur wichtig machen“ waren die Antworten, die ich stets erhielt. Niemand könne sich das vorstellen, was ich erzähle, da mein Vater doch immer hilfsbereit und nett sei.

EK Was haben Sie unternommen?

vH Je älter ich wurde, desto mehr redete ich darüber. Im Alter von vierzehn oder fünfzehn erkannte ich, dass es etliche Kinder in meiner Umgebung gab, die ähnliche Symptome aufwiesen, wie ich. Ich begann, diese Zustände anzuprangern, erhielt aber keine Unterstützung, sondern erfuhr durchweg Ablehnung. Die Täter waren natürlich nicht daran interessiert, dass ihre Machenschaften öffentlich diskutiert wurden. Die Mütter schwiegen oder mauerten. Selbst die Opfer hielten zu den Tätern. Erst viele Jahre später sollte ich erfahren, wie solche Familienkonstellationen funktionieren.

EK Hat sich heute an der Situation der Kinder etwas geändert?

vH Nein. Jedes dritte Mädchen wird sexuell missbraucht, jeder fünfte Junge. 37% der Frauen gaben in einer repräsentativen Umfrage an, mindestens einmal in ihrem Leben irgendeine Fassette der häuslichen Gewalt erlebt zu haben, also sexueller Missbrauch, körperliche Gewalt, Psychoterror, Freiheitsberaubung.

EK Wie kann es sein, dass in unserer heutigen aufgeklärten Welt, so etwas passieren kann.

vH Die meisten Täter haben selbst Opfererfahrung. Das heißt, aggressives Verhalten wird nicht vererbt, aber weitergegeben. Wer nichts anderes als Gewalt erlebt, keine andere Art der Kommunikation kennen gelernt hat, macht weiter. Junge Frauen, selbst Opfer sexuellen Missbrauchs, suchen sich einen Partner, der so tickt, wie ihr Vater. Sie werden selbst verprügelt und schauen gnadenlos zu, wie ihre Kinder misshandelt werden. Besser er schlägt die Kinder, als mich. Besser er schläft mit unserer Tochter, als mit mir.

EK In solchen Fällen müsste doch das Jugendamt eingreifen.

vH Der Staat braucht Geld für Prestigeobjekte. Viele Politiker möchten sich ein Denkmal setzen oder einem befreundeten Bauunternehmer einen lukrativen Auftrag zuschustern. Ob wir nun die Elbphilharmonie in Hamburg als Beispiel nehmen, den Berliner Großflughafen oder den Bahnhof in Stuttgart. Für solche Unternehmungen wird Geld locker gemacht, für Kinder nicht.
Um Geld zu sparen, werden Aufgaben, die eigentlich die Jugendämter direkt wahrnehmen sollten, ausgelagert. Mitarbeiterinnen von Fremdfirmen betreuen gefährdete Familien. Die Berichte, die ans Jugendamt geleitet werden, müssen gut aussehen, da man Angst hat, anderenfalls keinen weiteren Auftrag abzubekommen. Man meldet sich vorher an und schon erlebt man eine heile Familie, die mit der Realität nichts zu tun hat. Kaum ist die Familienhelferin aus dem Haus, wird lustig weiter geprügelt und vergewaltigt.

EK Aber das muss doch auffallen.

vH Tut es auch, aber niemand hat ein Interesse daran, etwas zu ändern. Jedes Kind, das direkt vom Jugendamt betreut wird, kostet Geld. Das Budget darf nicht überschritten werden. Dann lieber ein Kind aus einer halbwegs intakten Familie nehmen und medienwirksam darüber reden, zu zeigen, seht her, wir tun was.

EK Wieso aus einer halbwegs intakten Familie?

vH Weil diese Kinder nicht so gestört sind und dadurch weniger Arbeit machen, als ein völlig verkorkstets Kind. Ein verkorkstes Kind braucht mehr Aufmerksamkeit, mehr Zuwendung. Es ist aufsässiger, macht mehr kaputt, ist nicht so leicht zu handeln.

