Der kleine Ewald

Der kleine Ewald

In einer sternklaren Winternacht vor vielen Jahren kam der kleine Ewald auf die Welt. Er war ein Kind der Liebe. Seine Mutter hatte schon gar nicht mehr daran geglaubt, dass sie noch einmal ein Kind empfangen würde. Ewald war ihr Kind ganz allein. Er hatte schon vier größere Geschwister, zwei Mädchen und zwei Jungen. Doch wie es so oft ist, an diesem Kind hing die Mutter ganz besonders. Er war ihr ein und alles.

Sie erzählte ihm alles was sie bewegte, was sie traurig machte und worüber sie sich freute. Ewald war ein sehr wachsames Kind mit großen Augen, die alles in sich aufnahmen, was seine Mutter ihm erzählte. Er hatte eine besondere Begabung mitbekommen. Schon als kleiner Junge konnte er alle Dinge, die er sah, in Worte umsetzen. So wie ein Maler ein Bild malt, so konnte der kleine Ewald alle Geschehnisse seines Lebens bildhaft beschreiben.

Seine Augen blickten oft fragend wenn er etwas nicht verstand, vor allen Dingen konnte er die Ungleichbehandlung nicht verstehen, die ihn von seinen Geschwistern unterschied. Er hatte oft darunter zu leiden, dass sie ihn ärgerten, sich über ihn lustig oder ihm auch Angst machten, und er wußte nicht, warum. Vielleicht spürten sie auch, dass er etwas Besonderes war, dass er eine sehr enge Beziehung zu ihrer Mutter hatte. Liebe ist nicht etwas, dass man mit dem Zentimetermaß genau abmessen kann, sie ist immer unterschiedlich, ob man es will oder nicht.

Da der kleine Ewald sein Umfeld genau beobachtete, tat er alles, um nicht aufzufallen. Aber immer ließ es sich natürlich nicht vermeiden; denn schließlich war er ein kleiner Junge, der sich auch schon mal einen Schabernack ausdachte. Wer will es ihm auch verübeln? Viel Spielzeug gab es zu seiner Zeit nicht, da mußte man sich als Kind schon etwas ausdenken, um die Zeit zu vertreiben. Am liebsten begleitete er seine Mutter bei ihren Ausflügen und Tätigkeiten. Sie war eine sehr fleißige und kreative Frau, noch dazu war sie sehr schön.

Wenn Ewalds Mutter mal nicht arbeiten mußte, dann setzte sie sich gerne aufs Sofa und las Bücher, oft bis mitten in der Nacht. So übte sich auch Klein Ewald schon früh vor der Zeit im Lesen, noch bevor es in die Schule ging. Die Neugier war ihm wohl angeboren und durch das Lesen wurde seine Fantasie noch mehr beflügelt. Er wollte alles verstehen, besonders das Verhalten der Menschen um ihn. Es wurde prägend für sein ganzes Leben. Wie alle Kinder, so hatte auch der kleine Ewald Wünsche, selbst wenn er sie nicht laut werden ließ, weil einfach kein Geld da war, um sie mal eben zu erfüllen.

Einer seiner großen Wünsche war ein Fotoapparat. Er wollte die Bilder, die er sah, nicht nur in seinem Innern festhalten, sondern sie auch auf Papier sehen; denn auch Bilder können Geschichten erzählen. Mit Vorliebe fotografierte er in späteren Jahren Tiere, Bäume, Wälder und Wasser, Sonnenauf- und untergänge, Bilder seiner Heimat. Der kleine Ewald träumte oft davon, in die weite Welt hinauszugehen, doch seine Mutter hielt ein wachsames Auge auf ihn, von dem er sich erst lösen konnte, als sie gestorben war.

Gedanklich begab sich der kleine Ewald jedoch immer wieder in die Welt der Träume, auf der Suche nach Liebe und Anerkennung; denn alles was man träumt, kann einem auch keiner wegnehmen. Manchmal frage ich mich, ob Klein Ewalds Mutter wußte, was in seinem kleinen Kopf vor sich ging? Ob sie von seinen Sehnsüchten wußte, seinen unerfüllten Wünschen, seiner Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit, nach unbegrenzter Zeit, seiner Suche nach dem "Warum"?

Warum war er hier auf der Erde, welchen Sinn hatte sein Leben? Eine Frage, die sich viele Menschen stellen, die ihn nie losließ und auf die er bis heute keine Antwort gefunden hat. So wandert der kleine Ewald durch das Leben, manchmal sehe ich ihn in der Nacht die Himmelsstraße entlang laufen, seinen Stern suchend, der ihm ein Ziel zeigt, seine Bestimmung in diesem Leben. Vielleicht ist es ja auch seine Bestimmung, ein ewig Suchender zu sein, seinen Platz zu akzeptieren, an dem er jetzt gerade steht. Wer weiß das schon?

Die vielen Menschen, die ihm auf seinem Lebensweg begegnet sind, sie alle waren Stationen, sie waren nicht das Ziel, nach dem er so sehr suchte. Ich wünsche mir, dass er irgendwann an seinem Ziel ankommt, an dem das Licht nur für ihn scheint, dass eine Tür sich öffnet und er mit Staunen feststellt:
Ich bin zu Hause.

© H. R.

Bürgerreporter:in:

Henriette Reh aus Siegen

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