Über Erlebnisse im März 1945 wollte ich lange Zeit nicht reden.

22. März 1945
Bombardierung, 31134 Hildesheim

Der 22. März 1945

Wie eine Erlösung empfand ich die Überwindung des mir selbst auferlegten Schweigens. Über bestimmte Kindheitserlebnisse wollte ich nicht reden. Doch irgendwann fing ich an Gedanken zu notieren, legte das Geschreibsel jedes mal weit weg, wenn mir Tränen in die Augen steigen wollten. War das Selbstmitleid? Das wäre doch ungerecht gegenüber jenen, die in den zwei Jahrzehnten nach 1933 ungleich viel Schrecklicheres ertrugen.

Es waren die Ereignisse des Frühjahrs 1945, die mir unvermittelt und unauslöschlich zeigten, was Krieg und Zerstörung bedeuten. Ich war ein verspieltes Kind, wohl umsorgt und behütet von meiner lieben Mutter. Als Witwe hatte sie rund zwei Jahre zuvor den erheblich älteren Schneidermeister H.Z. geheiratet und - so zogen wir von der Orleanstrasse in dessen große Mietwohnung ins Haus Langer Hagen 62. Er wurde mein Vater.

An meinen leiblichen Vater, der 1939 an den Folgen eines Unfalls starb, besitze ich nur Vorstellungen aufgrund von Fotos und Erzählungen.

Über das Kriegsgeschehen oder die Gefahr einer Bombardierung wurde in unserer Familie, zumindest in meiner Gegenwart so gut wie nie gesprochen. Hinweise auf die gefährliche Situation, in der wir uns alle befanden, erhielt ich somit in erster Linie durch eigene Beobachtungen. In der Schule übten wir das Verhalten bei Flieger-Alarm: geordnetes Verlassen des Klassenraums, bzw. während der Pause, schnelles Aufstellen vor der Schultür, diszipliniertes Aufsuchen des Luftschutzkellers. Alle Schüler besaßen eine Staubschutzbinde, meist ein aus altem Bettzeug genähtes Stück Stoff mit Bändern. Handtellergroß bedeckte es Mund und Nase, wenn wir sie zur Übung umbunden. Dabei saßen wir eng gedrängt im Keller der Treibeschule, auf einfach gezimmerten Holzbänken.
Ich erinnere mich auch an öffentliche Veranstaltungen, bei denen es um andere Schutzmaßnahmen, um Feuerlöschübungen ging. So sah ich zum Beispiel auf der Steingrube eine Aktion, bei der uniformierte Männer den Umgang mit Handspritzen zeigten. Sie demonstrierten, wie man Feuer mit Wasser löschen oder Flammen von Brandbomben mit Sand ersticken soll.

Ich beoachtete das Aufstellen von Löschwasserdepots, Betonringe (Kanalrohrelemente) von gut einem Meter Durchmesser, mit Wasser gefüllt standen sie an vielen Straßenecken.

Den Bau von Bunkern und Stollen im Liebesgrund zu beobachten gefiel mir. Ich erinnert mich an das Ausschachten von Schutzgräben, die dann mit Hölzern verbaut und mit Erdreich abgedeckt wurden. Am Anfang des Liebesgrunds, am Hagentor, wurde eine Feuerlöschteich gebaut. Wir Kinder aus der Nachbarschaft schauten zu. Meine besondere Aufmerksamkeit galt den Loren, mit denen die Erde abtransportiert wurde und dem ratternden Betonmischer, riesig groß habe ich sein Bild noch immer vor Augen.

Das Zuschauen beim Bau der Splitterschutzgräben, die wir Bunker nannten, der Stollenbau im Liebesgrund oder der Feuerlöschteich auf dem Neustädter Markt, ebenso in der Sedanstraße, wurden mit staunender Bewunderung wahrgenommen, nicht aber als Vorzeichen nahender Gefahr verstanden.

Bis zum März 1945 verband ich die aus heutiger Sicht bedrohlichen, damals allgegenwärtigen Zeichen der Gefahr nicht mit einer unmittelbar bevorstehenden Katastrophe.

