"PISA hat die Gesellschaft für Bildungsfragen wachgerüttelt": Interview mit Ernst Weidl, Direktor des Neusässer Justus-von-Liebig-Gymnasiums

Der Direktor des Justus-von-Liebig-Gymnasiums an seinem Schreibtsich
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Mit Herrn Weidl sprach ich über PISA, den Herausforderungen, mit denen Lehrer in der heutigen Zeit zu kämpfen haben, über die heutige Schülergeneration und über das G 8. Danach nutzte ich die Zeit noch für einen kleinen Spaziergang durch das Schulhaus und entdeckte wahre Schätze.

myheimat: Sie sind seit einem halben Jahr Schulleiter am Neusässer Gymnasium. Wie würden Sie rückblickend die letzten Monate beschreiben?

Weidl: Als spannend und interessant. Jeder Tag mit neuen Herausforderungen, weil Schulen doch ganz unterschiedlich organisiert sind und ich erstmal den ganzen großen Betrieb kennenlernen musste. Ich finde hier sehr viel Tradiertes, gut Funktionierendes vor, was ich auch nicht ändern möchte. Ich ändere nur etwas, wenn das Ergebnis besser wird. Aber wenn das am Ergebnis nichts ändert, dann passe ich mich den vorhandenen Strukturen an.

Aber Sie haben doch bestimmt Pläne und Vorhaben für die Zukunft?

Ich handele nach einem Motto, das ich von Total Quality Management übernommen habe, wo ich ein Zusatzstudium gemacht habe. Das Motto lautet: Wer aufhört besser zu werden, hört auf, gut zu sein. Das ist mein Leben bestimmendes Motto. Das heißt, dass man sich nicht auf den Erfolgen ausruhen kann, sondern dass man auch Stärken pflegen muss.

Ich möchte v.a. die Schule öffnen. Öffnung der Schule ist ein Fachbegriff, d.h., dass die Schule sich externen Partnern, Organisationen stärker zuwendet. Und da finde ich ist es wichtig, dass wir nicht in einem Elfenbeinturm leben, sondern dass wir als Lehrkräfte unseren Schülern die Möglichkeit bieten, über den Tellerrand der Schule rauszuschauen. Mir ist auch wichtig, die Schule in Neusäß und im Landkreis zu stabilisieren, damit man weiß, dass das Justus-von-Liebig-Gymnasium ein ernstzunehmender Wettbewerbspartner ist im Vergleich mit den anderen Schulen.

Würden Sie sagen: Schule ist mehr als ein Haus, in dem man nur lernt?

Das kommt darauf an, welchen Begriff man von Lernen hat. Wenn man Lernen im ganzen Engen Sinn versteht, dann ja. Wenn Lernen auch im Sinne von Erwerben von Kompetenzen im Bereich Sozial-, Methodenkompetenz, kulturelle Kompetenz bedeutet, dann nein. Dass der Unterricht eine unserer Kernkompetenzen ist, das ist klar. Würde man das abstreiten, dann würde man Schule missverstehen. Aber über den reinen Unterricht im Klassenzimmer hinaus, finde ich es ganz wichtig, dass man Unternehmungen macht, ob das Exkursionen sind, Realbegegnungen mit Politikern, Kulturträgern, mit Medien, mit Wirtschaftsunternehmen, sozialen Institutionen. D.h. es ist ganz wichtig, den Schülern den Blick zu erweitern und auch zu schärfen.

Haben Sie eine pädagogische Leitlinie?

Ich finde, dass nicht nur der Erwerb von Wissen in einer Schule praktiziert werden darf, sondern dass auch Werte vermittelt werden müssen. Das sind Sekundärtugenden, die oft sehr traditionell klingen, die aber in der heutigen Gesellschaft mehr denn je wichtig sind, z.B. Höflichkeit, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Toleranz. Es ist wichtig, dass die Schüler das hier mitbekommen und vorgelebt bekommen. Das muss jeder tagtäglich von Neuem anpacken.

Ist die Wertevermittlung im Lehrplan integriert?

Das passiert in jeder Minute, ohne dass man es ausspricht. Wir leben die Werte vor und wir fordern sie ein. Es funktioniert über Lernen über das Vorbild. Ich halte das Vorbild für ganz, ganz wichtig. Alles, was ich von den Schülern einfordere, das muss ich selbst vorleben und praktizieren, ansonsten ist es nicht überzeugend. Wir sind hier eine Gemeinschaft und die funktioniert nur, wenn jeder an seiner Stelle mit anpackt.

