Vortrag des Marburger Professors Siegfried Becker über „Die jüdischen Familien in Hatzbach und ihr Verhältnis zu den Synagogengemeinden Allendorf und Erksdorf“

Die frühere Synagoge in Hatzbach.  Sie wurde 1816 erbaut und 1966 wegen Baufälligkeit abgerissen. Die heutige Anschrift ist Lumpsgasse 1.
  • Die frühere Synagoge in Hatzbach. Sie wurde 1816 erbaut und 1966 wegen Baufälligkeit abgerissen. Die heutige Anschrift ist Lumpsgasse 1.
  • hochgeladen von Eike Erdel

Am 12. November 2015 wird die erfolgreiche Vortragsreihe „Einblicke in die Geschichte einer jungen Stadt“ mit dem Vortrag des Marburger Professors Siegfried Becker über „Die jüdischen Familien in Hatzbach und ihr Verhältnis zu den Synagogengemeinden Allendorf und Erksdorf“ fortgesetzt.

Leider ist zu befürchten, dass die Fortsetzung der Vortragsreihe mit einem „Fauxpas“ beginnt.
Besucher des Vortrages des Marburger Professors Siegfried Becker über „Die jüdischen Familien in Hatzbach und ihr Verhältnis zu den Synagogengemeinden Allendorf und Erksdorf“ sollten den dort vertretenen Thesen nicht unkritisch Glauben schenken. Der Referent hat nämlich in der jüngsten Ausgabe der Hessischen Blätter für Volks- und Kulturforschung (Band 49) einen Beitrag über „Jüdische Familien in Hatzbach“ veröffentlicht, der zahlreiche Fehler enthält und Behauptungen aufstellt, die nicht beweisbar oder bereits widerlegt sind.

Zentrale These des Referenten ist, dass die Jüdischen Familien aus Hatzbach nur wegen der antisemitischen Haltung der Hatzbacher bereits bis 1925 alle das Dorf verließen. Dies sieht der Marburger Ethnologe durch die Hatzbacher Reichstagswahlergebnisse belegt, weil der Antisemit Otto Böckel in Hatzbach Ende des 19. Jahrhunderts mit großer Mehrheit gewählt wurde.

Obwohl Becker in seinem Aufsatz festhält, dass die NSDAP bei den Reichstagswahlen 1924 in Hatzbach nur eine Stimme bekam, ist er überzeugt: „Dennoch kann gerade in Hatzbach von einem hohen Potential antisemitischer Rhetorik in der Alltagskultur als Nachwirkung der Böckelzeit ausgegangen werden, die zunehmend zu einer Abwanderung vom Land führte.“ Warum kann davon ausgegangen werden? Warum wanderten die Juden nicht ab, als Bökel in Hatzbach noch große Stimmenmehrheiten erzielte, sondern erst als Bökel politisch bedeutungslos war? Die Antwort auf diese Fragen bleibt Becker in seinem Aufsatz schuldig. Einen Beleg für seine Behauptungen liefert der Ethnologe nicht. Andere Belege als die oben zitierten Wahlergebnisse und die Schlussfolgerungen, die er daraus zieht, nennt er nicht.

Diffus bleibt Becker auch mit seinen Ausführungen zum Zeitpunkt der Abwanderung der letzten Juden aus Hatzbach. Er erwähnt nur, dass im Jahr 1925 kein Jude mehr in Hatzbach lebte. Dies ist durch eine in diesem Jahr durchgeführte Volkszählung bekannt. Durch eine Volkszählung in 1905 ist aber bekannt, dass in diesem Jahr noch 65 Juden in Hatzbach lebten. Diese Tatsache erwähnt der Ethnologe nicht, was erstaunlich ist, da diese Zahl im Standardwerk zu den jüdischen Gemeinden in Hessen abgedruckt ist (Arnsberg, Paul: Die jüdischen Gemeinden in Hessen, 1971, S. 27). Hat er nur schlampig gearbeitet oder verschweigt er diese Zahl mit Absicht, da es nicht logisch erscheint, dass der angeblich durch Wahlergebnisse belegte Antisemitismus zur Abwanderung der Juden geführt haben soll, obwohl bei der Reichstagwahl 1903 die antisemitische Reform-Partei in Hatzbach nur 11 von insgesamt 47 Stimmen in Hatzbach erhielt? Das Wahlergebnis von 1903 erwähnt Becker übrigens auch nicht. Es würde seine These in Frage stellen.

Alleine aus der Wahl des antisemitischen Reichstagskandidaten Otto Böckel auf eine antisemitische Einstellung des Wählers zu schließen ist nicht überzeugend. Die Mehrheit der Historiker ist sich einig, dass die Hitlerbewegung 1933 trotz, nicht aber wegen ihres Antisemitismus gewählt wurde (vgl. nur Hans Ulrich Wehler, Notizen zur deutschen Geschichte, S. 39). Es ist also nicht abwegig anzunehmen, auch Böckel könnte trotz seiner antisemitischen Haltung gewählt worden sein, weil sein außerordentliches Engagement für die Belange der Bauern große Zustimmung bei der ländlichen Bevölkerung fand.

