Mit dem Kopf nach Jerusalem

12. Mai 2010
15:30 - 16:00 Uhr
Buttenhausen, Münsingen
40Bilder

Heute war ich mit der Kamera unterwegs und machte Bilder vom jüdischen Dorffriedhof in Buttenhausen (Großes Lautertal, Schwäbische Alb). Zur Beschreibung eignet sich am besten nachfolgender Text, abgedruckt in Theodor Rothschilds „Bausteine“, erschienen in Frankfurt/Main 1927 S.138ff
„Der jüdische Friedhof hatte eigentlich zwei Hälften. Im südlichen Teil lag die alte Hälfte. Von den dort begrabenen Leuten kannten wir nicht einen. Die Grabhügel waren kaum mehr zu erkennen, die Grabsteine verwittert und verfallen und in die Erde gesunken. Buschwerk hatte fast alle Gräber überwuchert. Nur ein schöner großer Grabstein mit Marmortafeln stand mitten im Trümmerfelde, an der Stätte des Zerfallens, des Sterbens. Einer vom Dorf, der in Amerika reich geworden ist, sollte dort unten ausruhen, so erzählten wir uns. Sooft wir vom Dorf zum „Gutort“ aufsahen, immer traf unser Blick zuerst diesen großen Stein und er schien uns fremd und fern. Er war nicht aus dem heimischen Boden gewachsen.
Der andere Teil, die nördliche Hälfte, getrennt von der südlichen durch einen Grasweg, zeigte schönere Grabdenkmäler. Die Gräber waren eingefasst, teilweise angepflanzt und mit Gittern versehen. Nicht Tod und Vergehen sollte das Beth-Chajim – Raum des Lebens – allein uns künden, nein, auch Entstehen, Fortschreiten, neuen Anfang, Blühen aus Untergang und Ende. Dunkle Tannen, kräftige Buchen vom nahen Wald hängten ihre Zweige schützend über die erste Gräberreihe neben dem Zaun. Geheimnisvoll mischte sich ihr Rauschen in das Geflüster der abgeschiedenen Seelen. Der dunkle Wald, der gleichsam aus dem „Gutort“ herauswuchs, erhöhte das Rätselhafte dieses Ortes. Tausend ängstliche Träume durchzogen unsere Seele, wenn wir dann und wann diesen ruhigen, stillen Ort bei einem Begräbnis besuchten. Einfach, ruhig und würdig ging es dabei zu. Wir fühlten das Geheimnisvolle des Todes, mächtig ergriff uns das stimme Weinen der Leidtragenden, das harte, polternde Aufschlagen der Erdschollen auf den hölzernen, schmucklosen Sarg. Unten im Dorf war's zwar ruhig, aber doch ging das Leben dort weiter. Die Landstraße entlang fuhr ein Wagen und kümmerte sich nicht um unsere Welt, die uns da oben umgab. Der Gegensatz des Lebens durchzog unser Gemüt. Sein Reichtum und seine Fülle, sein Hoffen und sein Bangen standen lebendig vor uns. Die Töne des Totengebets schlugen an unser Ohr, sie klangen wie singendes Weinen. Dann zerstreuten sich die Begleiter nach allen Ecken, um die Gräber Verstorbener aufzusuchen. Still beteten sie dort. Es bewegte uns schmerz- und leidvoll. Langsam leerte sich die Ruhestätte der Toten. Ruhig stiegen wir den Berg herab an der Synagoge vorbei. Am Flusse wuschen wir uns die Hände. Lang noch klangen die Saiten, die dort oben angeschlagen. Sooft ich wieder das liebliche Tal betrete, zieht's mich hinaus zum „Gutort“, Zwiesprache zu halten mit den dort Ruhenden. Ich kenne sie besser als die jetzt im Dorf Lebenden, die mir fremd geworden sind, und eine große stattliche Reihe ist's geworden seit den Tagen der Kindheit. Lebendig stehen sie vor mir, wie sie gearbeitet haben, wie sie in der Synagoge standen, wie sie im Dorfe gelebt und gelitten und wie sie glücklich gewesen sind.“

Bürgerreporter:in:

Matthäus Felder aus Lichtenstein

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