Hainhofen damals
Die Musikbox im Dorfgasthof in Hainhofen

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Wer hat mein Lied so zerstört, Ma ?

„Get it on, bang a gong“ … Beatmusik und Rock'n Roll trafen mich in den lärmenden Sechzigern Jahren mitten ins pulsierende Teenagerherz und infizierten mich unheilbar für den Rest meines Lebens. Damals hörte man die neue, von engstirnigen Spießbürgern gerne als "Negermusik" diffamierte Musik kaum im öffentlich-rechtlichen Röhrenradio mit seinen verkrusteten Strukturen und eine Alternative gab es nicht. All die wunderbaren 45er Singles von Ariola und Polydor oder gar die 33er Langspielplatten mit ihren dekorativen Hüllen waren jenseits unseres schmalen Taschengelds unerreichbar. Aber es gab im Dorf den Gasthof zum Lamm und darin befand sich das "Nebenzimmer" und in diesem stand unter der Garderobe diese chromglänzende Musikbox mit ihren rosa leuchtenden Buchstaben- und Zahlentasten und dem gläsernen Schaufenster, hinter dem sich das Karussell mit den unzähligen schwarzen Scheiben drehte. Ein Lied für 20 Pfennig, drei für ein Fuchzgerle oder gar sechs Platten nonstop für 1 Deutsche Mark, dutzende Titel jederzeit verfügbar, solange nur die Münzen klimperten. Hastig wurden die Buchstaben und Zahlen gedrückt, ruckartig setzte sich das Glücksrad in Bewegung, der Greifer suchte wie von Geisterhand gelenkt zielsicher die gewünschte Scheibe, platzierte sie sanft auf den rotierenden Teller und mit einem erregenden Rauschen als Vorspiel setzte der Tonarm die Nadel auf: „Oh, what sweet sensation ... Lord, what strange emotion“ …

Manche der Platten waren vom hundertfachen Gebrauch schon ergraut wie alte Männer, die Neuerscheinungen und ungeliebten B-Seiten glänzten dagegen noch mit pechschwarzen jungfräulichen Rillen. Die Auswahl war riesig, aber streng nach Zielgruppen getrennt. Links das "moderne Zeug" wie Beat und Rock für die Langhaarigen, rechts die traditionelle Hintergrundmusik für die Schafkopfrunde am Sonntagvormittag mit altvorderen Märschen, Egerländer Polkaseligkeit und dem deutschen Liedgut des schwarzbraunen Heino. Die wilde linke Seite weitete sich jedoch rasend schnell weiter aus, beanspruchte immer mehr Fächer auf dem Plattenrondell, ganz dem Gesetz der freien Marktwirtschaft folgend, gemäß dem sich das Angebot stets gewinnbringend nach der Nachfrage richtet. Und der Bedarf an krachenden Beats war riesig in diesen Tagen, als der Mief der Nachkriegsjahre langsam verflog. Gitarre und Schlagzeug lieferten den Soundtrack für Asbach-Cola-Nächte ohne Sperrstunde … “Well I'm your Venus, I'm your fire ...“

Im „Lamm“ war immer montags Ruhetag, aber an allen restlichen Werktagen, sonn- und feiertags lief die Box ununterbrochen von früh bis spät. Bestückt wurde der Musikautomat im Nebenzimmer ebenso wie das verlockende Glücksspiel-Groschengrab in der großen Stube drüben von Paul B. Der kannte sich ganz viel mit Technik aus, wußte aber herzlich wenig über den aufkeimenden neuen Musikgeschmack der Hainhofer Dorfjugend Bescheid. Da kam ich ihm gerade recht und wir gründeten stillschweigend eine frühe Join Venture Vereinigung mit einer Win-Win-Situation für beide Parteien. Er fragte bei mir nach, welche Scheiben er besorgen solle und ich schrieb ihm die angesagten Titel auf. So kam es, daß aus Dauners Nebenzimmer nicht nur die Hitparaden-Dauerbrenner wie Sweet, Kinks oder Middle of the Road dröhnten, sondern auch Led Zeppelins wummerndes Schwermetall die qualmenden HB-Männchen am Stammtisch regelmäßig zur Weißglut brachte.

„I see the bad moon arising“ … die Könige der Jukebox waren aber unangefochten Creedence Clearwater Revival, die zu ihren besten Zeiten mit acht Titeln gleichzeitig in der Box zu finden waren. Getanzt wurde im Nebenzimmer des Gasthofs nicht, aber immerhin lockte der knackige Gitarrensound auch mal das eine oder andere miniberockte Mädchen auf eine Fanta in die verrauchte Kammer, eine nicht zu unterschätzende Nebenwirkung für uns pubertierende Schlaghosenträger. Doktor Sommers feuchte Fummeltipps aus der Bravo wollte man schließlich hautnah in der Praxis erproben. Da konnte es nicht schaden, wenn man sich frisurmäßig den ondulierten Jungs auf den Plattenhüllen anpaßte und es wurde schon mal eine ganze Mark für 6 langsame Nummern hintereinander geopfert, damit den neugierigen Fingern ausreichend Zeit blieb, um die verlockendsten Ziele zu ertasten … „Just for a look at Pretty Belinda“.

Es war eine unbeschwerte Zeit der sinnlichen Erfahrungen, untermalt von den aufregenden Klängen, die aus Großbritannien und den Vereinigten Staaten über die schwäbischen Dörfer schwappten. Doch bald schon begann diese heile Welt aus Vinyl zu bröckeln. Die ersten Discos öffneten im Landkreis Augsburg ihre Tanzflächen, in Neusäß war bald der legendäre "Försterkeller" angesagt und immer mehr Jungs kamen aus der Lehre und konnten sich eine Kreidler mit hochgezogenem Auspuff oder gar einen gebrauchten Ford Capri leisten, um dorthin zu fahren. Der Exodus zum HiFi-Sound und den ekstatischen Stroboskoplichtern der Diskotheken war unaufhaltsam und auch in den heimischen Wohnzimmern wurde Popmusik durch neue jugendorientierte Sender und Moderatoren nach und nach gesellschaftsfähiger und durch bezahlbare mobile Geräte immer verfügbarer. Auf Paules wundgekratzte Singles war bald keiner mehr angewiesen. Schnelllebigkeit und Gewinnstreben beherrschten mehr und mehr die Gastronomie und die Musikszene, irgendwann lamentierten die Buggles "Video killed the radio star" und heute sind wir im Zeitalter des sterilen Runterladens von Streaming-Plattformen angelangt, in dessen Konsumrausch eine glattgebügelte Pop- und Rockmusik längst ihre bodenständige, rauhe Seele für immer verkauft hat. Was bleibt, ist die wehmütige Erinnerung an eine unwiederbringliche Zeit, in der Musik, gepresst auf kurzlebigen Dreiminutensingles ein Gefühl des jugendlichen Aufbegehrens und des Andersseins transportierte. Aber so treibt er eben dahin, der nicht aufzuhaltende ewige Fluß unseres Lebens ...
Big wheel keep on turnin' … Proud Mary keep on burnin' … rollin' on the river ...

Bürgerreporter:in:

Helmut Weinl aus Neusäß

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