Ostern 1969: Lenneberg, Schnittchen und Eierlikör

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Eine Mainzerin erinnert sich. Ostern in den späten Sechzigern.

„Brennt wie Feuer!“ Petras Augen beginnen zu tränen.
Marina weiß, dass ihr das Gleiche blüht, nur etwas später, denn sie hat ein paar Sekunden nach ihrer Freundin ein Büschel Schnittlauch in den Mund gestopft. Blinzelnd, kauend und schnaubend blicken sie sich an. Schnittlauchessen – eine Mutprobe, nichts für Feiglinge!
Das Zeug ist geschluckt. Die Zunge fühlt sich an wie mit einem Gemisch aus Senf und Meerrettich beschmiert. Aus Erfahrung wissen sie, dass der scharfe Geschmack nach etwa fünf Minuten einem tauben Gefühl weicht. Dann dauert es nicht mehr lange, bis die Dinge im Mund sich normalisieren – bis auf die Sandkörner, die am Schnittlauch hingen. Die knirschen noch eine Weile.
Etwas besorgt blickt Marina zum Fenster ihrer Oma hinauf. Sie wohnt unter dem Dach des dreistöckigen Hauses. Petra schielt zum Fenster ihrer Großeltern. Die wohnen im Erdgeschoss. Omas und Opas hängen gern am Fenster und schauen, was sich so tut. Dabei unterhalten sie sich laut von Fenster zu Fenster. Am Schnittlauch, mitten im Gemüsebeet der Hausgemeinschaft, erwischt zu werden, ist nicht so gut. Das gilt insbesondere dann, wenn man schon Dreck am Stecken hat.
Und genau das ist bei ihnen heute der Fall. Am Vormittag wurden sie schon von der bösen Frau Bauer aus dem ersten Stock erwischt, als sie das Geländer hinunterrutschten.
Frau Bauer schlug drauflos, erwischte Marina am Arm und keifte: „Ungezochene Bangerd! Am heilische Osdersamsdach!
„Oma!“, schrie Marina.
Daraufhin erschien ihre Oma auf der oberen Treppe und wetterte: „Finger weg von meiner Enkelin!“ Petras Oma stapfte mit hochrotem Kopf von unten in den ersten Stock und drohte mit erhobenem Finger: „Lass die Kinnä in Ruh!“ Petras Opa ließ sich nicht blicken. Später allerdings kriegten Marina und Petra so einiges zu hören, jede für sich von ihrer eigenen Oma.
Marina versteht überhaupt nicht, was am Geländerrutschen falsch oder gefährlich ist. Wozu gibt es denn Geländer? Zum Glück hockt jetzt niemand am Fenster, die Luft ist rein. Verschwörerisch nicken sie sich zu und gehen raus aus dem Beet zurück auf den Gartenweg. Dann schlendern sie betont lässig zu der Sitzgruppe. Dabei handelt es sich um ein paar alte Sessel und Stühle sowie eine wacklige Gartenbank, die an der Hauswand aufgestellt sind.
An den Sommerabenden sitzen viele Omas und wenige Opas zusammen, um sich über Politik, also die Roten und die Schwarzen, zu unterhalten. Fast immer kommt die Rede auf den Krieg und darauf, wie es früher war. Für Marina gibt es nichts Schöneres, als dabei zu sitzen. Und das kann sie immer dann, wenn sie bei ihrer Oma übernachtet. Außer in den Ferien darf sie das allerdings nur an Samstagen. Es wurmt sie, dass Petra öfter bei ihren Großeltern schläft, weil ihre Eltern einen Frisörsalon führen und wenig Zeit haben. Mit einem wohligen Seufzer lässt sich Petra auf einen Sessel fallen, in dem sie fast versinkt. Marina setzt sich ihr gegenüber auf die Bank.
„Also“, stellt Petra nochmals fest, „du bist morgen auch hier!“
„Genau“, bestätigt Marina, „aber vorher fahren wir in den Wald zum Körbchensuchen und dann gehen wir noch ins Café.“
„Waldgaststätte Lenneberg“, erklärt Petra mit der Miene einer Kennerin.
„Ja, ja, schon gut“, erwidert Marina leicht genervt. Klugscheißerei kann sie gar nicht leiden. „Nach dem Kuchen kommen wir hierher und ich bleibe über Nacht.“
Mit zusammengezogenen Brauen runzelt ihre Freundin die Stirn. Etwas scheint ihr nicht zu behagen. „Ich suche morgen meine Ostereier in unserem Garten“, sagt sie langsam, wobei sie jedes Wort betont.
Das versetzt Marina einen Stich. Weder haben ihre Eltern ein Haus mit Garten, noch besitzt jemand in ihrer Familie einen Schrebergarten. Aber sie will sich nicht die gute Stimmung verderben lassen und auch keinen Krach anfangen. „Welche Schokolade magst du am liebsten?“, fragt sie schnell, um abzulenken.
Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Sarotti, Vollmilch mit ganzen Nüssen!“
Mit einem heftigen Nicken stimmt Marina zu.

