Gedanken über Steine, Menschen und Erdogan

Kaum ein Tag verging in den letzten Wochen, an dem wir nicht mit dem steingemeißelten Konterfei des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan in allen Medien konfrontiert wurden. Auch für Momente höchster Erregung, etwa in seiner Rede anlässlich des Staatsbanketts im Berliner Schloss Bellevue am vergangenen Freitag, hatten die plastischen Steinmetze keine Regung in Erdogans Gesicht vorgesehen. Der Eindruck, den Erdogan bei mir hinterließ, verleitete mich, mir Gedanken über Steine und Erdogan zu machen.

Steine und Wasser gehören zum Menschen wie Feuer und Holz. Schon früh erkannte man die Nützlichkeit von Steinen. In der Steinzeit wurden Werkzeuge daraus hergestellt, Hünengräber aufgeschichtet, Kultstätten von unglaublichen Dimensionen unter schwersten Bedingungen aufgerichtet. Denken wir nur an das englische Stonehenge oder an die bretonischen Steine von Carnac. Neben all der Nützlichkeit hatten Steine also auch symbolische, ja mythische Bedeutung. So sang Reinhard Mey: »Ich wollte wie Orpheus singen, dem es einst gelang, selbst Felsen zum Weinen zu bringen mit seinem Gesang.« Was wollte Mey mit seinem Chanson sagen und was damit fragen? Etwa, dass er zum Steinerweichen singe? Man müsste schon ein Herz aus Stein haben, dieses nicht so zu empfinden.

Dass Felsen weinen können, erzählt uns schon die Bibel. Danach schlug Moses mit einem Stock gegen einen Felsen und Wasser sprudelte aus ihm. Apropos Steinerweichen: Erinnern möchte ich an eine Schlagzeile im Magazin Stern Anfang der 80er Jahre. Damals verging kaum ein Tag, an dem nicht saurer Regen aus dem Blätterwald der deutschen Presse prasselte. Der Stern titelte seinerzeit: »Es ist zum Steinerweichen«, und zeigte ein Foto von steinernen Figuren am Kölner Dom, mitgenommen vom Zahn der Zeit, vom sauren Regen aufgeweicht, von Wind und Wetter gezeichnet.

Wenn Steine reden könnten - sind sie aber wirklich so stumm? Ganz sicher nicht. Obwohl stimmlos, erzählten die Feuersteine unseren Vorfahren, welcher von ihnen besonders geeignet sei für eine Pfeil- oder Speerspitze, für die Herstellung eines Faustkeils oder einer Axt. Und wer heute an den Ufern der Insel Rügen wandert, seine Augen benutzt, um zu sehen, der findet dort Unmengen an Feuersteinen, die als Rohstoff unseren frühen Werkzeugmachern dienten. Doch diese von der Natur sehr kunstvoll geformten Steine sind mehr als nur steinerne Zeugen längst vergangener Zeiten. Sie erzählen stumm Geschichte um Geschichte, denn sie sind großenteils zu Stein gewordene Lebewesen aus dem Meer, die unter großer Hitze und Druck in ihre heutige Form verwandelt worden waren.

Aber wie wurden Steine zu Stein? Wer gab ihnen diesen Namen? Der Duden 7 hat eine Reihe von Entsprechungen dafür. Stein, stains, stone, sten, stena stehen für Wand oder Mauer, oder wenn sich etwas verdichtet oder gerinnt. Sicherlich ist das eine wissenschaftlich zu kurz gegriffene Erklärung, aber für jetzt mag sie genügen. Denn Stein ist Stein geblieben und das Wort war Quell für unzählige Wortschöpfungen und Wortverbindungen. Vieles, was in irgendeiner Beziehung zu Stein stand, wurde damit in Verbindung gebracht und verknüpft. Der Adler im Gebirge wurde zum Steinadler, der Mann, der Stein behaute, wurde zum Steinmetz. Ein Pilz, der aussah wie Stein wurde Steinpilz genannt. Auf den Menschen angewandt entstanden Wortverbindungen wie steinhart, steinalt, steinreich.

Anders als ein Bauer, der seine steinigen, mageren Äcker pflügt, sind die Rolling Stones dagegen steinreich geworden. Es sei ihnen gegönnt, denn auch sie gingen einen steinigen Weg zum Erfolg. Steine dienen aber auch dazu, Menschen zu Tode zu steinigen. Es mag viele religiöse Erklärungen dafür geben – aber keine reicht aus, diese Grausamkeit zu entschuldigen. Auch nicht, weil David den Goliath mit einem Stein aus einer Schleuder außer Gefecht gesetzt haben soll, nein, auch dann nicht.

Es gibt Steine des Anstoßes, über die jeder Wanderer stolpern muss – was Goethe damit wohl in seinen Maximen und Reflexionen meinte? Bedeutungsschwer sind diese Worte allemal. Und wenn man erst zum Stein unter Steinen wird, wie Hermann Sudermann es in seinem gleichnamigen Schauspiel festgehalten hat, dann ist damit gemeint: Einer sei Stein unter Steinen, wenn sein Leben unbeachtet unter Unbeachteten verläuft. Da ist mir Drafi Deutschers Lied »Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht«, lieber als tiefe Gedanken, die Alter verklären oder versteinern lassen.

Wo Gedankenschwere ist, darf Frohsinn und Fantasie nicht fehlen, etwa, wenn man an einem Strand steht, der nur aus Steinen zu bestehen scheint. Wer hat sie nicht schon einmal in Händen gehabt, sie gefühlt, sich gefreut, sie mitgenommen als Erinnerung an ein schönes Erlebnis und sie weiter geschenkt an Menschen, die man besonders mag. Nicht gemeint sind die Edelsteine, deren Glitzern Begehrlichkeiten aller Art wecken. Nein, gemeint sind diese wunderbaren Zeitzeugen an den Stränden dieser Welt, die durch immerwährende Bewegung von Ebbe und Flut geformt werden – da sie sich drehen, heben, legen, sich schieben und dabei polieren. Und wenn die Ebbe zurückweicht, kommen die Steine für kurze Zeit während des Stauwassers zur Ruhe. Scheint die Sonne auf die noch feuchten Steine, dann sehen sie bald stumpf aus. Doch fällt nur ein Tropfen Wasser darauf, dann beginnen sie zu leuchten, zu reflektieren und strahlen schelmisch wie Augen im Licht der Sonne. Ein Licht, das wir in den Augen Erdogans vermissen.

Schlussendlich ein Wort von Erich Fried: „Zu den Steinen hat einer gesagt: Seid menschlich. Die Steine antworteten: Wir sind noch nicht hart genug.“

Ich wünsche mir, dass Recep Tayyip Erdoğan diese Zeilen liest, sie verinnerlicht und seine menschenverachtende Haltung und Politik revidiert.
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Bürgerreporter:in:

Friedrich Schröder aus Springe

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