Weihnachten 1978: Ein GI zu Besuch

Weihnachten 1978: Die achtzehnjährige Lydia kann es kaum glauben. Ihre Eltern haben ihren amerikanischen Freund, einen GI, stationiert in den Lee Barracks, für Heiligabend eingeladen. Ob alles gutgeht?

Leseprobe aus "Calling USA" von Paula Dreyser

Die Familie empfing Steve freundlich. Lina erzählte ihm sofort von ihrem Mann, der am Ende des Zweiten Weltkrieges noch gefallen war. Lydia blieb kaum Zeit für die Übersetzung. Die Bescherung verlief deutlich chaotischer als üblich. Steve überreichte Helga und Lina amerikanisches Parfum aus der PX. Ulrich erhielt eine Mag-Lite-Taschenlampe, worüber er sich sichtlich freute. Lydia bekam ein Päckchen in rotem Weihnachtspapier mit grünen Sternchen. Darin befand sich eine Schachtel mit kleinen, vergoldeten Kreolen. Sie war entzückt und fand ihr Geschenk für ihn, ein Foto von sich in einem silbernen Rahmen und einen Spielzeugpanzer, ziemlich mickrig.
Steve allerdings war begeistert.
Duftseifen, Kölnisch Wasser und eine sehr hübsche dunkelgrüne Mokkatasse mit goldenen Mustern, Socken, Bücher, Pullover und Schokoladen wechselten die Besitzer. Fröhlich, mit leicht geröteten Wangen, übereichte Helga dem lächelnden Steve einen Korb mit Fleischwurst, Salami, Brezel, Stollen, Plätzchen und Wein.
Er strahlte.
Im Hintergrund sang ein Knabenchor Ihr Kinderlein kommet.

Beim Abendessen wurde viel gelacht.
„Ach!“, Lina redete nach dem zweiten Gläschen Wein beschwingt und viel, „früher, mit der kleinen Lydia war Weihnachten ja schöner.“ Bedauernd nickte sie. Ihr Blick verschwamm.
„Ja, da hatten wir natürlich einen größeren Weihnachtsbaum“, beeilte sich Helga zu sagen.
Daran konnte sich Lydia nicht erinnern. Der Christbaum war in ihrer Familie schon immer relativ klein ausgefallen, weil ihre Mutter die Nadeln und den Dreck nicht gerne wegmachte. Sie war bereits ziemlich müde, weil sie ständig übersetzte und niemand zu bemerken schien, dass dafür etwas Zeit einkalkuliert werden musste.
Jetzt beugte sich Lina zu Steve, der neben ihr saß, und schaute ihm vertrauensvoll in die Augen. „Aber meine Helga, die hatte ja als Kind kein schönes Weihnachtsfest.“ Sie wartete, bis Steve ihr nach der Übersetzung einen fragenden Blick zuwarf. „Warum?“, brachte er auf Deutsch heraus.
„Krieg. Da war doch Krieg.“ Linas Augen füllten sich mit Tränen.
Ulrich stöhnte, Helga unterdrückte ein Schluchzen.
Lydia hoffte inständig, dass die Stimmung nicht kippen würde.
„Wie feiert Ihre Familie denn Weihnachten?“, mischte Ulrich sich schnell ein. Er hatte offensichtlich die gleiche Befürchtung gehabt. Er nickte seiner Tochter zu, damit sie die Frage übersetzte.

Steve lächelte. „Wir feiern auch an Heiligabend. Meine Mutter kocht ein üppiges Dinner. Später verteilen wir die Geschenke. Die meisten Leute feiern allerdings am 25. Dezember. Für uns Kinder fängt der 24. Dezember damit an, dass wir meiner Mutter helfen, das Haus zu putzen und zu kochen. Wobei …“ Er machte eine Pause und grinste. „… die Mädchen machen schon mehr. Meine Mutter und meine Schwestern basteln auch den Weihnachtsschmuck. Mein Vater ist dafür zuständig, den Baum zu besorgen, der immer zu groß ist, sodass wir die Spitze abschneiden müssen. Am Nachmittag stellen wir ihn auf. Das Dekorieren ist eine große Sache.“
„Ach!“ Helgas Interesse war geweckt. „Welchen Schmuck stellt deine Mutter denn her, also, mit deinen Schwestern zusammen?“
Wahrscheinlich dachte sie an hochwertige Christbaumdekoration von kunstgewerblicher Qualität. Lydia übersetzte die Frage nur ungern. Für sie nahm das Ganze eine peinliche Wendung.
„Auf dem Tisch steht eine große Schüssel mit Popcorn und Preiselbeeren. Die werden mit einer Nadel durchstochen und auf einen Faden gereiht“, antwortete Steve völlig unbedarft. Erwartungsvoll sah er daraufhin in die Runde, während Lydia übersetzte.
Helgas Gesichtsausdruck entglitt ein wenig. Was sie da hörte, entsprach sicher nicht ihrer Vorstellung von Kunsthandwerk. “Oh“, sagte sie leicht fassungslos, „wie interessant!“
„Also, so etwas Ähnliches haben wir als Kinder auch gemacht“, erklärte Lina stolz.
Helga riss die Augen auf.
Lydia und ihr Vater mussten sich das Lachen verkneifen. Steve blickte fragend in die Runde. „Sie basteln auch Girlanden aus grünem und rotem Papier“, erzählte er lächelnd.
Helga entspannte sich. Das war wieder einer der Momente, in denen sie Lydia überraschte. Sie lachte, vor allem über sich selbst und ihre Erwartungen. „Was kommt noch an den Baum?“, fragte sie gut gelaunt.
„Lametta.“
„Aus … Alufolie?“
Verständnislos schüttelte Steve nach der Übersetzung den Kopf. „Nein, aus der Packung“, erklärte er.
Alle außer ihm lachten, bis ihnen die Tränen kamen.

(Foto: © Gerd Reuber, Mainz-Gonsenheim. Danke für die freundliche Erlaubnis)
Text: © Carolin Olivares, Lektorat Carolin Olivares

Bürgerreporter:in:

Carolin Olivares Canas aus Mainz

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