Die Freiheiten, die ihr, die wir heute haben. Brief an die Enkelgeneration

Die Freiheiten, die ihr, die wir heute haben, sind nicht vom Himmel gefallen, sondern von mutigen Menschen errungen worden. Es waren Einzelne zuerst, dann wurde daraus eine Massenbewegung. Jüngstes Beispiel die Schüler*innen-Proteste in den USA und bald weltweit gegen die Waffengesetze und einen Präsidenten, der von der Waffenlobby mit Spendengeldern bestochen worden sein soll.

Hiernach der Bericht einer ehemaligen Klosterschülerin über ihre Erfahrungen in der ´68er-Bewegung, die mit Studenten- und Schülerprotesten* begann und zu einer (kultur)politischen Massenbewegung wurde, die unser Land und große Teile Europas nachhaltig verändert hat.
Ich habe damals an vielen Aktionen in Recklinghausen, Hamburg und Frankfurt/M teilgenommen. Meine Frau war in der Frauenbewegung aktiv.
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* Motto: „Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren.“


Mein 1968:

„Hinter Klostermauern woll’n wir nicht versauern!“ So skandieren wir, Schülerinnen des Mädchengymnasiums der Armen Schulschwestern von unserer lieben Frau, v.u.l.F. anlässlich der ersten Demonstration im Sauerland. Angeleitet durch die Gruppe: „Kritischer Katholizismus“ und ältere Freunde, die bereits Studenten sind.

„Wir sind die linken Frommen!“ So auf dem Katholikentag 1968 in Essen, wo wir mit einigen Aktionen und Arbeitsgruppen der katholischen Basisbewegung „Kritischer Katholizismus“ Diskussionen führen zum Paragraph 218, dem Zölibat, zur Rolle der Frauen in der katholischen Kirche und zur Theologie der Befreiung. Ein Aufbruch in der Kirche, engagierte junge Christen sind beseelt von der Möglichkeit, Kirche von unten zu verändern! Überhaupt: Endlich ein Aufbruch bei uns im Sauerland! Der Aufbruch findet überall statt. Der Funken von den Ereignissen in Berlin, Frankfurt, München, Tübingen springt über in die Provinz. Wir, aktive Schülerinnen der Klosterschule und SchülerInnen des Nachbargymnasiums, organisieren Arbeitsgruppen zu unterschiedlichsten Themen.

Wilhelm Reich, Sigmund Freud – die Psychoanalyse. Die notwendige Literatur erhalten wir von studentischen Genossen aus Münster. Wir verkaufen die Raubdrucke unter dem Schultisch auf Schulfesten. Dazu die Beatniks-Literatur: „Gammler, Zen und hohe Berge“, Jaques Kerouac und J.D.Salinger:„Der Fänger im Roggen“. Aufbruchsliteratur, die uns katholisch geprägte Mädchen und Jungen begeistert.

Den befreundeten Genossen aus Münster ist das zu unpolitisch: An den Universitäten beginnt man bereits mit Kapital-Schulungen. Die blauen Bände von Karl Marx werden uns mitgebracht. Der Vietnamkongress, das Attentat auf Rudi Dutschke alarmieren auch uns.
Wir gründen, auch fasziniert von den berühmten Kommunen in Berlin und München, eine „Nachmittagskommune“. Zwei Mädchen, zwei Jungen verbringen dort jeden Nachmittag. Andere Aktive kommen zu Besuch. Der katholische Pfarrer hat einen Raum zur Verfügung gestellt. Wir bereiten Arbeitsgruppen und Veranstaltungen vor, entwickeln Texte, exzerpieren Raubdrucke und lesen uns aus dem Buch „Das Kapital“(Band 3) vor. Dazu hören wir Musik von Pink Floyd, Amon Düül, Grateful Dead. Eine irre Zeit!

Und immer wieder besuchen uns die Genossen aus Münster, diskutieren, leiten an, informieren. Wir sind stolz, nicht abgehängt zu sein, sondern geradezu wie durch eine Nabelschnur mit den wichtigen Ereignissen an den Universitäten verbunden zu sein.

Zaghaft besuchen wir unsere erste Demonstration in Münster und kehren gestärkt, agitiert und bereit zu weiterer Auseinandersetzung zurück in unsere Kleinstadt. Wir trampen zu einer Demo in Frankfurt und lernen den Club Voltaire kennen. Dort ist die Schülerbewegung schon sehr stark.

Später einmal sagte mir ein Freund: „Wir waren doch nur der Müll der Geschichte!“ Schließlich waren wir 1968 erst 16 Jahre alt. Ja, es war entscheidend, welches Alter man hatte und welche Rolle man in dieser einmaligen historischen Situation spielte. Erst recht die Persönlichkeiten, Kader, Funktionäre, Leitfiguren, Gurus, fast immer männlich, was man ja auch an den Publikationen zu „1968“ sieht.

Wenn ich mir von heute aus diese Zeit betrachte: Die Zeit um 1968, diese Melange aus politischem und persönlichem Aufbruch, die Errungenschaften persönlicher Freiheit, die geniale Rockmusik und die Zeit in den 70ern, haben meinen Lebensweg geprägt. Und so sehe ich als die eigentliche Revolution und die vielleicht am längsten anhaltende und effektivste die Frauenbewegung, die Emanzipationsbewegung der Frauen Anfang der 70er Jahre:

Frauen kämpften für „die Hälfte des Himmels“, für Gleichberechtigung und mehr Präsenz in Beruf und gesellschaftspolitischen Institutionen. Frauen kämpften für das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper. In den Weiberräten diskutierten wir Frauenrechte, Gleichberechtigung und übten uns in neuen Frauenrollen, machten Musik und demonstrierten gegen den § 218.

Die sogenannte 68er Bewegung veränderte sich: Es begann die Anti-AKW-Bewegung, die Friedensbewegung, die grüne Bewegung, die Demokratisierung gesellschaftlicher Bereiche, die Unterstützung von Freiheitsbewegungen in Lateinamerika. Aber auch die RAF. 1968 – es war die Zeit, die Deutschland in eine gelungene Demokratie geführt hat. Darauf können wir stolz sein, und diese sollten wir immer überprüfen und verteidigen!

Christa Hengsbach
, Frankfurt

[Aus der Frankfurter Rundschau, 14.04.2018]

Bürgerreporter:in:

Dietrich Stahlbaum aus Recklinghausen

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