Frühlingsgefühle unter 5 Grad

Ist es Ihnen lieber, dass es fast noch zu kalt zum Joggen ist? Sind für Sie die Laufschuhe nur ein Auslöser schlechten Gewissens? Beim Umzug immer mitgeschleppt; eins, das jedes Ausmisten im Kleiderschrank überlebt, tatsächlich aber nur zweimal im Jahr zum Einsatz kommt? Einmal, um den Kollegen beim Stadtmarathon vom Rand aus zuzuwinken, und einmal vorm Spiegel, um eine Kombination der 80er aus Leggings und Turnschuhen auch dieses Jahr wieder von der Anzieh-Liste zu streichen?
Natürlich läuft man auch, um überhaupt erst Leggings tragen zu können. Man darf sich alle Optionen offenhalten. Wer gehört schon zu den dünnen Mädchen, die den Sonntag zum heiligen Tag des Brötchens erklären und ansonsten Kohlenhydrate eisern meiden? Wie kann man nur ohne Pasta, Knoblauchbrot, Maiskolben mit Butter, Backkartoffeln mit Sour Cream und Chips mit Gummibärchen?
Ich verstehe das nicht.
Denn wenn draußen Licht lockt, erkranke ich sowieso an hibbeliger Unruhe. Je wärmer die Strahlen, je länger die Tage, desto größer auch die Umtriebigkeit bei Aktiv-Atmern. Am Rande des guten Geschmacks bewegt sich, wer jetzt nicht sein Fitnessstudio-Abonnement kündigt. Sondern weiterhin Blicke wie Saugnäpfe erträgt, und lieber im zweiten Stock gegen eine Glaswand rennt. Zwischen Stein und Beton.

Im Park empfängt Natur, oder was vom Walde übrig bleib, recht entzückend. Man kann aus erster Reihe mitzuverfolgen, dass wir auf Wetters Schneide stehen. Wobei auffällt, dass auf Winter gar nicht Frühling folgt, sondern der Herbst sich vehement dazwischen drängt. Beharrlich versucht er, einmal noch vor Oktober Melancholie zu versprühen. Dringt die Sonne nur matt durch graue Suppe am Himmel, und steigt das Thermometer wenige Striche nur über Null, ist die Luft sogleich mit Feuchtigkeit durchtränkt. Die aufgeweichte Wiese leuchtet noch lange nicht im satten Grün, sondern ist grauslig verdreckt vom braunen Laub.
Doch nicht im goldenen Schein und gerade erst vom Ast hinab gesegelt, nein: ausgelatscht und in End-Jahresstimmung rottet die sterbende Masse vor sich hin. Als könnten sich Bäume für Hässlichkeit schämen, strecken sie ihre knochigen Äste weit von sich. Würden nicht zurzeit die prallen Knospen, kurz vorm Aufplatzen, ihre drallste Form annehmen - ich könnte nicht glauben, dass der Frühling kommt.

Also raus aus den ewigen Schatten der Häuserfassaden, zwischen denen nur ein mickriger Ausschnitt vom Himmel klemmt. Weg von der Aufgabenliste, vom Chat, genauso von Nachrichten der Menschheit mit tragender Bedeutung, außerdem sich stapelnden Formularen und klingelnden, oder eben gerade nicht klingelnden, Telefonen. Wer joggt, läuft mit gutem Gewissen einfach davon. Endlich mit Rundumblick im Park, der hoffentlich kein bekanntes Gesicht entdeckt. Bloß nicht rot gefleckt und laut schnaufend jemandem begegnen, am schlimmsten noch einem Küsschen rechts/Küsschen links-Begrüßer. Schweiß sollte sich nicht mischen. Nicht beim Sport.
Abseits der Straße muss ich niemandem Rechenschaft zollen, dass ich gerne langsam bin: der Igel sieht mehr vom Weg als der Hase. So bleibt Zeit, ein erschöpftes Lächeln mit anderen am Berg, auch Steigung genannt, auszutauschen. Wäre ich schneller, könnte ich auch nicht die Laufpärchen bewundern, die sich gegenseitig zum Sprint anfeuern. Und froh sein, niemals eine solche Beziehung geführt zu haben. Auch schön: aufs Äußerte angespannte Oberarme von Klimmzüglern im Trimm-Dich-Garten. Hier gilt das vier-Augen-Prinzip, denn der Pumper blickt auch selbst, gar verliebt auf seine Muskeln; als wüchsen sie augenscheinlich. Niemals betrete ich gar selbst einen dieser Spielgärten. Schließlich laufe ich doch schon, oder joggele, wie es meine Großmutter mit achtzig noch tat. Das muss ausreichen. 
Nur manchmal schnappe ich über, ziehe die Knie hoch wie ein Fußballer, gleich danach die Fersen zum Po, Wechselschritt in Seitenlage. Fünfzig Meter lang! Dann brennt die Lunge. Oder wähle statt der sicheren Route  - bei jeder Gabelung immer rechts und auf sicherer Entfernung zum Ausgang - das Wagnis, den ganzen Park kennenzulernen, und mehr. Die Treppe links hinter den Büschen reizt mich. Oh wie hübsch, sie führt über eine sechsspurige Autobahn. Reizend, ein Tümpel im Vorgarten einer Plattenbausiedlung. Trotzdem weiter, es muss noch einen anderen Weg zurück geben. Wer umkehrt, hat verloren.

Noch eine Brücke! Mittlerweile gibt es keine andere Jogger mehr um mich rum. Da verweilt vielmehr ein alter Mann auf der Mitte der Autobahnbrücke und zählt Autos. Und einen anderen gibt es noch: einen im Jogger aber ohne Laufschuhe, dafür mit struppigem und knurrendem Hund. Ich wollte sowieso nicht stehen bleiben und jetzt meine Dehnübungen machen. Das bisschen Schmerz im Rücken und im vorderen Schienbein macht mir gar nichts; ich kann sogar noch schneller.
So komme ich auf eine Insel zwischen den Autobahnen, auf der sich sorgsam gestaltete Gärtchen aneinander reihen. Die Vogelkästchen sind gut besucht, gepflügt auch die Mini-Äcker und damit für die Saat bereit sind. Hier, bei an- und abschwellendem Rauschen des Verkehrs, kann ich meinen Oberkörper nach vorne fallen lassen und, mit einem Abstand von zehn Zentimetern zu meinen Schuhspitzen, die Arme hinab strecken und pusten.
Als ich gerade mit einer Hand am Zaun, den Oberschenkel dehned, lehne, öffnet sich die Tür des Häuschens. Ein braver Mann, der Dackelzüchter sein muss, kommt mit einer Leiter unter dem Arm heraus. Er legt sie ans Dach und inspiziert die morschen Stellen. Was er denn hier anbaue, frage ich ihn. Triticale, sagt der Fachmann. Ich, das ewige Landkind, nicke wissend: eine Mischung aus Weizen und Roggen also, sehr widerstandsfähig. Da komme dann aber nicht viel bei rum, sage ich und habe die hunderte Hektar großen Schläge in Mecklenburg im Kopf. Genauso wie die niemals abreißenden Klagen der Landwirte. Er schaut mich lächelnd an und erklärt: Mehl kaufe er im Laden, das Getreide sei mehr so fürs Auge.
Da kann ich sein Treiben plötzlich gut verstehen.

Bürgerreporter:in:

Rene Nieschka aus Garbsen

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