Probleme unserer alternden Gesellschaft und die Konsequenzen für eine bevölkerungsbewusste Familienpolitik

Der Anteil der alten Menschen in unserer Gesellschaft nimmt stetig zu, und noch gravierender, der Anteil der jüngeren weiter ab. Seit 1972 sterben in Deutschland jährlich mehr Menschen als geboren werden. Zu einem tatsächlichen Rückgang der Bevölkerung ist es erstmals 2003 gekommen. Die vorangegangenen Verluste sind durch Wanderungsgewinne kompensiert worden. Der Wanderungssaldo schwankt sehr stark, 2008 wurde zum ersten Mal ein negativer Wanderungssaldo ausgewiesen, aber seit 2015 ist er stark angestiegen.

2030 werden auf 100 Erwerbspersonen – nach heutigem Rentenrecht - 70 Rentner kommen, heute sind es 49. Der demographische Wandel stellt die Sozialpolitik vor starke Herausforderungen, besonders in der Rentenversicherung, aber auch in der Krankenversicherung. Der prozentual kräftig ansteigende Altenanteil in der Bevölkerung wird unvermeidlich in Zukunft zu einer deutlichen Minderung der Leistungen der Rentenversicherung führen.

Die Generation der jetzt etwa Fünfzig- bis Sechzigjährigen ist für die zu erwartenden Finanzierungsschwierigkeiten des Rentensystems verantwortlich. Sie hat den schon in den 1960er Jahren von Wilfrid Schreiber, Professor für Sozialpolitik, geforderten Generationenvertrag nicht eingehalten, weil sie zu wenig Kinder geboren hat. Es ist unvermeidlich und konsequent, dass sie mit Rentenkürzungen und einem späteren Renteneintrittsalter zu rechnen hat, was aber immer noch nicht von einem Teil der betroffenen Generation erkannt und akzeptiert wird. Generationenvertrag meint keinen Vertrag im juristischen Sinne, sondern die zwischen den Generationen geforderte Solidarität. Die erwerbstätige Generation gibt einen Teil der von ihr erwirtschafteten Güter an die vorausgegangene Generation, einen anderen Teil an die nachwachsende Generation. Die produktive Generation kann normalerweise darauf vertrauen, dass die nachwachsende Generation in ihrer produktiven Phase den Lebensunterhalt der ehemals produktiven Generation sichert. Die „intergenerationelle Solidarität“ erfordert, diese Sicherheit im Alter auch durch die für das Sozialsystem notwendige Kinderzahl zu gewährleisten.

Politisch denkbar wären auch Beitragssteigerungen der produktiven Generation zur Rentenversicherung, aber diese dürfen nicht allzu kräftig ausfallen, denn die erhöhten Beiträge würden nicht allein den Wettbewerb der Wirtschaft, sondern auch die geschrumpfte mittlere Generation über Gebühr belasten, weil diese auch für die größere Altengeneration wie die nachfolgende Generation aufzukommen hat. Sie hätte dann allein den Anstieg des Unterstützungsquotienten zu tragen, und das bei voraussichtlich verlangsamter Erneuerungsgeschwindigkeit der Produktion und damit einhergehendem abnehmenden Wirtschaftswachstum infolge des Bevölkerungsrückgangs. Auch eine höhere Steuerfinanzierung der Rentenversicherung würde vor allem die „Scharnier-Generation“ treffen. Eine Überbelastung bestimmter gesellschaftlicher Generationen könnten zur Entsolidarisierung zwischen den Generationen führen und die Skepsis gegenüber dem Generationenvertrag mehren.

Auch die Krankenversicherung wird durch den Altersaufbau der Gesellschaft belastet. Denn mit dem demographischen Wandel steigt der Bedarf an Gesundheitsleistungen, obwohl die 60-Jährigen von heute gesunder sind als die 60-Jährigen von gestern. Um die Krankenversicherung funktionsfähig zu halten, sehen die Reformentwürfe mehr Eigenbeteiligung und Zuzahlungen vor. Die Krankenversicherung wird zusätzlich durch die Kosteneffekte des medizintechnischen Fortschritts belastet.

