Wolfgang Beutin: „Die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht“
Die Anhänger einer offenen demokratischen Gesellschaft stellen sich ihnen in Diskussionen und Demonstrationen entgegen, in erster Linie gestützt auf das Mittel rationaler Argumentation: Analyse der Programme der Rechtspopulisten sowie der Einzeläußerungen ihrer Wortführer, Kritik der politischen Praxis der AfD, insbesondere soweit sie Sitze in den Parlamenten errang. Gut so. Doch bei Abwehr des Rechtspopulismus bleibt häufig eines außer Acht: die Notwendigkeit, den psychischen Mechanismus aufzudecken, der erhebliche Mengen von Mitbürgerinnen und Mitbürgern stimuliert, massenhaft bei Demonstrationen der Pegida-Bewegung mitzulaufen, bei Wahlen der AfD ihre Stimme zu geben, auch sogar die Mitgliedschaft dieser Partei zu erwerben.
Von welchem Mechanismus ist die Rede, wie funktioniert er? Es sind zwei Psychologien im Spiele: die eine der Drahtzieher und Drahtzieherinnen, von denen die AfD, die Pegida-Bewegung und weitere Zusammenrottungen initiiert wurden und die an der Verbreiterung von beider Basis arbeiten; die zweite der einfachen Mitglieder, Mitläufer und Wähler. Um die zweite muß es gehen, weil das dringendste Erfordernis ist, den Zulauf zu AfD, Pegida und ähnlichen Organisationen einzudämmen. Um die Wirkungsweise des Mechanismus zu erkennen, sollte ein Grundbegriff der Psychologie herangezogen werden:
„Narzissmus“. Er verweist darauf, daß eine Person in sich selbst verliebt sein kann, nicht selten bis hin zur übersteigernden Selbstbewunderung. Der Narzissmus kann auch ein Kollektiv infizieren, z.B. einen gewissen Anteil einer Nation. In milderen Formen braucht er nicht sogleich krankhaft zu sein, kann etwa zusammenfallen mit dem Stolz auf vollbrachte Leistungen (soundso viele Goldmedaillen …). Zur übertreibenden Selbstliebe gelangt eine Person oder ein Kollektiv durch den Vergleich. Vergleichend schreibt der in sich selbst Verliebte oder das in sich selbst verliebte Kollektiv sich die Berechtigung zu, die anderen geringer oder völlig gering zu schätzen. Als Maßstab wird gern die eigene Kultur herangezogen. Beispiel: Gegenwärtig oft die Unterstellung, die orientalischen Kulturen vernachlässigten die Aufklärung, die Menschenrechte, die Freiheiten des Individuums. Die Tonangeber des Rechtspopulismus leiten daraus die Berechtigung ab, andere Kulturen geringer zu schätzen und sie zu verachten und die Aufnahme von Menschen, die ihr angehören, als Gefahr für Deutschland auszugeben.
Entscheidend nun: Die Verliebtheit in die eigene Nation kann jederzeit selbst die ‚Unterprivilegierten’ in einem Lande, Teile der Ausgebeuteten und Entrechteten ergreifen. Sie sehen sich eingebettet in die Kultur ihres Landes, deren Überlegenheit ihnen als erwiesen gilt. In seiner Schrift „Die Zukunft einer Illusion“ (1927) beschrieb Sigmund Freud diesen Sachverhalt: „Nicht nur die bevorzugten Klassen, welche die Wohltaten dieser Kultur genießen, sondern auch die Unterdrückten können an ihr Anteil haben, indem die Berechtigung, die Außenstehenden zu verachten, sie für die Beeinträchtigung in ihrem eigenen Kreis entschädigt. Man ist zwar ein elender, von Schulden und Kriegsdiensten geplagter Plebejer, aber dafür ist man Römer, hat seinen Anteil an der Aufgabe, andere Nationen zu beherrschen und ihnen Gesetze vorzuschreiben.“ Das Resultat des Vorgangs ist dann: die „Identifizierung der Unterdrückten mit der sie beherrschenden und ausbeutenden Klasse“. Übrigens müssen es nicht zu verachtende „Außenstehende“ allein sein in dem Sinne, daß sie in anderen Erdteilen zuhause sind oder waren und nun immigrieren; es können auch im Landesinnern Befindliche sein, die von den Herrschenden aber den Beherrschten als aus der eigenen Kultur Ausgeschlossene bezeichnet werden (im NS als „Nichtarier“).