Sandkästen, gefüllte Wassereimer, daneben Spritze und Feuerpatsche standen vor den Korridoren aller Häuser, auch auf dem Podest vor der Tür zum Dachboden und auf dem Boden des Hauses in dem wir wohnten. Es war nicht unterkellert, weil dort, wie mein Vater erzählte, im Untergrund die Treibe fließt. Im Erdgeschoss des Hauses befanden sich große leer stehende Geschäftsräume. Die Schaufenster waren restlos ausgeräumt, die Ladentür immer verschlossen.

Auf der Hofseite gab es ein Hintereingang zum Laden. Dort war es stets dämmerig. Tageslicht fiel nur durch wenige kleine Fenster. Die großen Schaufenster an der Straßenfront trugen kaum zur Beleuchtung des Raumes bei. Von den ausgeräumten schwarzen Regalschränken an den Wänden, den einstigen Verkaufstresen und anderen Einrichtungsgegenständen sowie der Unüberschaubarkeit des Raumes ging etwas Unheimliches aus. Als ich das erste Mal dort war, meinen Vater begleitend, spürte ich Unbehagen, glaube dass wir etwas Unerlaubtes täten.
Die Geschäftsräume gehörten der Firma Bonnhoff und Strüber. Heute stellt sich mir die Frage, ob die Geschäftsaufgabe etwas mit antijüdischen Repressionen der Nazis zu tun hatte.

Eines Tages durchbrachen Arbeiter die Wand in einer Ecke des Ladens. Sie schufen einen Durchgang zum Kellergewölbe des Nachbarhauses (Gaststätte Albrecht). Dort sollte unser Luftschutzkeller entstehen.

Von unserer Haustür aus, konnten wir den Keller schnell erreichen; die Außentreppe hinunter, ein paar zusätzliche Stufen tiefer zur Hintertür des Ladens. Hier trennten übereinander gestellte Tresen einen Gang ab. Dann stand man vor der stabilen Luftschutzkellertür, mit den schweren Eisengriffen. Im Keller gab es eine zweite Tür dieser Art. Sie führte in den Flur des Hauses Albrecht und weiter zur Michaelisstrasse.

Das massive Kellergewölbe war weiß gekalkt. Dicke Balken und runde Holzstützen sollten das Gewölbe gegen Einsturz sichern. Mein Vater hielt diese Sicherungsmaßnahme für überflüssig und verwies auf die stabilen und dicken Mauern. Dabei stand er in der Türleibung und zeigte mit ausgebreiteten Armen die Mächtigkeit der Wand an.

Beim Umbau des einstigen Vorratskellers zum Luftschutzraum hatte man die alten Eisengitter der Fensteröffnungen durch stabile Klappen ersetzt. Eins der Fenster war als Notausstieg hergerichtet worden. Zum Hinaufklettern gab es in der Wand Eisenbügel.

Der hintere Teil unseres Luftschutzkellers war mit einem Lattenverschlag abgetrennt. Dort lagerten Vorräte des Hausbesitzers. Eine ähnliche, jedoch kleinere, schrankartige Abtrennung gab es nahe der beiden Türen. Darin hingen Lösch- und Rettungsgeräte, ein Zinkeimer und eine Axt, lagen warme Decken, und - wie man so sagt - alles für den Notfall. Entlang der Außenwand des Kellers, unter den Fenstern standen aus rohen Brettern gezimmerte Pritschen. Darauf saßen wir bei Alarm, still und schweigend bis die Sirenen Entwarnung heulten. In der Mitte, am Stützbalken stand ein mit Wasser gefüllter Holzbottich.

Meine Mutter fühlte sich in unserem Keller überhaupt nicht sicher. Deshalb ging sie mit mir, wann immer Zeit dazu blieb, an vermeintlich sichere Orte, oft in den Keller des Josephinums, häufiger noch, in einen bestimmten Stollen im Liebesgrund.

Mit Schrecken erlebte ich im Josephinum-Keller einmal das Eintreffen eines Mannes mit blutendem Kopf und zerschundenem Gesicht. Uniformierte Helferinnen brachten ihn herein. Er schimpfte lauthals über eine Baustelle, mitten auf dem Bürgersteig. Bei völliger Dunkelheit war er auf der Straße plötzlich in eine Grube gefallen. Ich machte mir darüber Gedanken. Könnte uns ein solches Unglück vielleicht auch passieren? Nicht immer zündeten wir draußen unsere kleine Petroleumlampe an, die wir nachts zwar mitnahmen, aber wegen der Verdunkelungsvorschrift nicht anzuzünden wagten.

