Vortrag zu den Mühlenarbeitern im 19./20. Jahrhundert

Reinhard Tegtmeier-Blanck, Freiwilliger Müller an der Bockwindmühle Wettmar
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Im Rahmen der Sonderausstellung „Mühlen in der Wedemark“ im Heimatmuseum Wedemark-Bissendorf referierte Reinhard Tegtmeier-Blank zu den Arbeitsverhältnissen der Mühlenarbeiter im 19./20. Jahrhundert.
Während wir heute noch viele Unterlagen zu den ehemaligen Mühlenbesitzern und Ihren Familien finden können, sieht es bei Ihren Arbeitern ganz anders aus. Ihre Geschichte ist kaum bekannt und es gibt nur wenige Aufzeichnungen über Ihre harten Arbeits- und Lebensbedingungen.
In den Handwerksmühlen, also den kleineren Wind- und Wassermühlen, arbeiteten sie für wenig Lohn; Kost und Logis wurden von diesem noch extra abgezogen.
In den aufkommenden Industriemühlen war die Entlohnung etwas besser, aber auch hier waren die Arbeitsbedingungen aus heutiger Sicht unvorstellbar schlecht.
In seinem Vortrag veranschaulichte Reinhard Tegtmeier-Blanck dieses Thema sehr gut und zeigte auf, dass es in vergangener Zeit keinen Platz für den heute oft benutzten Begriff “Mühlen-Romantik“ gab.
Vielen Dank Reinhard für diesen Einblick in den Alltag der Mühlenarbeiter, der in dieser Form selten aufgezeigt wird und doch ein wichtiger Teil zum Gesamtbild der Mühlen darstellt, nicht nur in der Wedemark…

Und hier nun, in Auszügen, zum Vortrag unter der Überschrift
„Nirgends existieren solche Mißstände wie im Müllergewerbe…“

Auszug aus einer Rede des Delegierten von Nürnberg-Fürth auf dem Gründungskongress des „Verbandes der Müllergesellen“ in Eisenach 1889:
Es ist vielfach die Meinung verbreitet, dass die Lage der Müllergesellen eine ziemlich behäbige sei, was jedoch keineswegs der Fall ist. Nirgends existieren solche Mißstände wie im Müllergewerbe, wo man das vielgerühmte patriarchalische Verhältnis noch mit all seinen Nachteilen für die Arbeiter findet. In keinem Lande Deutschlands steht die Bezahlung und Verpflegung der Müllergesellen in einem nur annähernd richtigen Verhältnis zu diesem gesundheitsschädlichen, gefahrvollen Berufe. Am Schlimmsten liegen die Verhältnisse in Schlesien, wo das Zunftwesen noch in voller Blüte steht. Dortselbst findet man an jeder Mühle ein gedrucktes Plakat, auf dem es heißt:
„Müller, die nicht im Besitz eine Lehrbriefes oder ordnungsgemäßer Papiere sind, haben keinen Anspruch auf das übliche Geschenk“