Es widerspricht der Verteilungsgerechtigkeit, wenn die entstehenden Lasten fast ausschließlich von den Familien mit Kindern getragen wird. Hier ist eine energische Wende in der Familienpolitik gefordert, wie sie das Bundesverfassungsgericht seit Jahren einfordert. Die Kinderzahl muss bei der Rentenberechnung stärker zu Buche schlagen und sollte auch bei der Beitragsbemessung angemessen berücksichtigt werden. Der Familienwissenschaftler Max Wingen hat darauf hingewiesen, dass u.a. das bestehende Rentenrecht eine „deutliche Prämierung von Kinderlosigkeit bedeutet“ und Anreize zum Verzicht auf Nachkommenschaft gibt. Heute haben Personen ohne Kinder oft bessere berufliche Aufstiegschancen als Personen mit Kindern und erhalten dann auch noch im Alter die höheren Renten. Dagegen werden die Familien, die die sozialen, erzieherischen und wirtschaftlichen Leistungen für die nachfolgende Generation erbringen, im Alter noch mit geringeren Renten quasi „bestraft“. Das bisherige Altersversorgungssystem ist pointiert als „Transferausbeutung“ bezeichnet worden.

Bei demographischen Prozessen handelt es sich um langfristige Problemlagen. Um sie tatkräftig anzugehen, muss Politik mehr als je zuvor vom Leitprinzip der Nachhaltigkeit bestimmt werden. Im gemeinsamen Wort des Rates der evangelischen Kirche und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland hieß es: „Die Solidarität bezieht sich nicht nur auf die gegenwärtige Generation, sie schließt die Verantwortung für die kommenden Generationen ein. Die gegenwärtige Generation darf nicht auf Kosten der Kinder und Kindeskinder wirtschaften.“

Das Prinzip der Nachhaltigkeit muss bei demographischen Prozessen Berücksichtigung finden, da diese sich langfristig vollziehen. Selbst wenn heute unerwartet die Geburtenziffern wieder steigen, ist mit einer Bevölkerungsabnahme in Deutschland zu rechnen. Nach dem Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg ist es „dreißig Jahre nach 12“. Der Anteil der über 60jährigen an der deutschen Bevölkerung würde sich selbst dann verdoppeln, wenn die Lebenserwartung nicht mehr zunähme. Diese Erkenntnis scheint unsere auf kurzfristige Wiederwahl setzenden Politiker zu überfordern. Verhängnisvoll ist aber das Kurzfristdenken der politisch Verantwortlichen.

Wir erleben ein merkwürdiges Paradoxon: bei demoskopischen Erhebungen sagen 76 % voraus, dass die Bevölkerung in den nächsten 30 Jahren schrumpfen wird und 84 % gehen davon aus, dass das Durchschnittsalter der Deutschen weiter steigen wird, trotzdem lehnt eine Mehrheit eine längere Lebensarbeitszeit ab. Es zeigt sich hier eine unbewältigte Diskrepanz zwischen individuellen Interessen und Gemeinwohlorientierung. Ein solch inkonsequentes Denken lähmt die Politiker in Bezug auf langfristig wirksame Korrekturen und verleitet sie, dringend benötigte Entscheidungen zu vertagen.

Dabei geht es nicht um einseitige und in Deutschland durch die nationalsozialistische Vergangenheit diskreditierte Bevölkerungspolitik. Es kann in einer Demokratie nicht bezüglich der Fertilität an Zwangsregulierungen durch den Staat gedacht werden. Aber der Staat kann sehr viel unternehmen, um den jungen Menschen ihren vorhandenen Wunsch nach Kindern zu ermöglichen. Der Kinderwunsch ist, wie Umfragen beweisen, deutlich höher als die reale Geburtenzahl. Eine „bevölkerungsbewusste Familienpolitik“ als integrativer Bestandteil einer gesellschaftlichen Ordnungspolitik setzt an den Bedürfnissen der jungen Paare in der Phase des Familienaufbaus an und gestaltet die Rahmenbedingungen so, dass junge Paare sich ihre Kinderwünsche erfüllen können und in der Folge die persönlichen Lebensziele einerseits und die gesellschaftlichen Belange mit ihrer Gemeinwohlrelevanz andererseits möglichst eng zusammenfallen. Sie schafft ein familien- und kinderfreundliches Klima und fördert die sozialen, humanen, erzieherischen Leistungen der Familien. (Max Wingen: Die Geburtenkrise ist überwindbar: Wider die Anreize zum Verzicht auf Nachkommenschaft. 2004, insbesondere S. 90-94).

