Für Polarfahrer und Zeichner - 5 besondere Lesetipps für die herbstliche Lesezeit

Man kommt ja schon gar nicht mehr hinterher. Selbst die eine Stunde, die uns dank des Wechsels zur Winterzeit, gegeben wurde, hilft nicht wirklich. Lesen braucht halt seine Zeit, vor allem die Lektüre der Literaturempfehlungen, die vor und nach der Frankfurter Buchmesse seitenweise, ja beilagenweise die Zeitungen und Zeitschriften füllten. Das Weihnachtsgeschäft treibt scheinbar schon jetzt seine Blüten, weit vor der Saison. Das ist wie bei den Dominosteinen und Spekulatius, den gefüllten Lebkuchen und Stollen. Und glitzernder und blinkender Weihnachtsschmuck gibt es ja auch schon, sagt die Werbung. Aber zurück zur Literatur: Vor allem die großen Namen füllen die Gazetten, bekannte Autoren und deren Verlage haben es wieder geschafft, wenige Wochen vor der Adventszeit und pünktlich die meist dickleibigen Werke zu veröffentlichen. Es dürfen wieder Wunschzettel geschrieben werden, und wenn es nur der auf Amazon ist, der irgendwie immer länger wird.

Aber seien wir ehrlich, die immer kürzer werdenden Tage sind die beste Zeit, um zu lesen, ja auch stundenlang. Selbst an Backstein dicke Wälzer wagen wir uns heran, mit denen einige nur Bekanntschaft machen, wenn sie am Strand von Malle liegen, zum 20. Male, weil ihnen ein Urlaub an anderer Stelle einfach zu anstrengend erscheint. Deshalb zum literarischen Herbst wieder einige Lesetipps, die es vermutlich nicht auf die Bestseller-Listen schaffen, aber trotzdem wunderbar sind und vielleicht für den einen oder anderen in Sachen Weihnachtsgeschenk (man muss ja planen) eine Empfehlung sein können.

FÜR GESELLSCHAFTSKRITIKER – Rose Tremain „Der weite Weg nach Hause“

Lev packt den Koffer und steigt in den Bus. Der hält nicht nach wenigen Minuten, sondern erst nach einigen Tagen. Denn Lev, aus einer kleinen osteuropäischen Stadt stammend, will in der englischen Hauptstadt London sein Glück versuchen, einen Job finden und das verdiente Geld seiner Familie in der Heimat schicken. Doch das Land der Träume gibt es nicht. Der 43-Jährige schlägt sich als Prospektverteiler durch, arbeitet in einem Döner-Imbiss, schuftet später in einem stilvollen Restaurant. Er erlebt Intoleranz, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit. Schließlich keimt in ihm ein neuer Plan, den er an allzu bekannter Stelle erfolgreich verwirklicht. Rose Tremain ist mit „Der weite Weg nach Hause“ ein wunderbarer Roman mit charismatischen Figuren gelungen, der der westlichen Welt den Spiegel vorhält.

FÜR POLARFAHRER – Jean Malaurie „Mythos Nordpol“

Vorsicht – dies ist ein Buch, das man nicht mit in den Urlaub nehmen sollte. Nicht, weil es einen beim Lesen eiskalt über den Rücken laufen könnte. Das Buch könnte eher dafür sorgen, dass man an der Gepäckabfertigung am Flughafen draufzahlen muss. Der kiloschwere und großformatige Prachtband ist für all jene ein Juwel im Bücherschrank, die die weiße Welt rund um die Pole faszinierend finden. Der französische Polarforscher und Autor Jean Malaurie, der für sein Werk mehrfach ausgezeichnet wurde, widmet sich in diesem Buch den zahlreichen Expeditionen, die in den letzten 200 Jahren zum Nordpol führten. Der Band ist reich bebildert und ein wahrer Wissensschatz zu diesem Thema.

FÜR ZEICHNER - Reif Larsen „Die Karte meiner Träume“

Es ist schwer, dieses Buch mit Worten zu beschreiben. Vielmehr wären hier Zeichnungen hilfreicher, die diesen Roman besonders würdigen sollten. Reif Larsen erzählt eine herrliche Geschichte über einen hochbegabten Jungen namens Sparrow (Spatz), der von zu Hause abhaut, um am Smithsonian Institut, eine der bedeutendsten Wissenschafts- und Bildungseinrichtungen in den USA, einen bedeutenden Wissenschafts-Preis für seine Karten und Zeichnungen in Empfang zu nehmen. Während seine Eltern keinen blassen Schimmer von dieser Auszeichnung haben, weiß kein Institutsmitarbeiter, dass der Preisträger gerade mal zwölf Jahre ist. Auf der Reise quer über den amerikanischen Kontinent erlebt Sparrow so manches Abenteuer, die sich natürlich wie auch seine Gedanken und Gefühle in Zeichnungen widerspiegeln. Diese bebildern die Geschichte und machen aus dem Buch ein kleines Meisterwerk.

FÜR FREUNDE VERRÜCKTER GESTALTEN - Lars Saabye Christensen „Der Halbbruder“

Leider ist es noch immer so, dass skandinavische Literatur fast ausschließlich ein Verkaufsrenner ist, wenn auf dem Cover die Worte „Spannender Krimi“ stehen. Doch die nordischen Länder haben literarisch weit mehr zu bieten; vor allem für jene, die intensiv erzählte Familiengeschichten mit teils verrückten Gestalten mögen. So eine ist der mehr als 700-seitige Roman „Der Halbbruder“ des Norwegers Lars Saabye Christensen, für den er mehrfach mit Preisen prämiert wurde. Er erzählt darin die Geschichte der ungleichen Halbbrüder Fred und Barnum, die nach dem Krieg in Oslo aufwachsen. Über mehrere Jahrzehnte ihres Lebens begleitet der Leser die beiden speziellen Charaktere und deren „bunt gemischte“ Familie.

FÜR GESCHICHTSFANS UND FLIEGER – Uwe Timm „Halbschatten“

Ein Mann läuft über den Invalidenfriedhof in Berlin, begleitet von einem anderen, der Graue genannt, der ihn von Grabstein zu Grabstein, von Schicksal zu Schicksal führt. Der Graue braucht eigentlich nicht viel zu sagen – denn die Verstorbenen sprechen selbst. Ihre Stimmen sind zu hören, die von ihrem Leben, von Glück und Leid, ja auch von ihrem Sterben berichten. Eine der Stimmen ist die von Marga von Etzdorf, jener Rekordfliegerin, die im August 1931 mit ihrer Junkers, alias „Kiek in die Welt“, allein von Deutschland nach Japan geflogen war. Erzählt wird in diesem Roman nicht nur ihre interessante Lebensgeschichte mit einem indes traurigen Ausgang. Autor Uwe Timm bettet in seinem Werk auch die wichtigsten Kapitel jüngster deutscher Geschichte - vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg - ein. All das in einer Erzählform, die vom Spiel mit Versatzstücken und dem Wechsel von Zeitebenen lebt und damit auch eine spannende Herausforderung an den Leser stellt.

myheimat-Team:

Constanze Matthes aus Naumburg (Saale)

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