Bericht eines Müllerburschen, Nähe Chemnitz 1872, Veröffentlicht in der SPD-Zeitung „Der Volksstaat“
Betrachten wir uns also das Thun und Treiben in einer Fabriksmühle ! Sagen wir, es ist eine Mühle von 8 Gängen. In einer solchen sind in der Regel, einschließlich des Knappen (Werkführers), 5 Arbeiter beschäftigt. Der Knappe hat die Arbeit auszuteilen (was stets so geschieht, dass er davon frei bleibt) (…) Die gewöhnliche Arbeitszeit beträgt täglich 16-18, auch 20-24 Stunden; es wird Tag und Nacht gearbeitet, Sonn- und Feiertage nicht ausgenommen. Während der Gottesdienstzeit, wo der Betrieb des Geschäftes gesetzlich verboten ist, stehen zwar die Räder stille, allein die Arbeiter sind gezwungen, andere Verrichtungen zu tun, die weniger Geräusch verursachen. Die Einteilung der Arbeitszeit ist im Allgemeinen folgende: Abend 7 oder 8 Uhr begeben sich 2 Mann zur Ruhe (…) (in den meisten Mühlen ist es nicht erlaubt auszugehen); die Lagerstätte besteht in der Regel aus einem alten, mit Kleie ausgestopften Sacke, Betten sind für die Müllerburschen ungekannte Dinge. (Die Mühlenbesitzer sagen, in Betten würden die Leute zu faul, würden zu lange schlafen und dergleichen !) So liegen denn die armen Burschen bis ungefähr nachts 1 Uhr auf ihrem Kleiensacke, dann heißt es wieder „auf“ und die beiden anderen Arbeiter, welche zuvor gearbeitet haben, sinken auf dieselben Säcke hin, welche von den vor Mitternacht Schlafenden verlassen wurden. Dabei kommt es oft vor, dass Ihnen die Augen so sehr brennen, dass sie trotz aller Müdigkeit nicht schlafen können und erst Umschläge mit Wasser machen müssen. Früh 7 Uhr hat die ganze Mannschaft wieder an der Arbeit zu sein. Also von Morgens 7 Uhr bis Abends 7 oder 8 Uhr wird mit der ganzen Mannschaft gearbeitet, und außerdem muss noch die Hälfte von Abends bis Mitternacht und die andere Hälfte von Mitternachts bis Morgens arbeiten. Es ist geradezu haarsträubend. Durch diese schreckliche Behandlung der Arbeiter sind dieselben aber auch ganz und gar feig und charakterlos geworden, sie wagen es kaum, ihrem Chef in das Gesicht zu blicken. Wenn derselbe in die Mühle kommt, dann wird ihm demutsvollständiger Gruß gebracht und mit Angst erwartet man die allenfallsige Erwiederung desselben. Erfolgt eine solche, dann ist man froh, weil man annimmt, daß der „Herr“ bei guter Laune sei; wird der Gruß aber nicht erwidert, dann verkriecht man sich scheu in die Winkel und denkt mit Entsetzen an eine allenfallsige Entlassung.

Überblick der historischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhänge 1789-1914
Politische Geschichte
• 1789 Französische Revolution
• 1806 Napoleon
• 1815 Wiener Kongress
• 1832 Hambacher Fest
• 1848 Revolution (Paulskirche)
• 1849 die Revolution scheitert
• 1871 Reichsgründung
• 1878 (bis 1890) Sozialistengesetz
• 1890 Bismark wird entlassen
Wirtschaft und Technik
• 600 n.Chr. erste Wassermühlen
• ab 1300 erste Windmühlen
• 1769 James Watt Dampfmaschine, Beginn der Industriellen Revolution in England
• 1820 Mahlstuhl (das Getreide wird zwischen rotierenden Stahlwalzen gemahlen)
• 1835 erste Eisenbahnlinie Nürnberg-Fürth
• ab ca. 1860 Übergang zur Industriemühle
• ab ca. 1880 Industriemühlen
• 1882 z. B. Hannoversche Brotfabrik AG (HABAG) – Dampf-Mahlmühle und Brotbäckerei
• 1892 Elektro-Motor
• 1899 Benzinmotor
Sozialgeschichte
• 1568 Ständebuch: Der Müller
• 1816 Wanderbuch der Müller
• ab 1860 aufkommende Industriemühlen bedrängen die Existenz der Handwerksmühle
• ab 1889 freie Gewerkschaften (Unterstützungskassen) im Mühlenbereich

Zusammenfassung:
• das 19. Jahrhundert war geprägt durch eine revolutionäre Bewegung von der Französischen Revolution 1789 bis zur gescheiterten Revolution von 1848
• danach folgte eine konservative Entwicklung bis zum 1. Weltkrieg
• gleichzeitig gab es eine gewaltige wirtschaftliche Entwicklung
• Deutschland war ab 1890 kein agrar-geprägtes Land mehr, sondern entwickelte sich zum Industriestaat
• Die Bevölkerung wuchs gewaltig und die Gesellschaft des Kaiserreiches wurde geprägt durch die Arbeitermassen der aufstrebenden Industrie
• Politisch war damit die Entwicklung von linken Parteien (z.B. SPD) und freien Gewerkschaften verknüpft

Mühlen- und Mühlenwesen im 19. Jahrhundert
Anzahl der Mühlen im Deutschen Reich 1895
Windmühlen: 18362
Wassermühlen: 54529
Dampfmühlen: 58630

Betriebsgrößen von Mühlen in Deutschland 1902 – 1907
Nebenerwerb 16888 - 15787
1-4 Arbeiter 9688 - 8879
3-5 Arbeiter 4613 - 4194
5-10 Arbeiter 1013 - 985
11-20 Arbeiter 609 - 604
21-50 Arbeiter 294 - 289
mehr als 50 Arbeiter 106 - 122