Ein andermal saß im Josephinum-Keller neben uns eine Frau, die ihren Kopf unter einer mehrfach gefalteten Wolldecke verbarg. Vorn über gebeugt, die Ellenbogen auf den Knien, stützte sie ihren Kopf seitlich mit den Händen und drückte ihre graue Decke fest an sich. In stiller Beobachtung fand ich dafür eine Erklärung. Wenn eine Bombe über uns explodiert, bei einem Volltreffer, schützt die weiche Decke gegen herabfallende Steine. Erst später verstand ich den wahren Grund. Die Menschen hielten sich die Ohren zu, weil sie aus Angst das herannahende dumpfe Brummen der Bombergeschwader nicht mehr hören, nicht mehr ertragen konnten.

Beklemmende Gefühle, still ertragene Belastungen entwickelten sich zur Furcht, nachdem erste vereinzelte Bomben auf Hildesheim niederfielen. Einige Stellen, an denen sie explodiert waren, zeigte mir mein Vater. So gingen wir zum Beispiel zum Eisteich. Vom Damm aus, zwischen Innerste und Überlaufbecken, sahen wir einen Bombentrichter auf der Wiese. Leute standen in der Nähe, gingen wie wir die Böschung des Damms hinab, an den Rand des Trichters, staunten über die Tiefe des Lochs und die gewaltigen Menge Erde, die durch die Detonation aufgeworfen worden war.

In der Goslarschen Straße, etwa in der Nähe Immengarten, war ein Wohnhaus getroffen worden. Ich sah das offene Treppenhaus, die zur Hälfte eingestürzten Wände, den Schutthaufen aus Ziegelsteinen, verbogenem Eisenträgern und zerborstenem Holz. In der Günther-Straße lag eine ganze Häuserzeile in Trümmern. Dort, unter einem der zerstörten Fachwerkhäuser starb eine Bekannte meiner Mutter. Ich mochte sie gern, hatte sie Kleine Oma Minna genannt. Damals begannen die Albträume: Verschüttet und hilflos eingeklemmt lag ich unter Trümmern.

Sprengbomben verursachen Schreckliches, erkannte ich je. Aus Angst wollte ich abends zum Schlafen nicht mehr allein in meinem Zimmer sein. Selbst wenn ich wusste, dass meine Mutter gleich nebenan in der Schneiderwerkstatt arbeitet oder im elterlichen Schlafzimmer war, fürchte ich mich. Deshalb ließ sie die Türen immer einen Spalt breit offen.

Als ich einmal abends aufstand, sah ich verwundert meine Mutter samt Radio, halb unter einer Wolldecke verborgen. Sie hörte den Feindsender, die Meldungen des Londoner Rundfunks, die stets von einem markanten Trommelsignal eingeleitet wurden. Also machte meine Mutter etwas Verbotenes und so Gefährliches, dass selbst mein Vater am liebsten nichts davon wissen wollte. Niemand durfte davon erfahren. Anderen gegenüber Stillschweigen darüber zu bewahren war das aller Wichtigste, also sprachen wir in der Familie am besten nicht weiter darüber.

Es kam die Zeit, als es regelmäßig, Nacht für Nacht, Fliegeralarm gab. Meine Mutter zog mich dann in aller Eile an. Oft schlief ich noch halb. Wir schnappen unsere bereitliegende Umhängetasche. Sie enthielt die wichtigsten Papiere, das Familienstammbuch, Sparbücher und andere Dokumente. Mit Wolldecken, Sitzgelegenheiten bepackt machten wir uns dann auf den Weg zu einem Stollen iim Liebesgrund. Wir gingen immer in denselben Stollen. Es war der zweite nach dem Schwungseil.
Wir aßen möglichst immer an einen Platz, von dem aus wir der Ausgang sehen konnten.

Mein Vater begleitete uns nie, blieb nachts stets zuhause und berief sich auf seine Aufgaben als Luftschutzwart. Doch das scheint mir eine Ausrede gewesen zu sein, denn er zog sich bei Alarm oft gar nicht an und wenn wir müde zurückkehrten empfing uns im Schlafanzug oder lag schon wieder im Bett.

