"Trotz der Behinderung", "An den Rollstuhl gefesselt",

"Trotz der Behinderung", "An den Rollstuhl gefesselt", lesen die auch, was sie da schreiben?

Kolumne vom 19.08.2012

Gelegentlich frage ich mich wirklich, womit manche meiner schreibenden Kollegen denken. Immer wieder tauchen diese Formulierungen in den Medien auf. Sie sollen das Besondere bestimmter Menschen hervorheben. Sie sollen dramatisieren. "An den Rollstuhl gefesselt" verschwindet zum Glück so ganz langsam.
Das diese und andere Sätze bei uns Behinderten häufig das Gegenteil erreichen, so viel Fantasie haben die Autoren dieser fantasievollen Bezeichnungen leider nicht.

von Robert Schneider einem selbst Betroffenen des MMB e.V.

Wieso regt der sich denn so künstlich auf? Das sind doch bloß Worte?
Stimmt.
Bloß Worte.
Worte, die stärkste, brutalste Waffe, die je erfunden wurde. Denn auch Worte wurden erfunden.
"Nur Worte" können trösten, Kriege auslösen oder junge Musiker Jahre ihres Lebens in Freiheit kosten.
Worte können unser Leben von Grund auf ändern. "Schatz, ich bin schwanger", "Die besondere Schwere der Tat wird festgestellt", "Ihre Beine konnten wir nicht mehr retten".
Worte, einfach nur Worte. Für die, die sie hören, können sie ein Schicksal bedeuten.

"Call me Ishmael" die am häufigsten gequälte Eröffnung eines Buches. Generationen von Menschen haben schon versucht, mit dem ersten Satz von Melvilles Moby Dick eine gewisse Belesenheit zu dokumentieren. Belesene Menschen sind intelligent. Intelligente Menschen sind erfolgreich. Erfolgreiche Menschen haben es leichter bei der ihrer sexuellen Orientierung entsprechenden Zielgruppe.

"An den Rollstuhl gefesselt" hat vor einiger Zeit eine Diskussion ausgelöst, die eine Hand voll Journalisten dazu brachte, die Inhalte ihrer schnellen Sprach-Baukästen zu überdenken.
Ich benutze einen Rollstuhl, bin auf ihn angewiesen. Wenn ich meinen Rollstuhl mal verlassen muss und er rollt aus meiner Reichweite, dann bin ich gefesselt, nämlich genau an die Position, in der ich jetzt gerade bin.
Ohne Rollstuhl komme ich hier nicht mehr weg. Mit dem Rollstuhl bin ich mobil, also genau das Gegenteil von gefesselt. Ein paar scheinen das inzwischen verstanden zu haben.

"Trotz ihrer Behinderung hat sie ihr Ziel erreicht", das bringt mich übergangslos auf die Palme. Eine paralympische Athletin hat sich trotz ihrer Behinderung qualifiziert.
Hallo? Ohne Behinderung wäre sie in der Disziplin gar nicht erst angetreten. Sie wäre noch nicht einmal auf die Idee dazu gekommen.

Vielleicht liegt es daran, dass ich den größten Teil meines Lebens nur eine leichte Gehbehinderung hatte, die mich aber kaum beeinträchtigte.
Dann plötzlich saß ich im Rollstuhl und musste mein Leben komplett neu definieren. Dabei verschieben sich zwangsläufig die Prioritäten, ohne dass ich mich besonders dazu anstrengen muss. Dinge, die für nicht Behinderte ganz alltäglich sind, kosten uns viel Kraft und Zeit. Wenn ein Läufer neben Familie und Beruf noch in zwei Sportvereinen ist, in einem Sport vielleicht sogar mit einigem Erfolg, dann ist das alltäglich, das packt es noch nicht einmal bis in die Redaktionskonferenz. Ein Mensch mit einer Behinderung, der seine verbliebenen Körperfunktionen trainiert, damit sie nicht zu verkümmern ist eine potenzielle Aufmerksamkeitsquelle. Wenn er dann noch in irgendetwas besser ist, als die anderen, dann ist er ein Garant für die Sauregurkenzeit. Die Konkurrrenz schreibt über besonders große Tomaten, oder eine Katze, die von der Feuerwehr aus einem Baum gerettet wurde - mit Fotos! Wir haben einen Spitzensportler, der schon Medaillen gewonnen hat. Na gut, eigentlich ist es Breitensport, da bekommt jeder, der das Ziel überhaupt erreicht, eine Medaille. Das ist schon richtig, aber dieser Mensch ist behindert und trotz dieser Behinderung ist er nicht nur im Sport aktiv, sondern sogar noch erfolgreich. Das macht sich bei Handbikern oder dem spektakulären Murderball besonders gut. Vielleicht leuchtet es dem einen oder anderen so langsam ein. Na klar sind die Leute erfolgreich in ihrem Sport.

