Unfassbar ...

Ein Weg der Erinnerung
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Es gibt Dinge die ein Verstand sich weigert zu begreifen, das Gefühl dichtmacht aus Selbstschutz.
Wir haben oftmals keine Erklärung dafür was Menschen anderen fühlenden Wesen – ob Mensch, ob Tier antun.
Ob man Menschen ertränkte, verbrannte, kreuzigte oder in die eigens für einen langen, unvorstellbar grausamen Tod konstruierte Eiserne Jungfrau mit dem Abbild des Gesichts der Jungfrau Maria steckte, sie in Gruben trieb und mit Maschinengewehren niedermähte, sie nackt in die Gaskammern jagte, sie vor eine Kanone band oder mit Bomben zerriß oder einzeln niedermetzelt – was treibt Menschen dazu dies zu tun?

Seit gestern Nachmittag müssen wir uns diese Frage wieder stellen.

In einem Land, in einer Gesellschaft die liberal und offen ist, in der es wenig Konflikt-, dafür viel Entwicklungspotential gibt, eine mit den besten Bildungs- und Sozialsysteme und einer als gelungen bezeichneten Integration von Einwanderern verschiedener Länder, Hautfarben und Kulturen.
Doch auch in diesen Ländern gibt es Hasspotential; rechtsextreme Parteien schüren erfolgreich Fremdenangst und kassieren dafür zweistellige Stimmanteile – in einer Gesellschaft die kontinentweit für sich eine christliche Wertordnung mit eindeutigen Geboten und dem Leitmotiv der Nächstenliebe reklamiert.
Der mutmaßliche Täter (über Mittäter ist bislang nichts bekannt) bezeichnet sich in seinem Facebookprofil als fundamental-christlich, beteiligt sich seit mehreren Jahren an fremdenfeindlichen Internetblogs und macht Stimmung gegen eine multikulturelle Gesellschaft, speziell gegen Muslime, hat einen Hass auf Sozialisten – dennoch kommt er gestern Nachmittag laut der norwegischen Polizei „aus dem Nichts“, war nicht wegen einschlägiger Straftaten aufgefallen, aber mehrere Jahre in einer fremdenfeindlichen Partei aktiv. Man konnte ihn wahrnehmen und kannte ihn doch nicht.

Bei seiner Mutter im Westen Oslos wohnend gründete der Junggeselle einen landwirtschaftlichen Betrieb, ordert insgesamt gut 6 Tonnen Kunstdünger, einer der Hauptbestandteile zum Bombenbau.
Er ist Mitglied im Stockholmer Schützenverein, hat eine Erlaubnis für den Besitz einer automatischen Waffe und einer Pistole.

Die Planung für das was da gestern geschah muß lange gedauert haben; keine spontane Tat.

Er besorgt sich eine zumindest polizeiähnliche Uniform, fährt einen Lieferwagen in die Innenstadt von Oslo, ins Regierungsviertel, dort wird er gegen 15:30 gesehen.
Er steigt in ein zweites Fahrzeug, verläßt Oslo in nordwestlicher Richtung.

Der Lieferwagen explodiert; eine gewaltige Druckwelle rast durch die Häuserschluchten, die Stelle ist „optimal“ gewählt heißt es. Nicht die Explosion tötet und verletzt die Menschen, nicht die Druckwelle – es ist wohl vor allem der auf die entsetzt fliehenden Menschen ein Regen aus zersplitterndem Glas das von den Hochhausfassaden auf sie niedergeht und gleichsam aufschlitzt – die Bilder blutüberströmter Opfer gehen um die Welt. Nur der Umstand daß es Freitag Nachmittag zur Ferienzeit ist verhindert daß die Zahl der Opfer nicht noch wesentlich höher ist.

In Oslos Innenstadt ist das Töten anonym.

Der Täter fährt zu einem See- dort findet regelmäßig ein Feriencamp der Jugendorganisation der norwegischen Sozialdemokraten statt, mehrere hundert Kinder und Jugendliche freuen sich auf einige Tage voll Spaß, Erholung und neue Freundschaften...

Der Plan, das Vorgehen ist perfide, entmenschlicht.
Der Täter läßt sich auf die Insel bringen, erklärt er wolle die Kinder über den Anschlag in Oslo informieren.

Als sie sich um den vermeintlichen Polizisten der ihnen Schutz und Sicherheit vermittelt sammeln beginnt er zu schießen.

Was diese Kinder und Jugendliche, Jungen und Mädchen erleben werden sie nie vergessen, viele nie verarbeiten. Und 87 von ihnen nicht überleben.

Sie werden regelrecht abgeschlachtet. Er verfolgt die Fliehenden, schießt auf die, die sich schwimmend zu retten suchen. Er geht zu den Zelten, erschießt die Kinder wo er sie findet. In aller Ruhe, wird dabei von einem Hubschrauber aus gefilmt.

Er weiß – seine Opfer können nicht weg, die Polizei nur mit großer Verzögerung zu ihm.

Das Morden dauert gut 90 Minuten, dann kann er – anscheinend widerstandslos – festgenommen werden. Ein Märtyrer will er wohl nicht werden.
Die Mädchen, die Jungen liegen im Wald, in den Zelten, am Ufer mit zerschossenen Körpern, mit zerfetzten Köpfen.
Wer einmal einen Kopfschuss auch nur auf einem Bild gesehen hat weiß wovon ich schreibe.
Einige stellen sich tot, überleben körperlich. Doch ihre Seele ist ebenso zerfetzt wie die Freunde neben ihnen, andere versuchen im kalten Wasser zu überleben bis die Boote kommen. Und auch die werden beschossen.
Den Helfern in Oslo und auf Utøya bietet sich ein grauenhaftes Bild – auch sie werden mit diesen Szenen leben müssen
Was spielt sich jetzt bei den Familien der Opfer ab?
Wieviele kämpfen in den Krankenhäusern noch um ihr Leben?

„Du sollst nicht morden“.
„Liebe deinen Nächsten wie Dich selbst.“
Das Leben ist das höchste, das schützenswerteste Gut in unserer Gesellschaft.
Und einer der sich als Christ bezeichnet vernichtet es auf eine unvorstellbare Weise, wiegt seine Opfer in Sicherheit, dort wo sie ihm ausgeliefert sind und bringt sie um, Angesicht in Angesicht.

Es gibt Dinge die wir nicht begreifen, nicht nachfühlen können und auch nicht wollen können.

Aber wir können dazu beitragen daß nicht wieder jemand „aus dem Nichts“ kommt.

Wir müssen uns vor diejenigen stellen denen nichts vorgeworfen wird als ihre Herkunft, ihre Hautfarbe, ihre Meinung, ihre Religion.

Wir müssen uns gegen diejenigen wenden die Hass und Intoleranz verbreiten.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt“.

Und unsere.

Die Bilder entstanden im Schmetterlingsgarten der Botanika, Wichita/KS, USA

Bürgerreporter:in:

Edgard Fuß aus Tessin

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