Kindheitserlebnisse: Familienzusammenführung durch die Hintertür

Unsere Wohnung im "Haus Daheim", Altenbrak im Bodetal, St. Ritter 24, im Ortsjargon "bei Agnes".
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  • Unsere Wohnung im "Haus Daheim", Altenbrak im Bodetal, St. Ritter 24, im Ortsjargon "bei Agnes".
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Zur Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft in der Bretagne hatte mein Vater als seine neue Adresse die von Verwandten im Badeort Laboe an der Kieler Förde (britische Zone) angegeben. Wir zwei Kinder wohnten zu der Zeit allerdings noch mit unserer Mutter und Oma im Ostharz, im Luftkurort Altenbrak im Bodetal Kreis Blankenburg, in der damaligen Sowjetzone also.

Da alle arbeitsfähigen Personen beschäftigt werden mussten, es aber in Altenbrak nur forstliche Arbeitsmöglichkeiten gab, arbeitete meine Mutter dort im Wald: Bäume schälen, neue Baumkulturen anlegen und schließlich auch die Forstaufsicht wahrnehmen.

Als die Familienzusammenführung in der britischen Zone anstand und die Aufenthaltsgenehmigung für Laboe bereits erteilt war, wollte man uns in Altenbrak nicht so einfach ziehen lassen. Forstarbeiter wurden gebraucht und eine Umzugsgenehmigung gab es daher nicht. Also sollte die Übersiedlung mehr oder weniger heimlich erfolgen. Sie wurde für den Sommer, zur Urlaubszeit meiner Mutter, geplant. Vorab gingen verschiedene Päckchen, Rollen und Vierecke mit Handtüchern, Unterwäsche, Bekleidungsstücken und Besteck nach Laboe ab. Die größeren, transportablen Teile des kargen Flüchtlingshaushalts wurden in einem Holzkoffer und einem Wäschekorb verstaut und direkt zur Reise per Bahn nach Schwerin aufgegeben.

Da in den Westzonen kurz vor unserer Abfahrt die Währungsreform stattgefunden hatte und dort unsere alte Reichsmark nichts mehr galt, mussten wir also in der Sowjetzone so weit wie möglich nördlich reisen. Geplant war es, die Grenze irgendwo bei Lübeck zu queren.

Eines frühen Sommermorgens ging es dann nach Blankenburg und von dort mit der Eisenbahn über Halberstadt, Magdeburg, Stendal, Wittenberge und Ludwigslust nach Schwerin. Das aufgegebene Gepäck war auch bereits angekommen als wir in Schwerin eintrafen. Nun galt es herauszufinden, wie es nach Lübeck weiter gehen könnte.

Auf dem Platz vor dem Bahnhof bot sich eine Frau Ilse K. aus Grevesmühlen an, uns weiterzuhelfen. Sie kannte jemanden in Dassow, direkt an der Grenze zur britischen Zone. Der würde Grenzwechsler per Schlauchboot heimlich nach Schleswig-Holstein übersetzen. Allerdings, unsere Gepäckstücke könnte er nicht mit befördern. Die könnten wir aber bei ihr zurück lassen und sie würde uns den Inhalt dann päckchenweise nachsenden. Übernachten könnten wir zunächst in Grevesmühlen. Mutter und Oma sahen keinen anderen Weg als sich darauf einzulassen.

Früh am nächsten Morgen nahm uns dann der Bürgermeister in seinem schwarzen Dienstwagen mit rotem Stander auf seinen Weg nach Dassow mit. Es wäre zwar verboten, sich der Grenze zu nähern, aber Dienstfahrzeuge würde die Volkspolizei nicht kontrollieren. Nun, bereits nach 9 km, kurz hinter Mallentin, wurden wir von der Vopo angehalten und der Bürgermeister und sein Fahrer mussten ihre Fahrt alleine fortsetzen. Wir aber wurden nach Schönberg gebracht und im Keller der Polizeistation zu anderen in eine Zelle gesperrt. Die Erwachsenen wurden eingehend verhört. Anschließend bot man uns eine Übernachtungsmöglichkeit und versprach, uns am Folgetag an die Grenze zu bringen, wo die Russen entscheiden sollten, ob wir ausreisen dürften.

Wir erreichten Herrnburg an einem sonnigen Vormittag per Vopo-Lkw und wurden 100 m vor der Grenze bei einem einzeln stehenden Haus abgesetzt. Links vom Eingang befand sich dort ein Raum, an dessen Stirnwand ein russischer Offizier auf einem Podest thronte. Die Bittsteller mussten einzeln vortreten und ihr Anliegen einer Volkspolizistin nennen, die als Dolmetscherin fungierte. In unserem Fall urteilte der Offizier "njet" - Grenzübertritt abgelehnt.

Freundliche Herrnburger gaben uns dann den Rat, uns hinter einer Wallhecke am Straßenrand zu verstecken. Der Offizier und sein Gefolge würden bald zum Mittagessen in den Ort fahren. Dann könnten wir uns an die Wachsoldaten direkt am Schlagbaum wenden, die ließen Grenzgänger schon mal gegen ein kleines Geschenk - etwa eine Uhr - passieren.

Also warteten wir mit Bangen auf die Mittagspause und sprachen die beiden Soldaten am Übergang an. Die wollten den Fall nicht alleine entscheiden und erst ihren Sergeanten fragen. Der kam kurz darauf von seinem Kontrollgang zurück. Ob wir hinüber dürften? Er strich uns Kindern über das Haar: "Da, da - dawai, dawai! Nix zurick!"

In Lübeck mussten wir noch einige Tage im britischen Auffanglager Pöppendorf hinter Stacheldraht verbringen, bevor wir den Zug nach Kiel besteigen durften.

Von unserem Gepäck, das wir bei Frau K. in Grevesmühlen zurück gelassen hatten, sahen wir nur ein kleines Päckchen wieder. Der Rest, für den die Beförderung schon vorab bezahlt worden war, sollte mit immer neuen Forderungen nach Geld und Kaffee ausgelöst werden. Wir haben darauf verzichten müssen.

Bürgerreporter:in:

Peter Perrey aus Neustadt am Rübenberge

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