Untersuchungen zur Lebens- und Arbeitssituation im 19. Jahrhundert
Untersuchungen zur Lebens- und Arbeitssituation von (Mühlen)Arbeitern wurden z. b. durchgeführt und publiziert von
Friedrich Engels – Die Lager der arbeitenden Klasse in England, 1845
Karl Marx – Die Brotfabrikation, 1862, Bericht über die Arbeitssituation der Londoner Bäcker
August Bebel – Zur Lage der Arbeiter in den Bäckereien, 1890
Hermann Käppler – Arbeitsverhältnisse der Müller Deutschlands, 1892
Adam Remmele – Die Lage der Mühlenarbeiter Deutschlands, 1906
Richard Calwer – Das Kost- und Logiswesen im Handwerk, 1908

Arbeitszeit in deutschen Mühlen
Arbeitszeit in deutschen Mühlen, Umfrage von Adam Remmels 1890, veröffentlicht 1906
Tägliche Arbeitszeit %-Anteil der Mühlenbetriebe
12 Stunden 13,3
14 Stunden 14,4
16 Stunden 11,8
18 Stunden 45,4
19 Stunden 7,7
36 Stunden 7,2
(Schichtbetrieb)

Sonntagsarbeit in deutschen Mühlen

Arbeitsstunden am Sonntag %-Anteil der Mühlenbetriebe
keine Sonntagsarbeit 11,2
6 Stunden 5,9
12 Stunden 15,4
17 Stunden 7,9
24 Stunden 52,5

Zusammenfassung:
• 39% der Mühlenarbeiter arbeiten 1890 zwischen 12 und 16 Stunden pro Tag, sechs Tage in der Woche
• 45% der Mühlenarbeiter arbeiten 1890 18 Stunden pro Tag, sechs Tage in der Woche
• dem Rest der Mühlenarbeiter geht es 1890 noch schlechter…

Ruhepausen, Freizeit, Urlaub
• Ruhepausen gab es zwar in kleineren Mühlen, z. B. zum Essen, in den Industriemühlen waren sie unbekannt
• Freizeit nach Feierabend oder am Wochenende gab es wegen der langen Arbeitszeiten oder der Sonntagsarbeit nicht oder kaum
• Urlaub in unserem heutigen Verständnis gab es nicht

1901: Als erste Stadt gewährte Charlottenburg den Gemeindearbeitern nach zweijähriger Dienstzeit eine Woche Jahresurlaub
1901: nach 15 Jahren Betriebszugehörigkeit erhielten Arbeiter in den Artillerie-Werkstätten in München 3 Tage Jahresurlaub

Arbeitslöhne
Vergleich der Wochenlöhne 1902
Müllergesellen (Handwerksmühlen)
6 Mark - 3,1%
8 Mark - 24,0%
11 Mark - 40,2%
14 Mark - 8,6%
16 Mark - 24,1%

Mühlenarbeiter (Industriemühlen)
16 Mark - 1,5%
18 Mark - 19,0%
22 Mark - 50,0%
27 Mark - 29,1%
30 Mark - 0,4%

Lohnauszahlungen erfolgten
• In der Regel einmal im Monat bzw. alle 14 Tage
• seltener war die halbjährliche Auszahlung
• wenn der Lohntag ausfiel, mussten die Arbeiter warten…

Das Kost- und Logiswesen
Bei den Müllern der traditionellen Handwerksmühlen war das Kost- und Logiswesen weit verbreitet
Lehrlinge und Gesellen wohnten und aßen im Haus des Müllermeisters.
Dies bot dem Müllermeister viele Vorteile, denn
- die Arbeiter konnten zu jeder Tags- und Nachtzeit zur Arbeit herangezogen werden.
- sie standen unter ständiger Aufsicht
- sie waren von Kontakten zur Außenwelt abgeschnitten
- Kost und Logis wurden vom Arbeiterlohn abgezogen