EK Ist das der Grund, warum man Kinder in Familien lässt, in denen ganz offensichtlich Gewalt ausgeübt wird?

vH Das ist der eine Grund. Der zweite Grund ist nicht einen Deut weniger pervers. Man hat festgestellt, dass Mütter, die Kinder bei sich haben, weniger oft schwanger werden, als Mütter, denen man alle Kinder wegnimmt. Anstatt diesen Frauen, die sichtbar nicht in der Lage sind oder sein wollen, ihre Kinder zu schützen, jedes Neugeborene sofort nach der Geburt wegzunehmen, überlässt man ihnen mit voller Absicht und im Wissen um das Schicksal dieser Kinder, ein oder zwei Kinder. Diese Kinder werden „Opferkinder“ genannt. Man opfert sie, um weitere Geburten zu vermeiden, um weitere Opfer erst gar nicht entstehen zu lassen.

EK Das ist wirklich pervers.

vH Es ist noch gar nicht so lange her, da behandelte ich eine Frau in meiner Praxis, die beim Jugendamt gearbeitet hatte. Sie hatte nach Jahren des Frustes gekündigt. Sie hatte sich aufgerieben zwischen uneinsichtigen und brutalen Eltern einerseits und den strikten Vorgaben von oben andererseits. Sie erzählte, sie hätte am Arbeitsplatz Heulkrämpfe bekommen, weil man ihr vorschrieb, Kinder in Gewaltfamilien zu belassen oder in Gewaltfamilien zurückzuschicken.

EK Wieso schweigen die Medien dazu?

vH Auch in Zeitungs- und TV-Redaktionen sitzen Täter. Wer will schon seine eigenen Untaten in einer Zeitung wiederfinden? Nur „spektakuläre Fälle“ werden veröffentlicht, allerdings nicht, weil es wirklich um die Opfer geht. Es geht um Auflage, um Quote. Man bedient die Sensationsgier. Wenn man die Menge der Opfer berücksichtigt, müsste jeden Tag die halbe Zeitung, die halbe Sendezeit für Gewaltfamilienopfer reserviert werden.
Ein Radiomoderator erklärte mir mal, er könne sich vorstellen, dass es hin und wieder zu gewaltätigen Übergriffen kommen könne, ich allerdings würde die Thematik aufbauschen. Das Thema sei ihm inzwischen zu abgegriffen. Er könne seine Hörer nicht täglich mit immer demselben Thema langweilen.

EK Was haben Sie ihm geantwortet.

vH Ich habe ihm mitgeteilt, dass ich das anders sehe. Immerhin berichtet sein Sender täglich über Fußballspiele und Promiklatsch. Sowohl das eine, als auch das andere interessiert auch nicht jeden Hörer.
Es ist wie im Krankenhaus: oder Altenheim: die Bosse schwimmen im Geld, das Fußvolk, also die Krankenschwestern, rennt sich für einen Hungerlohn die Hacken ab und die Alten und Kranken, um die es eigentlich gehen sollte und die dafür mit ihren Krankenkassenbeiträgen bezahlt haben, bleiben auf der Strecke.

EK Was halten Sie von dem Buch, das jetzt unter dem Titel „Deutschland schlägt seine Kinder“ auf den Markt gekommen ist und für Aufsehen sorgt?

EK Super! Endlich! Ich rede seit gut vierzig Jahren öffentlich über dieses Thema. Kaum eine Zeitung wollte meine Artikel drucken. Ein einziger Sender hat eine Fünfminuten-Dokumentation gebracht, die ich angeschoben habe. Anstatt mich zu unterstützen, wurde ich verleumdet. Die Kirche versuchte sogar, mich durch gezielt veröffentlichte Falschmeldungen mundtot zu machen. Es wird Zeit, dass Opfer, dass wir Opfer endlich Gehör finden.

EK Vielen Dank für das offene Gespräch.

Herr van Herste, selbst Opfer häuslicher Gewalt, hat über hundert Opfern, mit denen er gesprochen hat, eine Stimme verliehen. In seinem Buch „Herstes Liste“ stellt er sie vor. Opfer haben keine Lobby – wie lange noch?

Bürgerreporter:in:

Elisabeth Keller aus Gnarrenburg

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