Unsere kleine Strasse

Als wir vor nunmehr rund 40 Jahren ein Häuschen hier im Neubaugebiet bezogen, gingen unsere beiden Kinder noch zur Schule. Wir waren, ebenso wie alle anderen Zugezogenen in den besten Jahren – wie man so sagt. Aus den herangewachsenen Kindern wurden jungen Leute. Bei uns und bei den Nachbarfamilien. Die Jugend verließ ihr Elternhaus, blieb der Liebe wegen in ihren Studienorten oder fand außerhalb ihres Geburtsortes Arbeit und gründete dort ihre eigene Familie. Fast unmerklich wurde es in der Nachbarschaft stiller und stiller.

Manches hat sich also in unserer kleinen Stichstrasse verändert. Junge gingen, Alte blieben. Immerhin, man kennt sich und spricht gelegentlich ein paar Worte miteinander.
Gerade noch rechtzeitig, bevor wir völlig von gleichaltrigen renten- oder pensionsbeziehenden Nachbarn umgeben sind, freuen wir uns über einige junge Familien, die nun hierher gezogen sind. Jetzt sehen wir unsere stille Straße nicht mehr als Altenheim-Depondanz. Kinder sind nun wieder in unserer Nähe. Zwei junge Ehepaare mit Zwillingen, drei weitere mit bald schulpflichtigen Kindern in nachbarschaftlicher Nähe erfreuen uns. Gern hören wir die Kinderstimmen, wenn die Kleinen im Garten spielen, wenn sie am Haus vorbeirennen oder die Straße hinunter rollern. Salim sehen wir glücklich, wenn er von seinem Papa vom Kindergarten abgeholt wird, besonders wenn es dabei Huckepack nach hause geht.
Heute am frühen Morgen kam ich auf dem Weg zum Arzt an einem etwas weiter entfernt liegenden Grundtück vorbei, sah wie ein kleines Mädchen aus der Haustür hüpfte. Ich hörte sie freudig sagen: „Wir fahren in Italien.“ Dabei blickte das Kind zurück zur Tür. Dort erschien nun ein etwa fünf bis sieben Jahre altes Mädchen, begleitet von einer jungen Frau.
Wem galt aber diese freudige Mitteilung über die bevorstehende Reise? Mir, dem zufällig vorbeigehenden fremden alten Mann wohl nicht. Dennoch antwortete ich halblaut: „Das ist aber schön.“ Die junge Frau lächelte verlegen - etwas irritiert vielleicht?
Der freudige Ausruf ihrer Tochter galt schließlich nicht mir, aber ebenso wenig den beiden Männern am Auto vor der Garage. Weder für diese, noch für Mutter oder Schwester war der Aufbruch zur Reise schließlich keine Neuigkeit. Das glückliche Kundtun war überhaupt nicht an jemanden direkt gerichtet. Es geschah aus purer Freude. Sie übertrug sich auf mich. Ich danke dir, mein liebes Kind, dass du mich an deinem Glücklichsein teilhaben ließest.
Zurückgekehrt in unsere kleine Strasse, freute ich mich über Salim, der mich mit seinem Roller bis vor meine Hautür begleitete.
„Na, das macht wohl Spaß, bei dem schönen Wetter draußen zu rollern?“ Salim schaute strahlend zu mir hoch.
Meine Frau erwartete mich schon im Vorgarten. Sie sprach den schwarzhaarigen Lockenkopf ebenfals an. „Natürlich macht das Spaß, das sehe ich dir doch an.“ Erneut war ein glückliches Kindernlächeln die stille Antwort. „Wie ein kleiner Engel siehst du aus, wenn du so lächelst.“ „Du bist doch ein kleiner Engel, nicht wahr?“
Die Reaktion kam mit einem zaghaften Blick als Frage daher: “Sind Engel denn immer klein?“
„Nein es gibt auch große, aber du bist ja noch klein, ein kleiner Engel eben.“
„Frag mal deine Mama, die nimmt dich in den Arm und sagt bestimmt zu dir, ja du bist mein kleiner Engel.“
Salim kam näher heran, schaute uns aus dunklen Augen einen Moment an.
„Und ihr seid alt. Ihr sterbt bald und dürft bei Gott sein.“
„Wir sind aber viel lieber hier in unser‘m Garten!“ Etwas verunsichert zupften wir hier und da ein Unkraut. Der Junge rollerte fröhlich heim.

Vielerlei ging uns durch den Kopf. Zuerst der weise Spruch: Kindermund tut Wahrheit kund. Salim hat es gut gemeint, dessen sind wir sicher. Wollte er uns mit Zuversicht über das Altsein hinwegtrösten? Wenn es für den kleinen Engel (mit dem B davor) eine schöne Vorstellung wäre, bei Gott zu sein, und er uns dieses in Aussicht stellte. berührte er unwissend ein Tabu. In unserer Gesellschaft weist man aus Sensibilität nicht auf das künftige Sterben hin. Der Glaube an ein Fortbestehen, die Auferstehung oder Wiedergeburt ist dafür im Allgemeinen nicht gefestigt genug. Das mag in anderen Kulturkreisen anders sein. Immerhin gibt es genügend Beispiele. Manche Nachrichten und Bilder im Fernshen zeugen davon. Attentäter verbreiten Schrecken, morden und zerstören sich und andere Menschen in der Hoffnung, gleich nach ihrer Selbsttötung bei Gott sein zu dürfen. Sie handeln offenbar in Hoffnung auf Gottgefälligkeit so.

Heute Morgen liegt einsam und vergessen ein Roller auf der Straße. Eine Nachbarin weiß, wem er gehört und dass die Familie mit dem kleinen hübschen Salim offenbar zu einer Autoreise aufgebrochen ist. Die Pfingstfeiertage beginnen.
Die Abendnachrichten melden Staus auf allen Autobahnen. Wir bleiben zu hause, in unserer kleinen Strasse, fahren lieber nicht in Italien.

Bürgerreporter:in:

Rolf Schulte aus Hildesheim

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