Sie haben es vorhin schon kurz angesprochen, dass es auch immer Lernen außerhalb des Unterrichts gibt. Gibt es feste Institutionen in diesen außerschulischen Erfahrungswelten?

Ich achte als Schulleiter sehr darauf, dass wir im Rahmen des Geschichtsunterrichts nach Dachau fahren und das ehemalige Konzentrationslager mit der angeschlossenen Institution besuchen, um vor Ort das zu vermitteln, was nur vor Ort gesehen werden kann. Das kann ein Unterricht in dem Maße nicht erreichen. Die Klassen kehren in der Regel nach dem Besuch mit einer großen Betroffenheit zurück. Das ist m.E. der Nachhaltigkeit sehr zuträglich.

Dann sind mir wichtig politische Institutionen wichtig. Man kann natürlich nicht alle Institutionen von der Staatsregierung bis zum Landtag durchlaufen, aber doch zumindest eine Institution. Wir besuchen Berlin und versuchen einige Institutionen kennenzulernen, wie das Parlament und den Reichstag und manchmal kann man auch an einer Sitzung des Bundestages teilnehmen.

Diese Dinge finden traditionell statt, andere Dinge finden zu gegebenem Zeitpunkt statt. Z.B. fahren wir im Kunstunterricht ins Museum, wenn es da eine herausragende Ausstellung gibt.

Ist so der Praxisbezug gerade an der Oberstufe gewährleistet?

Der Praxisbezug in der neuen Oberstufe des G 8 wird noch wesentlich stärker gewichtet. Wir haben jetzt die neuen P-Seminare, also die Praxisseminare. D.h. den Schüler wird ein halbes Jahr eine Thematik mit Studien- und Berufsorientierung nahegebracht und das geschieht mit verschiedenen Begegnungen.

Begegnungen sind da das Berufsinformationszentrum im Arbeitsamt, Berufsberater bei uns im Haus und z.B. der Besuch eines Unternehmens Da sollen die Schüler am Beispiel lernen, wie man bestimmte Berufsfelder recherchiert, welche Voraussetzungen für einen bestimmten Beruf nötig sind usw.

Was halten Sie persönlich vom G 8?

Ich bin kein Gegner des G 8, weil ich die Notwendigkeit bundesweit gesehen habe. Man kann nicht aus einem föderalistischen Staatengefüge ausscheren. Wir sind im Vergleich, wenn wir fertig werden, älter als die international europäische und außereuropäische Konkurrenz. Was ich bemängelt habe bei der Einführung des G 8, ist das Überhetzte. Das sieht man ja auch daran, dass die bayerische Staatsregierung an manchen Stellen korrigieren musste, weil es innerhalb weniger Monate umgestellt wurde.

Welche Chancen sehen Sie in der Ganztagesschule?

Die Ganztagesbetreuung ist ja noch nicht verpflichtend und ob diese in den nächsten zehn Jahren verpflichtend sein wird, steht in den Sternen. Aber für Eltern, die beide berufstätig sind, und ihre Kinder nachmittags professionell betreut sehen wollen, ist das gut. Ich bin ein Anhänger von Freiwilligkeit. Wenn ich nur ein Ergebnis erziele, weil ich es anordne, dann wird halt Dienst nach Vorschrift gemacht. Wenn allerdings ein Lehrer es freiwillig macht, dann ist das Ergebnis in der Regel besser. Wenn ich gesetzlich verordne, dass alle Schüler in die Ganztagesschule gehen müssen, dann mag es Eltern geben, die das nicht wollen und die das dann auch ihren Kindern vermitteln und diese merken das und verhalten sich abwehrend.

Welche Angebote gibt es noch neben dem normalen Unterricht?

Ganz viel. Wir haben Theater, Politik- und Zeitgeschichte, Sport in diversen Gruppen, Chor, Big Band, Orchester, Wahlunterricht im Bereich Sprachen, z.B. spanisch, Streitschlichter usw. Außerdem haben wir eine ganz rege Fachschaft Mathematik. Wir haben einen jahrgangsstufenübergreifenden Pluskurs Mathematik und eine ganz intensiv arbeitende Gruppe „Jugend forscht“, die von Frau Graber betreut wird. Dann nehmen wir auch regelmäßig mit großem Erfolg an „Jugend debattiert“ teil. Das haben wir auch ganz fest in den Unterricht integriert. Wir sehen die Form der Debatte als so wichtig an, dass wir in der 8. und 9. Jahrgangsstufe eine Debatte statt einer Deutschschulaufgabe haben. Da haben wir uns auch bis zum Bayernwettbewerb qualifiziert.

