Flaschenpost aus Übersee - Eine Weihnachtsgeschichte von Margaretha Main

Im März 1943, ich war knapp drei Jahre alt, da spielte ich draußen im Schnee. Omma stand im Wintermantel an der Hausecke und beobachte abwechselnd mich und den Himmel im Norden. Dunkles Grollen erinnerte an ein Gewitter. Auch die roten und gelben Blitze am Horizont ließen auf ein Solches schließen. Allerdings passte das Wetter so gar nicht zu einem Gewitter. Es war auch keines. Es waren die letzten Luftangriffe auf Hannover. Englische und US-Amerikanische Bomber hatten unsere nahe Großstadt immer wieder heimgesucht. Jetzt gaben sie ihr den Rest.
Schon nach wenigen Stunden schwappte wieder einmal eine Gruppe Flüchtlinge in unser kleines Dorf, das jetzt schon aus allen Nähten zu platzen schien. Omma und Mutter ließen ab und zu Fremde in unserem Lager übernachten oder auf dem Dachboden. Sie halfen stets, ließen sich dafür allerdings auch gut bezahlen. Viele zogen wieder davon, wenn der Feuersturm vorüber war. Einige blieben für Tage, Wochen, Monate oder sogar Jahre.

Obwohl ich das Feuer am Horizont schön fand und die vielen neuen Kinder sowieso, musste ich schon damals das Abschiednehmen erlernen. Denn kaum hatte ich eine Spielkameradin gefunden, war sie auch schon wieder weg. An die meisten Kinder erinnere ich mich gar nicht mehr. Viele Gesichter kamen und gingen und ich hatte selten Zeit, mich wirklich anzufreunden.

Eine allerdings hatte ich sehr in mein kleines Herz geschlossen. Dorothea war mit Mutter, Großeltern und einer Tante aus Hamburg geflüchtet und nun bei uns in der Nachbarschaft einquartiert. Mit Dorothea spielte ich am liebsten. Sie war vielleicht ein Jahr älter als ich und besaß eine wunderhübsche Holzpuppe mit aufgemalten Augen, Augenbrauen und einem roten Kussmund. Ihre Großmutter hatte die Puppe edel eingekleidet und so wurde nicht nur Dorothea mein Liebling, sondern auch ihre Puppe Agathe.

Dorothea wurde ein Jahr vor mir eingeschult und ich war traurig darüber, da sie nun vormittags nicht mehr zuhause war, um mit mir zu spielen. Auch Dorothea war traurig und überließ mir immer morgens, bevor sie zur Schule ging, Agathe, um während ihrer Abwesenheit auf sie aufzupassen. Es konnte ja niemand wissen, was Puppen so alles passieren konnte, wenn sie allein gelassen wurden.

Obendrein schmerzte es mich, dass Dorothea nun andere Mädchen kennen lernte und ab und zu mit ihnen Schularbeiten machte. Da stand ich dann öfter mal dabei, hatte aber ja keine Ahnung von eins und eins und abcd. Aber meistens spielte sie dann doch mit mir, da Flüchtlingsmädchen bei den alten Bauern nicht so gut angesehen waren. Auch Omma erklärte mir mal, dass es nicht so gut sei, immer mit Dorothea zu spielen, aber das ließ mich ziemlich kalt. Ich liebte Dorothea und Agathe und ließ mir das nicht kaputtmachen.

In den Ferien wurde ich stets zur Mutter meines Vaters an den Rand des Harzes verschickt. Einmal schaffte ich es sogar, Omma und Mutter so lange zu nerven, bis sie mir erlaubten, Dorothea mitzunehmen. Im Laufe der Jahre war ich viele Male dort gewesen und hatte einige Freundinnen gefunden, mit denen ich bei gutem Wetter per Fahrrad das Gebirge erkundete. Dorothea war sofort dabei und wir verlebten einen wunderschönen Sommer zwischen hohen Tannen, steilen Bergen, säuselnden oder rauschenden Bächen und kleinen Seen, in denen wir herumplanschten.

Eines Tages, es muss so Mitte der 1950er Jahre gewesen sein, da stand ich vor einer leeren Kellerwohnung. Dorothea und ihr Anhang waren verschwunden. Ich rannte ums Haus um die Vermieterin zu fragen.
„Ach Kind! Die sind heute Morgen nach Westfalen verzogen. Das musste alles ganz schnell gehen. Dorotheas Vater ist aus dem Krieg heimgekehrt und hat dort Arbeit als Bergmann gefunden. Wusstest du das denn gar nicht?“
Nein, das hatte ich nicht gewusst. Mir nichts, dir nichts war Dorothea aus meinem Leben gerissen worden, und dass, obwohl sie mir ewige Treue geschworen hatte. Ich war wie erschlagen und konnte es nicht glauben. Ich rannte noch einmal ums Haus, aber die Wohnung blieb leer. Es dauerte Wochen bis ich über diesen Schrecken hinweggefunden hatte und es sollte Jahre dauern bis sie nicht mehr dauernd in meinen Gedanken herumschwirrte. Nach und nach war sie verblasst und hatte nur eine kleine Spur schöner Erinnerungen hinterlassen.

