vermeintlich politisch korrekte Bezeichnungen wichtiger als soziale Versorgung

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Verein zur Unterstützung behinderter Menschen
zum Erreichen und Erhalt der individuellen Mobilität

vermeintlich politisch korrekte Bezeichnungen wichtiger als soziale Versorgung

Kolumne vom 03.04.2013

Seit 1. April ist es amtlich: Rollstuhlfahrer heißen jetzt geschlechtsneutral "Fahrende im Rollstuhl", so wie Verkehrsteilnehmer jetzt als "Am Verkehr Teilnehmende" bezeichnet werden.
Dafür hat unsere Legistlative Zeit und Ressourcen übrig. Ob bei dieser Entscheidung auch nur eine Fahrende im Rollstuhl oder ein Fahrender im Rollstuhl beteiligt war? Hoppla, das ist ja gar nicht geschlechtsneutral.
Was aber ist mit den klaffenden Lücken in unserem sozialen Netz? Die gibt es nicht? Ein geradezu gigantisches Loch ist bei der ganzen Diskussion über politisch korrekte Formulierungen übersehen worden.

von Robert Schneider

Ein versicherungspflichtig beschäftigter Arbeitnehmer, der innerhalb von drei Jahren 78 Wochen Arbeitsunfähigkeit sammelt, verliert den Anspruch auf Krankengeld. Im SGB V ist definiert, dass es unerheblich ist, ob es sich um Gehaltsfortzahlung durch den Arbeitgeber, Krankengeld oder Überbrückungsgeld in Rahmen einer Reha-Massnahme handelt.
Nach 78 Wochen ist Schluss. Und die sind ziemlich schnell erreicht.

Viele von uns waren schon einige Monate in diversen Kliniken. All die, die berentet wurden oder bereits in der sozialen Absicherung sind, die merken keinen Unterschied. Aber die, die noch in Arbeit und 'einfach bloß' lange krank sind, die fallen durch das soziale Netz.

Denn wer springt jetzt ein?
Der Arbeitgeber? Der ist nach sechs Wochen Gehaltsfortzahlung draußen.
Die Sozialbehörden? Die verweisen auf die Arbeitsagenturen. Hartz IV gibt es erst, wenn kein Anspruch (mehr) auf Arbeitslosengeld besteht.
Ah - Arbeitslosengeld, also muss die Arbeitsagentur einspringen. Das tut sie auch, sobald der Arbeitnehmer zum Arbeitslosen wird.
Das ist er aber nicht, sondern ist schlicht für längere Zeit krank.

Aber das Problem lässt sich ja leicht lösen. Mit den entsprechenden Medikamenten lassen sich bestimmt ein paar Tage überbrücken, um sich dann mit einer neuen Krankmeldung richtig auszukurieren. Von wegen, denn da hat der Gesetzgeber vorgesorgt.

Einen neuen Anspruch auf Krankengeld erwirbt man sich erst nach 6 Monaten und einem Tag ununterbrochener sozialversicherungspflichtiger Tätigkeit. Steht auch im Sozialgesetzbuch.

Die Kostenträger haben sich für diesen Fall eine Krücke gebastelt. Der Arbeitnehmer meldet sich pro forma arbeitslos. Er wird dann als beschäftigungslos mit Arbeitsvertrag eingestuft und hat Anspruch auf das übliche Arbeitslosengeld.

Dazu muss er allerding persönlich bei der Arbeitsagentur vorstellig werden. Hat er das große Glück, auf einen Sachbearbeiter zu stoßen, der von dieser verwaltungstechnischen Krücke weiß, dann bekommt er eventuell nach einer angemessenen Zeit auch Arbeitslosengeld.

Wehe aber, der Unglückliche liegt in einer Klinik. Bisher hat noch niemand ausprobiert, sich als Liegend-Transport von einem Krankenwagen zur Arbeitsgentur karren zu lassen und dann, quasi von der Trage aus, die Arbeitslosmeldung abzugeben. Mit der entsprechenden Begleitung, vielleicht durch die überregionale Presse, wär mal 'ne Idee ...

Aber normalerweise kann man für solche Fälle jemanden bevollmächtigen. Steht jedenfalls so im Gesetz. Normalerweise schon, aber was wird geschehen? Die bevollmächtigte Person wird von Pontius zu Pilatus geschickt, weil die Majorität der Sachbearbeiter mit dem Problem überfordert ist. Richtig Spaß macht es, wenn im Zuge der Dezentralisierung die Leistungsabteilung, die Verwaltung und die Beratung in unterschiedlichen Gebäuden sind. Auf dem Land stehen diese Gebäude gerne in unterschiedlichen Orten. Da kommen schnell einmal die einen oder anderen hundert Kilometer zusammen. Meistens wird dann bei einer dieser Stellen ein Antrag auf ALG II (Hartz IV) ausgefüllt, weil sich dann doch ein Sachbearbeiter erbarmt und für zuständig erklärt. Der Antrag kann dann wenigstens abschlägig beschieden werden, weil der Betroffene ja noch im Arbeitsverhältnis steht. Und weil für den passenderen Antrag auf Arbeitslosengeld ja das persönliche Erscheinen erforderlich ist. Steht zwar nicht im Gesetz, aber in einer Vorschrift der Arbeitsagentur.
Noch einfacher ist es, wenn die bevollmächtigte Person im selben Haushalt lebt und eigenes Einkommen hat. Das wird nämlich auf die Unterstützung angerechnet. Problem erledigt.

Gibts nicht? Gibts und passiert täglich. Nicht in irgendeiner Bananenrepublik. Nein, hier in diesem unseren Lande.

Übrigens, sich einfach kündigen lassen geht auch nicht. Das wäre eine einvernehmliche Kündigung, die gleich einmal eine Sperre auslöst.
Für eine betriebsbedingte Kündigung muss außerdem erst einmal der Integrationsfachdienst gehört werden. Eine personenbezogene Kündigung löst wieder eine Sperre aus. Und bei Kündigung und späterer wieder Einstellung wird die Arbeitsagentur gleich wieder hellhörig. Da sind die schnell, die Kollegen! Das könnte ja nach einer Leistungserschleichung riechen.

Fristen, aufgeschobene Entscheidungen, wenn keiner mehr weiter weiß, gibt es ja noch das Mittel der amtsärztlichen Untersuchung. Die hat dann auch wieder eine aufschiebende Wirkung. Stellt der Amtsarzt fest, dass innerhalb von sechs Monaten eine Genesung unwahrscheinlich ist, dann wird die Berentung eingeleitet und bis die greift, gibt es endlich Arbeitslosengeld.

Der Fall, dass nur eine gewisse Zeit überbrückt werden soll, bis man wieder arbeitsfähig ist, der ist nicht vorgesehen. Entweder die Leute sind richtig krank, dann werden sie ausgesteuert. Sind sie gesund, dann gehen sie arbeiten. Noch Fragen? Keine? Gut.

Dass es Menschen gibt, die regelmäßig Miete bezahlen müssen, die Versicherungen abgeschlossen haben, beispielsweise Arbeitslosenversicherung, Sozialversicherungen, das interessiert ebenso keinen.
Und fürs Essen gibt es doch die Tafeln - in fast jeder Stadt.

So langsam beginne ich die Menschen zu verstehen, die in Arbeitsagenturen und Job-Centern Amok laufen.

Aber wenigstens wissen wir jetzt, dass wir Fahrende im Rollstuhl sind. Das ist doch schon mal was.

Mit den richtigen Prioritäten ist das Leben doch gleich viel einfacher.

Bürgerreporter:in:

Klaus-Dieter Dingel aus Bad Wildungen

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