Mit welchen Herausforderungen hat Ihr Gymnasium in den nächsten Jahren zu kämpfen? Sind es eher die sinkenden Schülerzahlen aufgrund der demographischen Entwicklung, die Herausforderungen des G 8 oder die vielfältigen Vorstellungen von Werten und Erziehungsformen, mit denen die Schüler konfrontiert werden?

Die Herausforderungen sind vielfältiger Natur. Ich denke, dass wir immer mehr gefordert sind, den Wertedissens, den nicht vorhandenen Wertekonsens, in der Gesellschaft auszugleichen. Wir müssen manches den Schülern vermitteln, was früher ganz und gäbe war. Wir müssen darauf achten, dass die Kluft in der Gesellschaft nicht größer wird. Jede Schule wird sich noch besser positionieren müssen angesichts der demographischen Entwicklung. Ich denke, die Konkurrenz mit den Medien wird nicht kleiner. Die Schüler haben viel mehr Ablenkung als früher. Es ist wichtig, dass Schule hier auch beachtet wird und hier ihren Stellenwert hat. Manche Elternhäuser packen zu viel in ihren Alltag hinein und die Schule hat da kaum mehr Raum. Ich glaube auch, dass das ein Teil der Klagen über das G8 darstellt.

Hat man als Lehrer schwieriger als früher, dadurch dass Schule nicht mehr den gleichen Stellenwert hat wie früher?

Ja, aber nicht mit den Schülern. Wir haben ganz handzahme, junge, nette und höfliche Menschen hier. Es ist ein gesellschaftliches Phänomen, dass Schule nicht mehr den Stellenwert mehr hat als früher. Damit verbunden ist auch die Anstrengungsbereitschaft eine andere. Das betrifft nicht alle Schüler und alle Elternhäuser aber der Trend geht dahin. Es ist heute nicht mehr gang und gäbe, dass man sich durch ein Problem wühlt.

In Deutschland entscheidet die soziale Herkunft häufig über die Bildungschancen der Jugendlichen. Wie lässt sich hier eine größere Chancengleichheit herstellen?

Sprache, Sprache, Sprache. Sie können noch so lange in einem Land leben, an der Sprachfertigkeit wird immer ein kleines Manko sein. Auch wenn sie die Fremdsprache noch so gut beherrschen. Die Feinheiten werden immer fehlen. Die Förderung des Deutschen, d.h. der Sprache unseres Landes ist ganz, ganz wichtig. Damit steht und fällt die Integrationsmöglichkeit in die Schulen und damit auch in die weiterführenden schulen. Die Kinder mit Migrationshintergrund sind auf keinen Fall weniger intelligent, sondern man muss sich bewusst sein, dass oftmals die 1. Fremdsprache an der Schule schon die 2. Fremdsprache ist.

Gibt es in der Unterstufe noch zusätzliche Angebote?

Wie haben individuelle Förderungsstunden, nicht nur für das Fach Deutsch. Auch für Schüler ohne Migrationshingtergrund. Das Angebot wird auch angenommen.

Stichwort: PISA. Was können Sie aus Ihren persönlichen Erfahrungen sagen?

Mit PISA lässt sich nicht alles erklären und testen. Man kann Bildung nicht nur unter utilitaristischen Gesichtspunkten sehen. Man kann an der Schule nicht nur das unterrichten, was man später im Berufsleben braucht oder nur auf Kompetenzen bezogen. Z.B. braucht man im Berufsleben kein Latein. Ich finde, dass es dennoch einen gebildeten Menschen ausmacht, dass man darüber hinaus Bescheid weiß. Was PISA überhaupt nicht abtestet, das sind Werte. Man kann nicht nur einen Schüler nach PISA-Kriterien bewerten, ich möchte die Gesamtpersönlichkeit sehen. PISA ist kein ganzheitlicher Test, sondern greift bestimmte Punkte heraus.

Dennoch bin ich PISA sehr dankbar, weil PISA die Gesellschaft für Bildungsfragen wachgerüttelt hat. Vor 2000 war Bildung lange Zeit kein Thema in der hohen Politik Heute ist es zumindest bei vielen im Munde, auch wenn ich es bezweifle, dass es jeder ernst damit meint. Nicht jeder, der sich Bildung auf die Fahne schreibt, widmet der Bildung dann doch so viel Beachtung, auch an finanziellen Mitteln.

Finanzielle Ausstattung ist nicht das allein Seligmachende an einer Schule, aber die Umgebung spielt sicherlich eine Rolle unter mehreren.

Herr Weidl, vielen Dank für das Interview!

myheimat-Team:

Tanja Wurster aus Augsburg

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