Hermann Käppler (1892) über Kost und Logis:
Logis ist ein Bretterverschlag in der Mühle, Geselle und Lehrling schlafen in einem Bette…
Zwei Mann haben ein Bett, nach diesem sieht das ganze Jahr Niemand; Bettwäsche ist für uns unnötiger Luxus…
Logis ist ein Winkel, der mit Brettern versperrt ist. Ruhestätte ist ein Kasten mit Stroh und Decke und viel Ungeziefer, Bettwäsche gibt es nicht…
Logis ist ein Stall, Ruhestätte Bretterbucht mit Stroh und Lumpen…
Logis ist ein kellerartiger Raum mit vergittertem Fenster…
Zur Abwechslung bekommt der Geselle oftmals Prügel… Für 5 Gesellen sind 2 Matratzen vorhanden…
Kein Logis, keine Betten. Ein Sack Spreu als Lager; wenn man sich zudecken will, so besorgt man sich selbst etwas, gewöhnlich ein paar leere Säcke…
Flöhe haben wir den der Schlafstube so viel als Staub in der Mühle, weil jährlich nur zweimal gereinigt wird…
Die Gesellen müssen das Bett abwechselnd benützen…
Logis verdient den Namen Dreckloch…
Schlafstelle besteht aus Strohsack und zerrissener Pferdedecke…

Richard Calwer, das Kost- und Logiswesen im Handwerk, 1908
Als sehr schlechtes Logis führen wir folgendes Beispiel aus einem Dorf bei Gera an. Die Mühle beschäftigt eine Arbeitskraft, deren Arbeitszeit 18 Stunden täglich beträgt. Der Schlafraum ist 1,50m hoch, 1m breit und 2m lang. Die Bodenfläche beträgt 2 qm, der Luftraum 3 qbm. Es schläft nur eine Person in dem Raum. Ein Fenster ist überhaupt nicht vorhanden. Der Fußboden ist mit Holz gedielt. Decke und Wände des Zimmers befinden sich in schlechtem Zustand. Der Schlafraum ist weder heizbar noch verschließbar. Der Raum wird mit einer Kerze erhellt. Die Abortverhältnisse sind gut, nur benutzen ihn zuviel Personen, nämlich 13. Es wird von Zeit zu Zeit vom Dienstmädchen gereinigt. Das Bett, das in dem Raum steht, läßt zu wünschen übrig. Die Bettwäsche ist seit einem Jahr nur einmal gewechselt worden. Täglich gemacht werden die Betten nicht. Gereinigt wird der Schlafraum auch nicht. Wanzen und Flöhe sind zahlreich vorhanden. Mobiliar befindet sich außer dem Bett keins in dem Raum. Ein Waschbecken ist nicht vorhanden, dagegen ein Handtuch, das alle ½ Jahr einmal gewechselt wird. Man wäscht sich im Mühlgraben.

Gesundheit, Unfälle und Lebenserwartung
An der Tagesordnung waren vor allem Atemwegserkrankungen durch die Staubbelastungen (Tuberkulose usw.) sowie Skeletterkrankungen (Rücken usw.) vor allem wegen der schweren Transportlasten. Die Säcke wogen im Durchschnitt 100 kg, aber auch 150 kg.
Wegen der Arbeit innerhalb der „Maschine“ Mühle zwischen angetriebenen und sich drehenden Maschinenteilen war die Häufigkeit schwerer Unfälle hoch.
Die durchschnittliche Lebenserwartung lag (nach Käppler) bei 35 Jahren.

Zusammenfassung :
Die Belastungen der Müller um 1900 waren:
- lange Arbeitszeiten
- Sonntagsarbeit
- geringer Lohn
- Kost und Logis
- kein Urlaub
- Unfälle
- kein Versicherungsschutz
- Konkurrenzdruck durch Industrialisierung
- Politische Unterdrückung

Die Gründung von regionalen Unterstützungskassen für Mühlenarbeiter nach 1890 war der Beginn einer gewerkschaftlichen Organisierung, die in der heutigen Gewerkschaft NGG mündete.

… erst 1918 kam auch im Mühlengewerbe der 8-Stunden-Tag per Gesetz nach Deutschland

Reinhard Tegtmeier-Blanck, Freiwilliger Müller an der Bockwindmühle Wettmar
Arbeiter bei der Befüllung von Textilsäcken am Sackstutzen, dem Abwiegen der befüllten Säcke und dem Transport mittels Sackkarre.
Museum digital Brandenburg - Fotosammlung Deutsche Müllerschule Dippoldiswalde
Bürgerreporter:in:

Dieter Goldmann aus Seelze

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