Früher war alles besser? - oder - Das Zugunglück von Leinhausen (1963).

"78 412" fotografiert in Hannover HBF   ca. Sommer 1963 | Foto: Hans-Joachim Albes
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  • "78 412" fotografiert in Hannover HBF ca. Sommer 1963
  • Foto: Hans-Joachim Albes
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Wieder einmal hat mir mein Freund Hans-Joachim Albes eine Geschichte zur Veröffentlichung überlassen. Der Text und die Fotos stammen von ihm:

Der mündige Bürger von 2012 hat heute, im Gegensatz zu den früher 60 er Jahren des vorigen Jahrhunderts, vielfältige Möglichkeiten, sich via Handy, I- Phone oder Smartphone zu jeder Tageszeit über aktuelle Nachrichten, Neuigkeiten oder ganz spezifische Sachverhalte wie Staus, Zug- oder Flugverspätungen schlau zu machen. Insofern ist es mitunter nicht mehr nachvollziehbar, wenn moderne ICE´s auf der Strecke stehen bleiben und das Personal der DB (Deutsche Bahn) mal wieder nicht weiß, was Sache ist. War das „früher“ anders? Gab es eine bessere Kommunikation zwischen Fahrgästen und Bahnmitarbeitern, wie manche heutige Zeitgenossen behaupten?
Im Jahr 1963, als der Begriff DB noch mit Deutsche Bundesbahn übersetzt wurde und Handys noch gar nicht erfunden waren, gab es bereits bahntypisches Verhalten des Stations- und Fahrpersonals, welches den heutigen Zuständen mehr als ähnlich ist. Als Zeitzeuge einer solchen Ausnahmesituation werden von mir im Folgenden die Umstände dokumentiert, wie es dazu kam und was (nicht) unternommen wurde.

Zu jener Zeit waren die Möglichkeiten der Arbeitnehmer und Fahrschüler des Hannoveraner Umlandes mangels eigenen fahrbaren Untersatzes eher als sehr übersichtlich zu bezeichnen, um morgens mit den „Öffentlichen“ nach Hannover zu fahren, der Großteil nahm den Zug. Man hatte die Abfahrtszeiten kopfmäßig abgespeichert, sie sind auch nach fast 50 Jahren noch präsent und abrufbar.

Zwischen 6.30 Uhr und 8.30 Uhr gab es folgende Angebote ab Seelze:

6.36 Uhr, 6.58 Uhr, 7.18 Uhr, 8.05 Uhr, jeweils weitere Halte in Letter, Leinhausen, Hainholz, 20 Minuten später war man dann in Hannover Hbf, mehr gab es nicht, so blieb es, jahrein, jahraus.

Die Züge selbst waren bemerkenswert zusammengestellt, ein Dorado für heutige Eisenbahnfans, alte Preussen, Donnerbüchsen, manchmal auch schon Umbauwagen, zwei, drei und vierachsig, nichts passte zusammen, die Zeit der Silberlinge war noch nicht gekommen.

Daß der Fortschritt sich ankündigte, war unübersehbar, die Mastenfundamente für die spätere Elektrifizierung waren bereits gesetzt, mitunter standen auch schon Gittermasten für die Fahrdrähte, es war aber noch nicht soweit....

Erst mussten noch Brücken umgebaut werden, so auch in Seelze die der L 390, (Grundsanierung und Erhöhung), und auch in Leinhausen/ Herrenhausen die Brücke der Hauptstrecke Hannover- Köln/ Bremen, die über den Abzweig nach Langenhagen/ Celle führte, dies alles bei laufendem Bahnbetrieb.

Dort hatte man Behelfsweichen eingebaut, es ging nur eingleisig über die Baustelle, oder aber die Züge wurden in Leinhausen auf die Güterbahn umgeleitet, auch dort war mit Gegenverkehr zu rechnen, das wurde dann irgendwie über das nächste Stellwerk geregelt.

Dies funktionierte auch eine ganze Weile gut, bis es dann am frühen Morgen des 25. November 1963 „geknallt“ hat, mit allen daraus resultierenden Folgen wie Streckenblockade, Verspätungen aller Züge westlich von Hannover, die Hauptschlagader des West- Ost Verkehrs war getroffen.

Ein Rekord: In 4 Stunden von Seelze nach Hannover

Es war ein Montag, grau in grau und nasskalt, ich, gerade 15 Jahre alt geworden, wollte mit dem 8.05 er Zug nach Hannover fahren, bei Betreten des Bahnbereiches wurde ich wie immer von dem in tadelloser DB Uniform gekleideten Fahrkartenkontrolleur, den es damals noch gab- die Zeit der Bahnsteigkarten war noch nicht abgelaufen- freundlich begrüßt, kein Wort, keine Information über das nicht einmal 2 Stunden alte Unglück wenige Kilometer östlich von Seelze, es war wie an jedem anderen Tag.

Der 8.05 er war in jeder Hinsicht bemerkenswert, er wurde üblicherweise von einer 03 gezogen, kam aus Bremerhaven- Lehe und endete in Hannover. Das Wagenmaterial war wie bereits oben beschieben, ein buntes Sammelsurium aus Länderbahnzeiten, innen ausschließlich Holzklasse, auch Wagen mit stirnseitiger Plattform, innen mit Sitzbänken an den Aussenseiten, genannt „für Reisende mit Traglasten“, man hatte also Platz.... Wenn man wollte, konnte man auch die Fahrt im Freien draußen auf den stirnseitigen offenen Plattformen genießen, bei nasskalten 2° über Null nicht wirklich ein Vergnügen....