Die Sirenen heulten bald auch tagsüber häufiger. Oft kehrte ich auf meinem Schulweg um und lief zurück nach hause. Am Tage schien mir alles viel weniger gefährlich zu sein. Bei Voralarm verließen wir oft mit dem Fahrrad die Stadt, hielten uns im Freien auf bis die Entwarnung kam. Dabei begleitete uns auch mein Vater.

Bei dem Angriff auf die Senking-Werke waren wir, in unserer Wohnung. Viele Einzelheiten haben sich mir tief eingeprägt:
Meine Mutter rennt, mich mit sich zerrend durch den langen Flur zum Treppenhaus. Auf den ersten Stufen angekommen hören und spüren wir die Detonationen. Glas splittert. Ein Fensterflügel fliegt uns entgegen und zerbricht vor uns auf dem Treppenpodest. Mein Vater, schon unten an der Haustür, schreit warnend etwas zu uns hinauf. Ich werde von meiner Mutter zurück in den Wohnungsflur gerissen. Sie drückt mich in eine Ecke auf den Fußboden, liegt schützend über mir. Ich spüre die Erschütterungen. Das Haus erbebt. Dann, eben noch ohrenbetäubenden Krachen, plötzliche Stille. Wir eilen über die mit Scherben bedeckten Treppenstufen hinab. Außen vor der Haustür liegen zerschlagen Dachsteine. Wir hasten zum Luftschutzkeller. Mein Vater kommt uns entgegen und öffnet die schwere Tür. Wieder vermeidet er es, mit uns hinein zu gehen.
Dann kommt er zurück, stützt, trägt mehr, eine verletzte Frau. Gesicht und Hände blutverschmiert, liegt sie auf der Holzpritsche. Ihre Kleiderschürze ist zerrissen. Am schlimmsten blutet ihr Bein – herumfliegende Glassplitter, wie auf unserer Treppe, denke ich.

Die Schäden am Haus wurden repariert, Glas aus Bilderrahmen genommen und in Fenster gesetzt. Durch Beziehungen erhielt mein Vater Dachziegel und einen Arbeiter zugeteilt, vielleicht war es ein Kriegsgefangener. Jedenfalls sprach er nicht deutsch, war freundlich zu mir, lachte mich beim Essen am Küchentisch an und blieb mir dennoch fremd.
Auch der Arbeiter in der Drahtfabrik Wolf und Hahn, in einem Hintergebäude unseres Hauses, bleib mir fremd, obwohl ich ihm oftmals bei der Arbeit zusah. Ich sah ihn immer allein arbeiten. Oft bediente er eine Maschine, die Maschendraht strickte. Einmal zeigte er mir, wie ich flache oder winkelförmige Eisenstangen in eine Vorrichtung stecken muss, damit er sie durch Herunterziehen eines langen Hebels durchschneiden kann. Vor seiner Werkstatt sah ich ihn einmal Mengen von Drahtringen anfertigen. Damals wusste ich nicht, dass sie für Uniformmützen bestimmt waren, aber lernte immerhin, wie man gleichmäßig große Ringe aus Draht biegt. Er erklärte es mir, obwohl ich seine Worte nicht verstand.

Die Auswirkungen des Bombardements am Hause Langer Hagen 62 scheinen geringfügig geblieben zu sein. Zerbrochen Fenster, ein Loch im Ziegeldach. Fast nicht zu glauben, dass ein zerrissenes Teerfass das Dach des Hauses durchschlug, ein ellenlanges Stück einer Eisenbahnschiene im Garten lag, obwohl die bombardierten Senking-Werke fast einen Kilometer entfernt lagen.

Zum Schrecken meiner Mutter brachte mein Vater eine Stabbrandbombe, die er im Garten gefunden hatte mit in die Wohnung. Diese Dinger waren etwa 45 cm lang, sechseckig im Querschnitt, an einem Ende schwer wie Eisen, am anderen leicht und aluminiumfarben. Mein Vater nahm den Blindgänger, trug ihn ans Fenster und ließ die Bombe vom zweiten Stock auf das Pflaster fallen. Meine Mutter schrie und hielt mich zurück. Der Blindgänger schlug unten hart auf, und - blieb was er war.