Kompliziert kann die Situation dadurch werden, daß eine Tonangeberin der Herrschenden, z.B. die amtierende Bundeskanzlerin, in den Augen der Unterprivilegierten die sich ins Land flüchtenden Angehörigen anderer Kulturkreise zu begünstigen scheint. Dann lockert sich die „Identifizierung“ der Unterdrückten mit der „sie beherrschenden und ausbeutenden Klasse“, und es kommt seitens jener womöglich zur Frontstellung gegen diese (Parolen gegen Merkel bei Demonstrationen u. ä.). Daß es allerdings falsch wäre, die nun entstandene Frontstellung als prinzipielle aufzufassen, läßt sich daran erkennen, daß an der derzeit zentralen Ideologie der Herrschenden festgehalten wird, am Neoliberalismus. Es ist also eine sekundäre Frontstellung, eine jederzeit auflösbare, Bedingung: die Herrschenden geben die – kaum tatsächliche, eher gewähnte – Begünstigung der Migration auf.
Der psychische Mechanismus erweist sich als komplexes Phänomen mit vertrackten Folgen. Es nimmt seinen Ausgang bei dem Narzissmus, der Teile eines Kollektivs ergreift, der in Klassen unterteilten Nation, darunter der unterdrückten Klassen, bis hin zu deren politisch gravierenden Identifizierung mit der Klasse der Unterdrücker. Daraus ergibt sich die Verachtung „Außenstehender“ (Angehöriger der nicht heimischen Kultur) sogar auch durch Teile der Klasse der Unterdrückten, die nunmehr zur Frontstellung gegen die Immigration neigen – statt gegen ihre eigenen Unterdrücker –. Gehen die Herrschenden dazu über, eine Politik der Verachtung „Außenstehender“ gegen eine auszutauschen, die in der Sicht der Beherrschten die Flüchtlinge begünstigt, gehen Teile der Unterdrückten in Opposition zur Regierungspolitik. Ihre Frontstellung ist jetzt die doppelte: eine falsche gegen die Migration wie eine falsche gegen die Herrschenden – gegen diese die richtige wäre eine gegen die unsägliche Identifizierung.
Auf wen können die Anhänger der offenen demokratischen Gesellschaft bei der Abstellung des beschriebenen psychischen Mechanismus zählen? Kämpfen sie einen aussichtslosen Kampf oder widerstehen sie dem Rechtspopulismus mit vervollständigter überlegter Argumentation erfolgreich? „… die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör verschafft hat. […] auf die Dauer kann der Vernunft und der Erfahrung nichts widerstehen …“ (Freud, ebd.)
[Am 21. 08. 2016 per Email vom Autor erhalten.]
In weiten Teilen stimme ich dem Inhalt zu.
Zu kurz kommt der Aspekt, dass für weite Teile der Bevölkerung sich die Lebenswirklichkeit seit geraumer Zeit nicht verbessert, sondern eher verschlechtert. Und diese Verschlechterung von "denen da oben" nicht einmal begründet ("Basta" bei Schröder) oder als "Alternativlos" (Merkel) hingestellt wird.
Der Erfolg neuer Parteien, zunächst der Linken, dann der Piraten und nun der AfD zeigt: Mit sehr unterschiedlichen politischen Ansprüchen formiert sich Protest gegen die materiellen Ziele der vorherrschenden Politik, gegen die Art und Weise, wie regiert wird. Der Regierung, den etablierten Parteien wird vorgeworfen, selbstherrlich zu sein. Zu diesem Urteil kommen nicht nur AfD-Wähler.
Zudem: Die meisten Menschen haben verinnerlicht, dass "jeder seines Glückes Schmiedes sei". Wenn sie nun erkennen, dass sie trotz aller Anstrengungen kein Bein auf die Erde kriegen, entsteht Wut. Und die Suche nach Schuldigen beginnt.
Herbert Schui schreibt dazu: Wenn aber der eigentliche Grund für das Unbehagen an den „Alt“-Parteien und ihren Regierungen darin besteht, dass diese ihre Politik nicht am Interesse der Bevölkerung ausrichten, zwar viel Schein inszenieren, aber so gut wie nichts unternehmen gegen Armut, Arbeitslosigkeit und soziale Unsicherheit, dann fragt sich, warum sich der Protest gegen die vorherrschende Politik nicht in einer linken Partei zusammenfindet. Dazu trauen sich viele nicht.
