Der Atheist und das Vaterunser T. I

Der Atheist und das Vaterunser T. I

Die Beerdigung eines Mannes, der noch im Rentenalter politisch engagiert und vor wenigen Jahren gestorben war, hatte ein merkwürdiges Ende. Der Tote war in der Friedhofshalle aufgebahrt. Schlichter Sarg, ein Foto von ihm, Kränze, Blumen. In der Halle waren, als ich eintraf, nur noch wenige Plätze frei. Klassische Musik: ein Satz aus einer Sinfonie. Ein Genosse hielt die Trauerrede, schlicht wie der Sarg, ohne Pathos. Danach sprach ein junger Mann ein Gedicht von Brecht. Sinfonische Musik erklang, begleitete die Trauergäste und den Sarg hinaus.

Sechs Schwarzgekleidete hängten Kränze um den Sarg, zogen ihn, angeführt von der Bestatterin, auf einem Wagen den Friedhofweg entlang und versenkten den Schrein im Grab. Die Witwe, Verwandte und politische Weggefährten des Toten warfen Erde, Blüten, Blumen auf den Sarg. Die Gäste stellten sich danach in die Reihe, gingen zur Witwe und zum Bruder des Verstorbenen und kondolierten.

Es war Herbst. Die Blätter der alten, hohen Bäume rauschten leise. Krähen krächzten. Die Natur besang den Toten.

Als Letzter ging der junge Mann, der das Brechtgedicht rezitiert hatte, zum Grab, warf eine Handvoll Erde und eine rote Blume auf den Sarg, streckte die Faust zum Himmel und rief so laut, dass die Krähen aufflogen: „Eberhard, der Kampf geht weiter!“

Die Trauerversammlung begann sich aufzulösen. Da trat die Bestatterin aus dem Hintergrund hervor, stellte sich demonstrativ vor das Grab und sprach, ebenfalls unüberhörbar – das Vaterunser!

Bürgerreporter:in:

Dietrich Stahlbaum aus Recklinghausen

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