Als im rekonstruierten Knochenhaueramtshaus das Stadtgeschichtliche Museum eingerichtet wurde und ich dort ausgestellte Bomben sah - sie sollten den Untergang von Alt-Hildesheim dokumentieren - verließ er kehrtwendend das Haus. Bald darauf schrieb ich über das schrecklichste Erlebnis seiner Kindheit:

Am 22. März 1945 gingen wir bei Voralarm, und deshalb ohne besondere Eile zum nahe liegenden Liebesgrund, zu „unserem“ Stollen, der etwa auf halber Strecke zwischen dem Schwungseil und dem Schneidlerschen Graben lag. Dort im Berg unter dem Michaelishügel war es immer feucht und dunkel, deshalb setzten wir uns an diesem sonnigen Vorfrühlingstag zunächst vor den Stolleneingang. Vielleicht war es der Sonnenschein, der meine Mutter den Entschluss fassen ließ, noch einmal schnell nach Hause zu laufen, um dort Vorbereitungen für eine Flucht mit dem Fahrrad zu treffen. Schon oft zuvor waren wir bei Alarm aus der Stadt gefahren und hatten uns draußen stets sicherer und freier gefühlt als in den Luftschutzbunkern. Sie brachte mich vorsorglich in den Stollen und dort wartete ich, still auf meinem Kinderstühlchen sitzend, auf ihre Rückkehr. Zu meinem Erstaunen kam nicht sie, sondern mein Vater, sagte, dass meine Mutter bereits mit dem Fahrrad nach Borsum voraus gefahren sei, wir ihr folgen wollen, aber zuerst unsere Räder von zuhause holen müssten.

An den schon im Hof bereitgestellten Fahrrädern gingen wir jedoch vorbei, nach oben in die Wohnung, um schnell noch etwas zu essen. Inzwischen war Vollalarm gegeben worden. Wir hörten Flugzeuge, Abfangjäger, wie wir glaubten. Die Zeit drängte und ich saß am Küchentisch vor einem Teller mit diesem scheußlich schmeckenden Gericht aus zusammengekochten Birnen und Kartoffeln,das Himmel und Erde genannt wird. Endlich wieder im Hof bei den Rädern, gerade hatten wir unsere Tasche mit den Papieren an den Lenker gehängt, sahen wir die „Tannenbäume“ vom Himmel schweben. Es waren also feindliche Flugzeuge, die wir hörten und jetzt auch sahen. Sekunden später erreichten wir die Tür des Luftschutzraums. Die ersten Bomben detonierten, bevor die Tür hinter uns verriegelt war. Er dröhnte und bebte. Druckwellen und Staub raubten mir fast den Atem. Schemenhaft sah ich meinen Vater und einen uniformierten Mann beim Versuch, die Tür zu schließen. Es gelang ihnen. Der stockdunkle Keller zitterte und bebte. Es krachte pausenlos. Mehrmals so gewaltig, dass die Tür wieder aufsprang. Ich konnte nichts sagen. Nicht weinen, absolut nichts – saß wie erstarrt auf der Pritsche nahe der Tür. Sie soll nicht noch einmal aufspringen, konnte ich lediglich denken.

Das Beben klang plötzlich ab, entfernte sich. Ich konnte erkennen, dass jemand an der geöffneten Kellerfensterklappe stand. Die zweite Kellerausgangstür stand nun weit offen ohne dass Staubwolken herein gedrückt wurden. Die Tür führte in das Nachbarhaus. Der Uniformierte war nicht mehr da. Weit in der Ferne krachte es noch ein- zweimal, längst nicht mehr so unerträglich laut. Jetzt hörte ich ein eigenartiges Prasseln, ein Bersten und Brechen.

Mein Vater legte mir eine Wolldecke um, drückte mir ein nasses Tuch vor Mund und Nase. Jetzt konnte ich besser atmen, saugte ein wenig Wasser ein, um den Staub hinunterschlucken zu können. Alles ging ganz schnell. Auf einmal hatte ich einen viel zu großen Luftschutzhelm auf dem Kopf und stieg über zerborstene Türen und an umgestürzten Möbelteilen vorbei durch den Hausflur. Einen Augenblick verharrten wir in der Haustüröffnung, die zur Michaelisstrasse führte. Wir stiegen über Trümmer und brennende Balken, waren im Langen Hagen. Irgendwo knallte und knatterte es wie Gewehrfeuer. Ich fürchte mich davor, sah nicht noch oben, achtete nicht auf den Weg, die mit Trümmern überschüttete Straße. Dann lag vor uns der freie Platz, der Anfang vom rettenden Liebesgrund. Ich sah keine Menschen dort, registrierte aber das wechselnde Licht des Feuerscheins ringsherum und den unwirklich verdunkelten Himmel. Wir gingen an Bombentrichtern vorbei, die fast die ganze Breite der Schützen-Allee einnahmen.