Andere Wissenschaftler halten es jedenfalls nicht für ausgemacht, dass ein in der Bevölkerung vorherrschender Antisemitismus zum Wahlerfolg des Antisemiten Otto Bökel führte. Klein schrieb zum ersten Wahlerfolg Bökels 1887 (Klein, Der preußisch-deutsche Konservatismus und die Entstehung des politischen Antisemitismus in Hessen-Kassel, S. 218 ff.): „Letztendlich stand hinter dem Desaster aber die Enttäuschung der Wählermassen, dass von der mit großem Aplomb angekündigten konservativen Reform aus christlichem Geist wenig realisiert worden war. … Um auf die Dörfer zu kommen, so bot das Ausmaß ihrer Wende zu den Antisemiten ein außerordentlich buntes Bild, das zur Zeit noch kaum zu deuten ist.“ Robert von Friedeburg kommentierte die Wahlerfolge Bökels und anderer Antisemiten folgendermaßen (Ländliche Gesellschaft und Obrigkeit, S. 260): „Man muss sich rückwirkend davor hüten, in den als antisemitischen Hochburgen berüchtigt gewordenen Regionen nach besonderen sozialen Voraussetzungen für die antisemitischen Erfolge zu fahnden bzw. das Fehlen dieser angeblich besonderen Ausgangsbedingungen in anderen Wahlkreisen anzunehmen.“ Wilfried Schlau schrieb zur Bedeutung Bökels (Politik und Bewußtsein. Voraussetzungen und Strukturen politischer Bildung in ländlichen Gemeinden, S. 407): „Die nachwirkende Bedeutung Bökels und seiner Mitarbeiter für die ländliche Bevölkerung Mittel- und Nordhessens ist jedoch nicht in seiner politischen Agitation, sondern in ihrer praktischen Wirtschaftspolitik zu sehen.“

Von daher darf man schon bezweifeln, dass die Wahlerfolge des Antisemiten Otto Böckel in Hatzbach eine durchweg antisemitische Einstellung in der christlichen Bevölkerung Hatzbachs belegen kann. Den fragwürdigen Antisemitismus dann als einzigen relevanten Grund für die Abwanderung der jüdischen Familien anzuführen, ist unwissenschaftlich und unseriös.

Auch ein weiterer angeblicher Nachweis für Antisemitismus in Hatzbach im Aufsatz des Ethnologen erweist sich als haltlos. Aus der Tatsache, dass 1847 der Kreisvorsteher der Synagogengemeinden den 27 Jahre alten Hatzbacher Juden Manus Wertheim nicht qualifiziert für das Amt des Gemeindeältesten der Hatzbacher Synagogengemeinde hält, weil er Zweifel „an dessen erforderlichen Kenntnissen im Schreiben und Rechnen“ anmeldet, können wir nach Auffassung des Marburger Ethnologen „nun die Auswirkungen einer Benachteiligung jüdischer Kinder in den christlichen Konfessionsschulen erahnen“. Er sieht darin also einen Beleg darin, dass die jüdischen Schüler in Hatzbach vom Lehrer künstlich dumm gehalten worden sind. Hätte er sich die Mühe gemacht und die im Marburger Staatsarchiv aufbewahrten Dokumente zu Schulvisitationen in Hatzbach (HStAM Bestand 19 Nr. e 462/1) gesichtet, dann wüsste er, dass es um die Qualität des Unterrichts in Hatzbach im 19. Jahrhundert sehr schlecht stand. So wurde bei einer Prüfung 1843 festgestellt, dass lediglich der Gesang der Schüler ansehnlich war, die Rechenleistungen, Lese- und Schreibfähigkeiten aller Schüler aber zu wünschen übrig ließen. Die jüdischen Schüler in Hatzbach in dieser Zeit dürften also nicht schlechter gewesen sein als ihre christlichen Mitschüler. Schuld war nicht der Antisemitismus des Lehrers sondern dessen Unvermögen den Schülern -gleich welchen Glaubens- Unterrichtsstoff zu vermitteln.

Trotz der dargelegten Zweifel nennt Becker alleine den angeblich durch Wahlen belegten Antisemitismus der Hatzbacher Christen als Grund für die Abwanderung der Hatzbacher Juden. Den von anderen Autoren als Ursache genannten möglichen Einfluss des Kirchhainer Rindviehmarktes zieht er erst gar nicht in Erwägung. Dabei wird dieser Einfluss von einigen Autoren als maßgeblich bezeichnet, deren Schriften auch der Marburger Ethnologe in seinem Aufsatz in anderem Zusammenhang zitierte. Er hält deren Argumente scheinbar nicht für diskussionswürdig.