„Ist das heiß!“ Mama drückt mit dieser typischen Geste ihre Haare im Nacken zurecht. Darauf, dass die Frisur gut sitzt, legt sie größten Wert, so wie die meisten Mütter. Im Käfer steht tatsächlich die Hitze. Von einem Jahrhundert Osterwetter war in den Nachrichten die Rede. Auf jeden Fall klebt Marinas feines Kleid an ihrem Körper.
„Anfang April und schon Sommer!“, meint Papa gut gelaunt und biegt in die Straße, die zum Lennebergwald führt.
In der nächsten Kurve kommt es ihr so vor, als würde der Käfer in Schräglage geraten, denn auf der Seite der Kurve sitzt ihre Oma und die ist ziemlich dick.
Sinn mä bald am Kaffee?“, stöhnt Oma, während sie sich mit einem Spitzentaschentuch, das nach Flieder duftet, Luft zufächelt.
Schon kommt der große Parkplatz in Sicht. Erwachsene und Kinder wuseln herum. Papa parkt mit Schwung. Aufatmend steigen ihre Eltern und Marina aus.
„Auf geht’s, Paula!“, frohlockt Papa. „Eins, zwei, drei …“ Mit einem Ruck zieht er Oma an beiden Händen hoch.
Im Wald ist es deutlich kühler. Marina hüpft auf den Strahlen entlang, die die Sonne durch das Blätterdach der Bäume auf den Weg malt. Das hat sie sich bei einem Mädchen, das etwas weiter vorne mit seinen Eltern in die gleiche Richtung läuft, abgeguckt.
„Veilchen!“, schwärmt Mama. Sie und Oma bleiben am Wegesrand stehen. Neugierig läuft Marina zu ihnen. Andächtig schauen sie eine Weile auf die winzigen violetten Blüten.
„Ach!“, meint Oma.
Marina ahnt, was als Nächstes kommt.
Sei immer bescheiden wie das Veilchen klein, nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein“, fügt Oma mit leicht bebender Stimme hinzu. Das ist einer ihrer Lieblingssprüche, ein anderer lautet: Selig, ein Kind noch zu sein.
Mit Mama zusammen pflückt Marina ein paar Veilchen. Um die Stiele wickeln sie Tempos. Da fällt ihr etwas auf. „Wo ist eigentlich Papa?“, fragt sie. Mama und Oma lächeln geheimnisvoll. Da hüpft er auch schon ein paar Meter von ihnen entfernt aus dem Gebüsch. „Ich hab da was gesehen“, ruft er. „Könnte ein Hase gewesen sein.“
Und tatsächlich! Hinter den Holunderbüschen, neben einem Baumstumpf findet Marina ein gut gefülltes Körbchen. Dieses Jahr hat der Osterhase auch an gefärbte hart gekochte Eier gedacht. Die hatte er letztes Jahr vergessen.
Papa besteht dann noch darauf, dass Mama ein Foto von ihm und seiner Tochter schießt – mit Veilchensträußchen.