Nahe der Innerstebrücke lag auf der Straße etwas Brennendes. Ich dachte es sei eine dieser furchtbaren Phosphorbomben, über die ich reden gehört hatte. Vor der Pappelallee angekommen, wies mich mein Vater an, mich auf die Erde zu legen und dort auf seine Rückkehr zu warten. Er wollte versuchen noch einmal zurückzugehen, um eventuell etwas aus dem Haus zu retten.

Später habe ich oft darüber nachgedacht, wie lange ich wohl dort am Straßenrand allein geblieben war, aber ich konnte nicht einmal herausfinden, ob mir die Zeit des Alleinseins lang erschien oder nicht. Das Zeitgefühl schien verloren gegangen zu sein. Möglicherweise saß ich dort völlig verstört vor mich hinstarrend und erwachte erst wieder als mein Vater unverrichteter Dinge zurück kam. Schließlich gingen wir gemeinsam den Schwarzen Weg (die B1) an der Innerste entlang. Am Ufer gegenüber, am Damm der Hafenbahn, lagen zwei Menschen regungslos in der Nähe von Bombentrichtern und unmittelbar vor mir plötzlich etwas, von dem ich nicht mehr genau weiß, ob es tatsächlich das war, was ich glaube gesehen zu haben. Durch jahrelanges Schweigen über diesen Anblick hat sich das Bild Gott sei Dank verwischt.

Wir gehen zur Peiner Landstraße. Dort etwa wird Mama beim Angriff gewesen sein. Durch die Stadt können wir nicht. Wir gehen außen herum“, waren wohl etwa die Worte meines Vaters, als mir in Richtung Fünf-Bogen-Brücke gingen. In der Nordstadt wohnten gute Bekannte meiner Eltern. Wir trafen sie zuhause an, nicht aber meine Mutter. Vorsorglich hinterließen wir eine Nachricht für sie und zogen suchend weiter.

Wieder fehlt ein Stück meiner Erinnerung. Ich habe wohl nicht bewusst erlebt, wie wir schließlich zu Verwandten auf den Moritzberg gelangten. Dort sah ich meine Mutter wieder. Glücklicherweise war sie mittags mit ihrem Fahrrad schnell vorangekommen und hatte beim Luftangriff bereits außerhalb der Stadt, im Graben der Landstraße Schutz gefunden. Voller Sorge um uns war sie dann um die zerbombte Stadtmitte herum gegangen, hatte, wie wir später, in der Nordstadt nach uns gesucht und unsere Nachricht erhalten.

Am Abend des 22. gingen wir noch einmal in einen Luftschutzraum, in den Bunker unmittelbar unterhalb des Berghölzchens. Dort sah ich viele Uniformierte und es hieß, dass der Bunker normalerweise nicht öffentlich zugänglich sei. Die unterirdischen Räume habe ich strahlend weiß und hell beleuchtet in Erinnerung, ganz anders alle Bunker und Luftschutzkeller, die ich bis dahin gesehen hatte.

Draußen am Waldrand herrschte bedrückende Dunkelheit. In kleinen Gruppen standen schweigende Menschen, sahen fassungslos auf die brennende Stadt. Ich sah den vom Feuer rot beleuchteten rauchschwarzen Himmel.

Tage und Wochen später, wir waren bei Verwandten auf dem Lande untergekommen, erreichten uns immer wieder neue Schreckensnachrichten. Ich hörte über die Schicksale von Nachbarn und Bekannten, erfuhr von den vielen Toten, die aus den Kellern im Langen Hagen geborgen wurden, sah nach dem Ende des Krieges die Trümmerlandschaft und war dankbar, so glimpflich davongekommen zu sein.

Bürgerreporter:in:

Rolf Schulte aus Hildesheim

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