Es war als erster der Kirchhainer Chronist Heinrich Grün, der als Ursache für die Zuwanderung der Juden von den Dörfern nach Kirchhain den Ausbau des Eisenbahnnetzes und die Einrichtung der Kirchhainer Rinderviehmärkte Ende des 19. Jahrhunderts gesehen hat. Einen angeblichen Antisemitismus in den Herkunftsorten der Juden erwähnt er nicht (Grün, Chronik der Stadt Kirchhain, 1952, S. 176). Schubert geht ebenfalls davon aus, dass der Ausbau der Eisenbahnverbindung und die Einrichtung des Kirchhainer Rindviehmarktes für den Zuzug der auf dem Land wohnenden Juden „ausschlaggebend“ waren, nimmt aber an, dass die antisemitische Bauernbewegung zur Abwanderung beigetragen hat (Schubert, Juden in Kirchhain, S. 12). In der Fundstelle, auf die er sich bezieht heiß es, „dass eine spürbare Abwanderung erst mit der Bökelkrise begann“ (Mack, Otto Böckel und die antisemitische Bauernbewegung in Hessen 1887-1894 in: Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen, S. 379). Bökels Krise fand aber spätestens mit seinem Ausscheiden aus dem Reichstag 1903 ihren Abschluss. Auch in Hatzbach bestand zu diesem Zeitpunkt noch eine beachtliche jüdische Gemeinde, wie die Zahlen der Volkszählung von 1905 belegen.

Der Amöneburger Historiker Dr. Alfred Schneider zieht eine antisemitische Einstellung der christlichen Dorfbewohner als Grund für die Abwanderung der Juden nicht in Erwägung. Vielmehr führt er zu den Gründen der Abwanderung aus (Schneider, Die jüdischen Familien im ehemaligen Kreis Kirchhain, S. 23): „Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts lässt sich dann eine relativ starke Abwanderung der jüdischen Bevölkerung aus den Dörfern in zentrale Orte, insbesondere in die nahen Städte, beobachten. Innerhalb des Kreisgebietes ist dies vor allem die Kreisstadt Kirchhain, die einen verstärkten Zuzug aus den Nachbarorten zu verzeichnen hat; nicht zuletzt auch Marburg. Ein wesentlicher Grund für diesen Zuzug war deren zunehmend zentrale Verkehrslage. Beide Städte wurden 1850/51 durch den Bau der Main-Weser-Bahn (von Frankfurt-Gießen-Marburg-Kirchhain-Kassel) mit den Wirtschafts- und Industriezentren verbunden und übten somit für die fast ausschließlich im Handel tätigen Juden eine Sogwirkung aus. Diese Tendenz verstärkte sich um und nach 1900 durch den Bau weiterer Nebenbahnen. Für die Kreisstadt Kirchhain waren dies einmal die Ohmtalbahn, die 1901 in Betrieb genommen wurde und die Bereiche Schweinsberg-Homberg/Ohm auf Kirchhain orientierte, dann der Bau der Wohratalbahn (1914), welche die Städte Rauschenberg und Gemünden/Wohra in gleiche Richtung lenkte. Dazu trat die Bedeutung Kirchhains als Marktort mit monatlich zwei Viehmärkten, die fast ausschließlich von Juden bestückt wurden.“

Von einem Wissenschaftler darf man erwarten, dass er sich mit dieser herrschenden Meinung wenigstens auseinandersetzt. Da er die zitierten Quellen verwendete, ist ihm diese Auffassung auch sicher bekannt. Er aber verschweigt sie, weil sie nicht in sein manipuliertes Geschichtsbild passt.

Übrigens hat Otto Böckel auch in Kirchhain bei den Reichstagswahlen überragende Stimmenmehrheiten erzielt. Nach Beckers Hypothese wären die Juden aus Hatzbach somit vom antisemitischen Regen in die antisemitische Traufe umgezogen.

Die Abwanderung der jüdischen Bevölkerung aus Hatzbach kann jedenfalls nicht mit einer aus den genannten Gründen nicht belegten antisemitischen Haltung der übrigen Einwohner erklärt werden. Beckers Hypothese ist unbelegt.

Da der der Vortrag am 12.11.2015 wohl auf diesen Artikel beruhen dürfte, ist zu befürchten, dass der Marburger Ethnologe seine Geschichtsklitterei dabei fortsetzen wird. Wer dennoch in Erwägung zieht sich diesen Vortrag anzutun, dem sei die Lektüre des myheimat Beitrages „Marburger Ethnologe verfälscht die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Hatzbach“ empfohlen, in denen zahlreiche Fehler in dem Beitrag nachgewiesen werden. Der Beitrag ist über folgenden Link aufrufbar: http://www.myheimat.de/stadtallendorf/kultur/marbu...

Bürgerreporter:in:

Eike Erdel aus Stadtallendorf

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