Warum aber ist es leicht, die Folgerungen, die aus Enttäuschung und Demütigung gezogen werden, politisch nach rechts zu lenken? Psychologen, die sich mit dieser Frage ausführlicher befassen, erklären dies damit, dass viele Leute offenbar eine Erlaubnis benötigen, bevor sie sich politisch festlegen. Der Vorsitzende der Neuen Gesellschaft für Psychologie, Professor Klaus-Jürgen Bruder, erklärt dieses Verhalten so: „Wenn man auf die Regierenden, auf den Staatsapparat wütend ist, warum lässt man sich dann wieder von ihm lenken? Das ist einfach zu erklären: Der Staatsapparat (…) lenkt geschickt Wut und Enttäuschung von sich weg auf die „Sündenböcke“, die man nicht persönlich kennt. Das führt dazu, dass sich die Leute sagen: „Wenn ich schon wütend werden darf – das erlaubt die CSU ja -, dann ist mir das aufgezeigte Objekt recht, ich kann meine Wut abreagieren.“
Die Aggression, die Angriffslust wird also verschoben – weg von denen, die die Macht haben, hin zu Flüchtlingen und Muslimen. Dies ist umso leichter, als die Flüchtlinge (abgesehen von Sozialtransfers) eine Wohnung suchen und Arbeit. Nun hat sich als Ergebnis erfolgreicher ideologischer Arbeit die Überzeugung breit gemacht, dass einzig der Markt, und nicht die Politik darüber entscheidet, wie viel Wohnungen es gibt und wie hoch die Beschäftigung ist.
Kommen nun Flüchtlinge dazu, werden – so die Sicht der Dinge – die Wohnungen noch teurer und noch knapper, und es wird noch schwerer, eine Arbeit zu finden. Die Politiker erklären sich für machtlos: Gegen die Macht des Marktes kann sich niemand stellen. Wird das akzeptiert, dann ist es nur logisch, dass – wer Arbeitslosigkeit und Armut fürchtet – lieber weniger Flüchtlinge im Land sieht.
Andere wiederum befürworten aus moralischen Gründen das Teilen. Die Lösung der Frage kann nur darin bestehen, nicht die Flüchtlinge für Arbeitslosigkeit verantwortlich zu machen, sondern die Politik. Die Aggressivität müsste sich gegen die Politiker richten, gegen ihren Marktglauben, ihre Untätigkeit. Mit der Parole „Deutschland den Deutschen“ lässt sich die verzerrte Sicht der Wirklichkeit weiter verdeutlichen.
Unterstellt, wir verstehen unter Deutschland auch das Vermögen der Deutschen, dann legt die vielfach bestätigte, äußerst ungleiche Vermögensverteilung in Deutschland doch nahe, das Vermögen als Teil Deutschlands gleichmäßiger unter den Deutschen zu verteilen. Die Arbeitsfrage heißt: Wer hat wem etwas weggenommen? Haben hassenswerte Ausländer es dazu gebracht, dass die Löhne niedrig sind und die Vermögen rasch anwachsen? Es ist eine Frage des Mutes, hier den richtigen Gegner ausfindig zu machen. Wer diesen Mut nicht hat, denkt sich einen schwachen Gegner aus.
Die Erlaubnis, an wem die Wut abreagiert werden darf, haben viele Politiker der CSU, aber auch der CDU erteilt, lange bevor es eine AfD gegeben hat. Einige Beispiele: 1991 wendet sich der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber gegen eine „durchmischte und durchrasste Gesellschaft“. „Kinder statt Inder“ ist eine Parole von Jürgen Rüttgers (CDU) im Landtagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2000. Roland Koch (CDU) fordert im Landtagswahlkampf in Hessen 2008: „Ypsilanti, Al-Wazir und die Kommunisten stoppen!“ (Allemal sind Ausländer und Kommunisten unser Unglück.)
2006 wendet sich Stoiber gegen die „schleichende Islamisierung“; man dürfe nicht zulassen, „dass Moscheen das Gesicht unserer Städte dominieren“. Beatrix von Storch von der AfD sieht das zehn Jahre später genauso. Ihr Anliegen: Der Parteitag der AfD am 30.4. soll in das Parteiprogramm diesen Punkt aufnehmen: „Wir sind für ein Verbot von Minaretten, von Muezzins und für ein Verbot der Vollverschleierung“. Im beschlossenen Parteiprogramm heißt es dann: „Das Minarett lehnt die AfD als islamisches Herrschaftssymbol ebenso ab wie den Muezzinruf (…).“ Zwar tritt die AfD gegen die Unionsparteien auf, dennoch entscheiden die Autoritäten von CDU/CSU schon seit Langem maßgeblich darüber, gegen wen sich die aufgestaute Wut richten darf.