Übergänge zu den anderen Waggons waren selten, da zwischen diesen Waggons dann wieder preussische Abteilwagen, ehemals 4. Klasse, gespannt waren, die nicht über stirnseitige Plattformen verfügten.

Der Zug kam pünktlich, es war wie immer, er fuhr auch zur angegebenen Zeit ab, für eine 03 waren diese Waggons wohl eher Peanuts, es ging zügig aus Seelze heraus, dann in Höhe des RSV Sportplatzes kurz vor Letter rollte der Zug aus und blieb stehen.

Erst haben meine Mitfahrer und ich uns nichts dabei gedacht, irgendwann kam dann auch mal der Zugführer zu uns in den Waggon, er musste draußen über den Gleisschotter turnen, um in die Wagen zu gelangen, er kontrollierte die Fahrkarten und konnte uns auch nicht beantworten, warum wir hier festsaßen und wann es denn weiterginge, mehr als eine Stunde war inzwischen vergangen.

Eine weitere Stunde verging, wir stellten fest, dass in der Zwischenzeit die Schnellzüge aus dem Westen kommend auf der Güterbahn an uns vorbeifuhren, weil unser Zug ja die Hauptstrecke blockierte, nach mehr als zwei Stunden ging es dann weiter Richtung Letter/ Bahnhof, der Zug schwankte, wir wurden ebenfalls auf die Güterbahn umgeleitet. Das Abrollgeräusch der Räder wurde wesentlich lauter, die Güterbahn war nun einmal nicht ständiger Pflege durch Schleifzüge unterworfen.

Nach dem Halt in Letter, oberhalb der Hauptbahn an einem Behelfsbahnsteig, ging es dann weiter, aber nicht nach Leinhausen, der Zug rumpelte über ein Gewirr von Weichen und schaukelte dabei erheblich, bis wir endlich auf dem südlichen Gleis des RBF Seelze Richtung Ahlem unterwegs waren.

So langsam kroch die Angst in uns hoch, wo wollten die mit unserem Zug hin?

Der Schaffner, der inzwischen noch einmal bei uns im Waggon gewesen war, wusste immer noch nichts, wann wir denn in Hannover HBF ankommen würden, konnte er uns nicht verraten, warum das an diesem Morgen so war, wusste er auch nicht. Es war letztendlich auch egal, uns vermisste ja keiner, außer vielleicht unsere Lehrer oder die Chefs der im Zug anwesenden Arbeitnehmer.

So ergaben wir uns in unser Schicksal und harrten der Dinge, die da kommen würden.

Wir passierten die Continental Werke in Limmer, irgendwann standen wir auf einem Bahnhof, von dem ich bis dato nicht wusste, dass es ihn gab: Hannover Linden Fischerhof.

Nach einem endlosen Halt rumpelte der Zug weiter, in der Ferne glaubte ich den Maschsee zu erkennen, genau wusste ich es jedoch nicht, dann irgenwann, nach ständigen Stops zwischendurch rollten wir in den Bahnhof Hannover Bismarckstraße ein.

Es war inzwischen kurz vor zwölf Uhr Mittags geworden.

Jetzt wusste ich wieder ganz genau, wo wir waren.

Nachdem der Zug kurz auch dort gehalten hatte, ging es in relativ flotter Fahrt Richtung Hannover HBF, wir passierten das damals noch voll in Betrieb befindliche BW Ost, die Heimat der 01.10 und 03.10, kurz danach rollten wir in den Hauptbahnhof.

Alle noch offenen Fragen, die uns die Bediensteten der DB nicht beantworten konnten, wurden unmittelbar nach Ankunft hinreichend beantwortet, vor dem Bahnhof standen Zeitungsverkäufer, die ein Extrablatt der HAZ mit dem Aufmacher des Zugunglücks in Leinhausen verkauften, das ganze für 10 Pfennig, ich habe es gekauft um eine Entschuldigung für meine Lehrer in der Schule zu haben und habe das dann wenig später dort vorgelegt. Als wir in der Schule ankamen, war der Unterricht so gut wie beendet.

Ich fuhr mit dem 13.20 Uhr Zug zurück nach Seelze, es ging zügig und ohne Verspätung, das Grauen dieses Tages war an der Unfallstelle noch zu erkennen, beide verunfallten Loks waren noch an der Unfallstelle, ebenso die Überbleibsel der zerstörten Wagen, die Lokomotiven wurden soweit vor Ort abgebrochen, bis die Reste weggerollt werden konnten, man brauchte sie nicht mehr...

Rückblickend kann ich sagen, dass keiner der Verantwortlichen, die auf dem Transport für uns zuständig waren, zu irgendeinem Zeitpunkt den verunsicherten Reisenden gegenüber zu einer klaren Aussage fähig war, dies setzte sich fort, als ich bei der Bahnsteigaufsicht in Hannover eine Bescheinigung für meine Schule wegen der enormen Verspätung dieses Zuges einforderte, es hieß einfach: „Wenn Die Dir das nicht glauben, dann sollen sie hier anrufen.....“

Bürgerreporter:in:

Andreas Schulze aus Seelze

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