"Trotz ihrer zum Teil schweren Behinderungen sind die Karlsruhe Rebels international erfolgreich." Der Kollege hat das entweder nach 48 durchgeschriebenen Stunden verfasst oder er sollte sich dringend einem Drogentest unterziehen.

"Trotz seiner Behinderung hat er begonnen, zu schreiben und inzwischen mehrere Bücher veröffentlicht". Ich lach mich tot! Irgendwie muss ich die Lebenszeit, die sonst geplant in diversen Wartezimmern, Wartezonen, etc. vernichtet würde, ja nutzen.
Manche lesen uralte Zeitungen, andere bohren in der Nase oder zählen die Knubbels auf der Rauhfasertapete, ich habe meinen Taschencomputer dabei und schreibe auf, was mir so passiert. Ohne die Behinderung, wer weiß, ob ich überhaupt wieder angefangen hätte, zu schreiben.

"Trotz ihrer Behinderung findet sie noch die Zeit, sich um Menschen zu kümmern, denen es noch schlechter geht". Ganz toll! Ohne die vertrackte Behinderung hätte sie einen Beruf, der einen großen Teil ihres Lebens in Anspruch nimmt. Bevor sie versucht, ihr Küchenfenster durch permanentes Hindurchstarren zur Auflösung zu bringen, macht sie lieber etwas, das ihrem Leben wieder Sinn gibt. "... Menschen ..., denen es noch schlechter geht". Woher glaubt der Verfasser eines solchen Unsinns eigentlich zu wissen, der Person, von der er schreibt, würde es schlecht gehen? Aber das muss es, denn sonst könnte es anderen nicht schlechter gehen, oder? Außerdem geht es Menschen mit Behinderungen immer schlecht, so!

"Trotz seiner Behinderung drang er in die Redaktion ein und verprügelte unser Redaktionsmitglied mit seinem eigenen Notebook".
Lange dauert es nicht mehr. Immer öfter ist mir danach. Quote auf Kosten der journalistischen Sorgfalt? Na warte, Kollege! Ich mag vielleicht gelähmt sein und deswegen einen Rollstuhl brauchen.
Aber ich habe immer noch genug Kraft, um denen, die einfach gedankenlos angeblich bewährte Formulierungen aus dem Baukasten ziehen, ihr teures Powerbook links und rechts um die Ohren zu hauen. Alles und jedes wird ständig hinterfragt, nur unsere eigenen Phrasensammlungen sind mit Hammer und Meißel in Stein gehauen. Bitte?

"Trotz ihrer journalistischen Ausbildung hörte sie nicht auf, zumindest gelegentlich zu denken", was würdet ihr von so einer Formulierung halten? Ihr würdet alles rechtlich Mögliche aufbieten, um dafür zu sorgen, dass der Verfasser so eines Textes diesen nie wieder vergisst. Jede verfügbare Zeile würdet ihr nutzen, um so jemanden zum Schweigen zu bringen, fertig zu machen. Meinungsfreiheit, Pressefreiheit - so lange, bis jemand aus der schreibenden Zunft angegriffen wird. Das lässt sich höchstens noch mit Polizistenmord vergleichen. Ist da nicht mal jemand von ganz oben einen Chefredakteur am Telefon
hart angegangen? Da ist es egal, für welches Blatt der Kollege arbeitet, da wird zusammen gehalten. Dem hat man gezeigt, was der Begriff "Macht des Wortes" bedeutet.

Und was ist mit den Behinderten? Denen, die keine Ghostwriter und Ego-Berater haben?

Ihr habt bei eurer Geburt ein funktionierendes Gehirn mitbekommen, liebe schreibenden Kollegen. Das muss nicht geschont werden, das geht bei häufiger Benutztung auch nicht kaputt, im Gegenteil.
Also bitte benutzt es auch, damit wir solche irreführenden Formulierungen nicht mehr lesen müssen und ich meine Blutdrucksenker absetzen kann.

"Ich brauch' noch 500 Zeichen zum Thema Behindertensport". Ähnliche Sätze haben wir alle schon gehört. Selbst so eine reine Zeichenproduktion dürfen wir nicht mit so einem einen gedankenlosen Dahingeschreibsel versauen.
Ich mag nur ein kleiner Kolumnenschreiber sein und das auch noch ehrenamtlich. Trotzdem bin ich der Auffassung, dass wir uns so viel Sorgfalt Wert sein müssen. Glücklicherweise sind es nur ein paar Kollegen, die die schreibende Zunft durch ihre Unprofessionalität so beschädigen.

Wer immer so eine Nichtphrase liest, fragt doch bitte den Verfasser oder die Verfasserin, warum genau diese Formulierung gewählt wurde. Vielleicht können wir sie ja noch retten, bevor ihr Gehirn aus lauter Protest seine Tätigkeit ganz einstellt.

Bürgerreporter:in:

Klaus-Dieter Dingel aus Bad Wildungen

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