Es ist ein Leistungsausgleich und nicht nur ein unzureichender Familienlastenausgleich zu schaffen. Eine solche Familienpolitik ist nicht allein Aufgabe eines einzigen Politikbereiches, sondern eine Querschnittsaufgabe für weite Bereiche der Gesellschaftspolitik. Die Querschnittspolitik betrifft nicht allein den Staat, sondern bezieht auch die Kommunen wie die unternehmerische Familienpolitik im Sinne familienbewusster Personalpolitik ein. Unternehmer müssen in ihrer betrieblichen Zeiteinteilung mehr Rücksicht auf Familien nehmen.

Bewusstseins- und Verhaltensänderungen sind eine wichtige Voraussetzung für die Durchsetzung einer Sozialordnungspolitik, um eine familien- und kindgerechte Gestaltung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen von Familien zu schaffen.

Je später die Korrektur in der Familienpolitik erfolgt, um so schwerer wird sie durchzusetzen sein. Politik hat gegen ein erhebliches Trägheitsmoment anzukämpfen, das um so beharrlicher ist, je älter die Bevölkerung wird. Mit dem Kleinerwerden der nachwachsenden Generationen verringert sich das Innovationspotential. Und wir haben das Problem einer älter werdenden Wahlbevölkerung. Alte Menschen werden immer mehr wahlentscheidend. Wenn diese bei ihren Wahlentscheidungen vorwiegend an die eigene Einkommenslage denken, wird dies zu Lasten der jüngeren und auch der noch ungeborenen Generationen gehen. Dann könnten wir aber mit dem „Aufstand der Jungen“ rechnen, wie vor kurzem ein jüngerer Sozialwissenschaftler befürchtete. Jahre zuvor schrieb Max Wingen von dem nicht leicht auflösbaren Widerspruch zwischen zwei Sachverhalten: zum einen zwischen dem angesichts der demographischen Herausforderung notwendigen Langfristdenken und zum anderen den unleugbaren Interessenzwängen, die im Bestreben der auf Machterhalt bestrebten politisch Handelnden gründen.

Dauerhafte Lösungen des Sozialversicherungssystems erfordern langfristigeKonzeptentwürfe und Strategien, die nicht in einer Wahlperiode zu lösen sind. Sie erfordern eine Politik der Nachhaltigkeit und nicht der auf kurzfristigen Effekt ausgerichteten politischen Entscheidungen. Es geht um ordnungspolitische Entwürfe. Eine Politik der Nachhaltigkeit verlangt klare Wertorientierungen, die mit längerfristiger Überzeugungsarbeit zu vermitteln sind. Demographische Entwicklungen haben so schwerwiegende sozial- und wirtschaftspolitische Folgen, die kaum reversibel sind, dass man sie nicht einer automatischen Eigendynamik überlassen kann. Politik ist Gesellschaftsgestaltung aus einer Sinnvorstellung, für Christen auch aus dem Glauben. Die Geburtenentwicklung einfach laufen zu lassen, wäre Verzicht auf Politik. Der „Club of Rome“ hat vor drei Jahrzehnten begonnen auf Probleme des Umweltschutzes und des Klimawandels aufmerksam zu machen. Er wurde zunächst kritisiert, verlacht, als weltfremd verspottet. Inzwischen hat er vieles in Gang gebracht und erreicht. Eine „bevölkerungsbewusste Familienpolitik“ ist ebenfalls eine Langfristaufgabe des „Bohrens von dicken Brettern“ - aber nicht hoffnungslos, sie muss nur mit Konsequenz gewagt werden.

siehe auch den Beitrag:
http://www.myheimat.de/buchholz-in-der-nordheide/p...

Bürgerreporter:in:

Manfred Hermanns aus Hamburg

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