„Viermal gemischter Obstkuchen, zweimal mit Sahne. Zwei Kännchen Kaffee, eine Cola, eine Bluna.“ Papa nickt der freundlichen Kellnerin zu. Dann holt er noch mal Luft und erklärt: „Ein großes gemischtes Eis ohne Sahne. Vanille, Erdbeer, Zitrone.“
Ruckartig richtet sich Marina in ihrem Sitz auf. „Für wen ist das Eis?“ „Teilen wir beide uns“, meint Papa wohlwollend.
Wärst du doch in Düsseldorf geblieben, tönt es dezent von irgendwoher. „Schöner Playboy …“, singt Mama leise. Dann summt sie mit.
Marina untersucht noch einmal ihr Osterkörbchen. Sie hat es in die Mitte des Tisches gestellt zwischen die Vase mit den Tulpen und den Deko Osterhasen aus Porzellan. Ein paar Schoko Eier hat sie auf dem Weg von der Stelle, wo Papa den Hasen gesichtet hat, bis zum Café Lenneberg verspeist. Zufrieden seufzend blickt sie sich um. Dieser Tag ist ein guter Tag und er ist noch lange nicht zu Ende.
An allen Tischen sitzen Gäste, Familien, häufig mit Großeltern. Der blonde Junge vom Nachbartisch, der wohl auch ungefähr acht Jahre alt ist, grinst zu ihr herüber. Vor ihm steht ein riesiges Osterkörbchen. Angeber, denkt sie und guckt schnell weg.
Maama …, schmettert Heintje im Hintergrund.

Zuerst lüfde!“, erklärt Oma kategorisch. Die Tür zwischen Wohnküche und Schlafzimmer ist schon geöffnet. Jetzt reißt sie alle Fenster auf. Die Gardinen wehen – wie üblich. An Durchzug ist Marina gewöhnt.
Papa und Mama setzen sich an den Küchentisch, Marina platziert ihren Teddy und Puppe Bella auf die Chaiselongue neben dem Küchenfenster. Aus ihrem Rucksack kramt sie noch ihr derzeitiges Lieblingsbuch hervor: Geschichten für alle Tage. Später wird sie die Ostergeschichten lesen und sich die Bilder anschauen. Als Drittklässlerin kann sie schon ganz gut lesen, aber sie kennt den Text auch fast auswendig.
Nachdem sie sich auf ihrer Chaiselongue eingerichtet hat, wirft sie einen Blick auf das Foto von Opa Josef, genannt Sepp, das über der Nähmaschine hängt. Wie immer lächelt er ihr zu. Wie gern hätte sie ihn kennengelernt, aber er ist im Krieg gefallen. Mama hätte ihn bestimmt auch gern kennengelernt. Als es Sturm klingelt, erschrickt sie ein wenig. Papa geht in die Diele, um die Tür aufzumachen.
„Ach!“, sagt er kurz darauf. „Wie nett!“
Mä habbe noch Schnittschä übrisch“, ruft Petras Oma.
„Tante Paula, hast du Tri Top?“, kräht Petra.
Natürlich hat sie! Kurz darauf stehen ein Teller mit Schnittchen auf dem Tisch und ein paar Flaschen Bier. Mama mischt Tri Top Kirsche mit Wasser in zwei Gläsern.
Es klingelt noch zweimal. Tante Loni aus dem Nachbarhaus bringt einen Teller mit Käsespießchen. Petras Opa gesellt sich dazu. Offenbar war es ihm allein dann doch zu langweilig. Alle rücken zusammen, jeder hat Platz. Nach den Schnittchen bringt Oma die Flasche Eierlikör und die feinen Likörgläschen. Die Kinder dürfen einmal nippen.
Glücklich lauscht Marina den Erzählungen der Erwachsenen. Als sie wieder zu Opa Sepp schaut, könnte sie schwören, dass er ihr zunickt.

© Carolin Olivares, Lektorat Carolin Olivares

Bürgerreporter:in:

Carolin Olivares Canas aus Mainz

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