Im Mai 2002 erhielt ich zu meinem Geburtstag per Post ein Paket ohne Absender. Da ich viele Gäste um mich herum hatte, legte ich das Päckchen erst einmal zur Seite. Am nächsten Tag hatte ich Zeit und wickelte all die Geschenke aus. Dabei fiel mir auch das Paket wieder in die Hände. Ich öffnete es vorsichtig und staunte nicht schlecht, als ich eine leere Flasche, die in einer speziellen Halterung vor der Zerstörung bewahrt worden war, in den Händen hielt. Bei genauer Betrachtung stellte sich heraus, dass die Flasche gar nicht wirklich leer war. Ein kleiner weißer Zettel befand sich darin und es dauerte eine ganze Weile, bis ich den da herausgezirkelt hatte.
„Liebe Retha!
Ich habe dich vor vielen Jahren einfach verlassen und mich nie mehr gemeldet. Es hat mich sehr geschmerzt und ich habe bestimmt genauso darunter gelitten wie du. Nun endlich habe ich mein schlechtes Gewissen besiegt und schicke dir dieses Lebenszeichen.
Wir sind in das völlig zerstörte Dortmund gezogen, weil mein Vater dort als Bergmann Arbeit gefunden hatte. Er konnte allerdings aufgrund seiner Kriegsverletzung nicht lange arbeiten und so sind wir dann nach Amerika ausgewandert. Da wohnte eine Tante meiner Mutter, die uns mehr recht als schlecht gern aufgenommen hat.
Auch in den USA war das Leben kein Zuckerschlecken und wir haben manchen Tag nur wenig zu essen gehabt. Allerdings hat meine Mutter dafür gesorgt, dass ich einen guten Schulabschluss machen konnte. Heute stehe ich kurz vor der Rente und möchte dich noch einmal wiedersehen. Da ich nach wie vor beruflich sehr eingespannt bin, kann das noch ein paar Wochen dauern, aber nun kommt es ja auf einen Tag auch nicht mehr an.
An die Tage mit dir habe ich mich immer gern erinnert. Weißt du noch? Hannover voller Trümmer, die Berge des Harzes, Max, dein erster Möchtegernliebhaber oder die Gartenkarre, die in den Himmel geflogen ist?
Deine Dorothea“

Ich war sprachlos, wie vom Donner gerührt. Mit Allem hatte ich gerechnet, aber nicht mit einer Nachricht von Dorothea. Sie hatte ihre Telefonnummer aufgeschrieben und so rief ich sie sofort an. Leider war sie nicht im Büro und so hinterließ ich wiederum meine Nummer. Erst am darauffolgenden Wochenende meldete sie sich und wir quatschten zwei geschlagene Stunden lang.

Immer wieder musste ihre Reise verschoben werden, weil entweder ihr oder mir etwas dazwischen kam. Ich hatte sie schließlich zur Buchmesse Frankfurt eingeladen, aber auch da musste sie dann kurzfristig absagen. Die Monate vergingen und schon stand Weihnachten vor der Tür. Am Heiligen Abend, wir saßen mit unseren Freunden in unserem Partyraum und packten nach dem Essen die Geschenke aus, wurde plötzlich die Tür von außen geöffnet und eine fremde Frau betrat den Raum.
Alle schauten diese Dame erstaunt an, da niemand sie zu kennen schien. Diese Frau stapfte zielstrebig auf mich zu, riss mich buchstäblich von meinem Stuhl und umarmte mich herzlich. Ich wusste im ersten Moment nicht, wie mir geschah, drückte aber einfach zurück.

„Frohe Weihnachten, liebe Retha! Ich bin´s, Dorothea aus dem fernen Amerika!“
Es dauerte eine kleine Weile, bis ich begriff, aber dann überrollte mich große Freude. Ich hätte diese Frau niemals wiedererkannt. Na ja, es waren schließlich auch ein paar Jahrzehnte vergangen. Sie war in dieser Richtung klar im Vorteil, da sie mich durch etliche Veröffentlichungen aus dem Internet kannte. Obendrein hatte sie alle meine Bücher gelesen, was mich natürlich sehr freute, da auch sie hin und wieder darin vorkommt.

Die Wiedersehensfreude war riesig. Wir hatten uns unendlich viel zu erzählen und taten das auch. Erst im Neuen Jahr reiste sie wieder ab und wenn wir uns auch nicht oft sehen, telefonieren tun wir immer mal wieder miteinander.
Na, liebe Freundinnen und Freunde, ist das nicht ein schöne Weihnachtsgeschichte?

Margaretha Main

Wenn Sie noch mehr über Rethas Tücken des Alltags lesen möchten, sei Ihnen das „Große Margaretha-Main-Buch“ empfohlen. Damit sind lustige Festtage vorprogrammiert.

Margaretha Main
Das Große Margaretha-Main-Buch Teil 1
ISBN: 9783839141519 564 Seiten 49,90 Euro
Das Große Margaretha-Main-Buch Teil 2
ISBN: 9783839118177 412 Seiten 39,90 Euro

Beide Bücher sind als wertvolle Geschenkbände mit festem Umschlag ausgelegt und enthalten alle bisher erschienen und zum Teil mit Buchpreisen ausgezeichneten Bücher. Erhältlich in jeder Buchhandlung oder im Internetshop. Infos finden Sie unter www.margartha-main.de

Bürgerreporter:in:

Elisabeth Keller aus Gnarrenburg

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