Nachruf auf einen Schneemann

Mein Freund der Schneemann

Lange habe ich überlegt, ob ich diese Zeilen schreiben soll.
Aber nach einigen Jahrzehnten hat er es vielleicht doch verdient.
Ich weiß es noch genau als wäre es erst gestern gewesen, wie ich damals als kleiner Junge an einem Dezembernachmittag durch unseren schneebedeckten Vorgarten schritt, mit dem festen Vorhaben einen Schneemann zu bauen.

Er sollte größer, schöner und von der Aura des Unbesiegbaren umgeben sein. Vor allem die Nachbarskinder sollten vor Neid erblassen. Nie war meine Motivation stärker hier etwas Großartiges zu erschaffen als an diesem Tag.

Nun war ein Winter in der damaligen Zeit wirklich ein Winter, das heißt, es war immer eine ausreichende Menge an Schnee vorhanden. Daran sollte es also nicht scheitern.

Also ging ich daran Kugeln zu rollen, und zwar mächtige Kugeln. Bei der riesigen Menge an Schnee waren nur wenige Meter nötig um einen Schneemann in Yeti-Größe zu erschaffen. Nun stand er vor mir, nackt und surreal wie ihn nur ein kleiner Junge erschaffen kann.

Jetzt ging es nur noch darum, die einzelnen Elemente wie Mütze, Stock und Mohrrübe anzubringen, und fertig war er, mein ganz persönlicher Freund.
Von da an mussten meine Freunde mich ständig in unserem Garten aufsuchen, und auch Tante Erna bekam, wenn sie uns besuchte, eine Privataudienz bei meinem Schneemann.

Voller Stolz blickte ich ihn durch unsere teilweise gefrorene Fensterscheibe an, bis er in der Dunkelheit entschwand.
Am frühen Morgen war ich der Erste, der ihn begrüßte.
Und so zogen die Wochen ins Land, (ja, die Winter waren damals teilweise wirklich lang und hart), bis eines Morgens mein Schrei das ganze Haus in Aufruhr versetzte.

Ungläubig schaute ich durch das Fenster in unseren Vorgarten. Dort wo gestern noch mein großer Schneemann gestanden hatte, war nur noch ein Häuflein Elend zu erblicken.

Was war passiert? Was war geschehen? Wer hatte ihn gestohlen? Oder hatte er sich selber davon gemacht? Aber warum? Er hatte es bei mir doch so gut gehabt.

Meine Mutter erzählte mir etwas von Tauwetter und Frühling, doch für mich war es trotzdem nicht nachvollziehbar, dass er mich verlassen hatte.
Hatte ich ihn nicht gehegt und gepflegt und meine kostbare Kinderzeit geopfert, um dann auf perfide Art und Weise von ihm hintergangen zu werden?

Wie kann man sich so einfach in einer Nacht- und Nebelaktion davon machen?
Leise perlte eine Träne an meiner Wange herunter, um dann nach einem lautlosen Fall in den Schneerest einzutauchen.

Noch Jahre danach schaute ich aus unserem Fenster, um zu schauen, ob er wieder zurückkehren würde.
Bis heute aber vergeblich.

Und all‘ die Schneemänner – Generationen die danach entstanden waren nicht vergleichbar mit dem von mir erschaffenen und ganz persönlichen, doch leider vergänglichen Schneemann aus meiner Kindheit.

Bürgerreporter:in:

Georg Schmidt aus Diemelstadt

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