Zeitgeschichte
Großmutters Geburtstag

11Bilder

Es ist ein heißer Julitag und in meinem Zimmer schwebt ein süßer Nelkenduft, so wie damals , wenn Großmutter Geburtstag hatte:

Schon am frühen Morgen duftete es im ganzen Haus nach frisch gebackenem Kuchen und nach Nelken.
Großmutter bekam zu ihrem Geburtstag immer Nelken geschenkt und es war in jedem Jahr ein heißer Julitag.
Großmutter hatte zur Feier des Tages eine bestickte Schürze umgebunden und an ihrem Hals funkelte eine zierliche Goldkette.
Wenn Großmutter so aussah, dann war wirklich ein Feiertag.
Am Nachmittag kamen die Damen vom Kränzchen, die ich artig mit einem tiefen Knicks begrüßte.
Alle bewunderten meine dicken Zöpfe und fanden, dass ich tüchtig gewachsen sei.
Das Vertiko füllte sich mit kleinen Geschenken:
Spitzentaschentücher, Seifenstücke, Kästchen mit Pralinen, Fläschchen mit Parfüm und Nelken.
Die Gäste saßen um den großen runden Tisch, der fast das Zimmer ausfüllte und in der Mitte stand der Kuchen mit den dicken Butterstreuseln.
Es duftete nach Kaffee, leise klapperten die silbernen Löffelchen und ich trank Kakao aus meiner Lieblingstasse, die mit dem Rosenmuster.
Nach der Kaffeetafel machte es sich die Gesellschaft in der Fensterecke bequem. Alle hatten ihre Handarbeiten mitgebracht, häkelten, stickten und berichteten nebenbei von kaputten Knien und anderen defekten Gelenken.
Großmutter mochte solche Gespräche gar nicht und meinte nur: „Heute erzählen wir mal nichts über Krankheiten“ und so wechselte man zu einem anderen Thema: Das Reden über Leute die nicht da waren.
Dagegen hatten alle nichts und die Münder öffneten und schlossen sich sofort ganz schnell, und die Hände bewegten sich im Takt, und die Ringe an den Fingern glitzerten und spiegelten sich in den Brillengläsern, und mir wurde schon ganz schwindlig von all dem Gefunkel und Gerede.
Vielleicht kam das auch von dem süßen Duft der sich allmählich im Zimmer ausbreitete, von diesem Kölnisch Wasser.
Großmutter tupfte sich ständig von dieser Flüssigkeit etwas hinter das Ohr und die Damen tränkten ihrer Taschentücher damit und wischten sich stöhnend den Schweiß von der Stirn. Es war ein heißer Julinachmittag.
Ich lag auf Großmutter Chaiselongue zwischen all den Samtkissen, döste, träumte und fühlte mich geborgen.
Die Damen redeten und lachten, die Spitzen an den Taschentüchern wurden breiter, Großmutter schenkte Likör ein und war plötzlich der Ansicht, dass nicht alles für meine Ohren bestimmt sei.
Das bedeutet, sie wollte mit den Damen allein sein.
Enttäuscht verzog ich mich und überlegte noch lange, welches Geheimnis Großmutter mit den anderen teilte. Ich habe es nie erfahren.
Am Abend versammelten wir uns alle wieder um den großen Tisch. Mama und Papa waren dazu gekommen. Es gab Eibrote und Kartoffelsalat und die dicken Bockwürste von Fleischer Schulz, die ich gar nicht mochte, weil immer das Fett herausspritzte, wenn man hineinbiss. Papa mochte das und tauchte, bevor er genüsslich von der Wurst abbiss, sie vorher tief in das Senfglas.
Aus der großen weißen Kanne, die mit dem schmalen Goldrand, schenkte Großmutter Schwarztee ein, den ich immer mit Sahne bekam und Papa mit einem Schuss Rum, später wollte Papa den Rum ohne Tee und Großmutter hob lachend den Zeigefinder.
Als die Wanduhr 9x schlug machten sich die Gäste auf den Heimweg, alle hatten gerötete Gesichter, glänzende Augen und scherzten mit Papa, der die fröhliche Runde bis zur Haustür begleitete.
Für eine Weile hörte man noch ihre Stimmen, die so nach und nach in den Gassen verhallten.
Großmutter hatte die Fenster weit geöffnet und ließ den Abend in das Zimmer. Der kühle Nachtwind zog durch alle Räume, ganz aus der Ferne hörte ich Großmutter mit dem Geschirr klappern und der Duft der Nelken begleitet mich bis in den Schlaf.

Bürgerreporter:in:

Silke Dokter aus Erfurt

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

53 folgen diesem Profil

19 Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.