Auswanderung aus (Kur-)Hessen - In einer kurzen Betrachtung dargestellt am Beispiel des Dorfes Münchhausen

Philipp Imhof und Caroline geb. Zeyher. Philipp Imhof wurde am 8.8.1839 in Münchhausen geboren und wanderte 1857 nach Australien aus. Seine Frau Caroline stammte aus Württemberg.
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  • Philipp Imhof und Caroline geb. Zeyher. Philipp Imhof wurde am 8.8.1839 in Münchhausen geboren und wanderte 1857 nach Australien aus. Seine Frau Caroline stammte aus Württemberg.
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Wenn am Sonntag, dem 17. Oktober 2010 um 15:00 Uhr in der Gaststätte Forellenhof in 35117 Münchhausen Herr Professor Dr. Siegfried Becker vom Institut für Europäische Ethnologie an der Philipps-Universität Marburg in einer Vortragsveranstaltung zum Thema „Auswanderung aus (Kur-) Hessen – Bürger aus der Großgemeinde Münchhausen verstreut in aller Welt“ spricht, werden auch Nachfahren von Münchhäuser Auswanderern aus Australien und den Vereinigten Staaten von Amerika zugegen sein und diesen Nachmittag durch ihre Berichte ein wenig bereichern.

Wie kam es zur Massenauswanderung im 19. Jahrhundert?
Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 1815 und 1914 etwa sechs Millionen deutsche Auswanderer nach Übersee emigrierten, zumeist in die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Zahl derer, die nach Australien übersiedelten, bildete dabei mit etwa 70.-80.000 einen verschwindend geringen Anteil. Wir werden aber noch feststellen, dass sich am Beispiel des Dorfes Münchhausen dieses Zahlenverhältnis etwas anders darstellt.
Wichtigster Grund für die Auswanderungswelle, die speziell in Münchhausen um das Jahr 1850 beginnt, dürfte der Pauperismus (Massenarmut) sein, der sich wohl verstärkt seit etwa 1815 in ganz Deutschland verbreitete und auch in Kurhessen Spuren hinterließ. Den Pauperismus in all seinen Facetten zu beschreiben, würde hier den Rahmen sprengen. Allein Martin Kukowski braucht hierfür in seinem Buch „Pauperismus in Kurhessen“ rund 639(!) Seiten. Einige Eckdaten dieser Massenarmut sind schnell gefunden: Reallohnverlust in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, über einen Zeitraum von mehreren Jahren hintereinander stattfindende Missernten (Kartoffelfäule etc.) sowie bedingt durch eine besser werdende medizinische Versorgung höhere Überlebenschancen bei Säuglingen und die damit sprunghaft ansteigende Bevölkerungszahl.
Lassen wir aber dennoch kurz Professor Bruno Hildebrand aus Marburg zu Wort kommen, der um 1850 die Situation in Oberhessen wie folgt beschreibt: In Deutschland, so meinte, Hildebrand, sei die Not dort am größten, wo es keine Industrien gäbe, z. B. in seiner eigenen kurhessischen Provinz Oberhessen. „Sie besitzt nichts von alledem, was gewöhnlich zu den Ursachen des Pauperismus und des Proletariats gerechnet wird. Sie kennt keine Fabriken und Fabrikarbeiter, keine Spinn-, Dampf- und andere Maschinen, keine Gewerbefreiheit und unbeschränkte Konkurrenz der einzelnen, sondern in alter patriarchalischer Form herrscht hier neben dem Ackerbau noch der alte Handwerksbetrieb, welcher Gesellen und Lehrlinge zu Familienmitgliedern der Meister macht. Es herrschen noch Zünfte, wenn auch nicht geschlossen, aber doch privilegiert für ihren bestimmten Arbeitszweig. Dabei ist diese Gegend (Oberhessen) nicht etwa von der Natur vernachlässigt, nicht eingeschlossen durch enge Zollschranken, nicht mit Steuern überlastet, kurz ohne irgendeine besondere Eigenschaft, welche Ursache einer speziellen Verarmung sein könnte.“
In dieser Provinz Oberhessen mit Marburg und einigen anderen Städtchen, rund 75% Landbevölkerung, 25% Stadtbevölkerung, übertraf nur in vier Gewerben die Zahl der Gesellen die der steuerpflichtigen Meister. In sieben anderen Gewerben kam auf zwei Meister nur je ein Geselle, und im großen Rest herrschte der Alleinmeister vor. Da nun aber – so Hildebrand – ein Meister, der ohne alle Gehilfen arbeitete, eigentlich nur eine besondere Art von Tagelöhner sei, müsse „die bei weitem größere Zahl der Handwerksmeister als Proletarier angesprochen werden“. Das ist ein hartes Wort, aber Hildebrand brachte Belege. Ein Schuhmacher- oder Schneidermeister verdiente um das Jahr 1840 in Oberhessen etwa 100 Reichstaler im Jahr. Davon ging ein rundes Drittel für Wohnung, Holz, Licht, Kleidung, Wäsche und einige andere Bedürfnisse ab, so dass für die tägliche Kost der Familie nur 5 1/3 Silbergroschen zurück blieben. Für diese 5 1/3 Silbergroschen konnte man nach den von der Polizei in Hessen festgesetzten Brot- und Fleischtaxen entweder 3,4 kg gewöhnliches Roggenbrot oder 0,8 kg Fleisch (Ochsen-, Schweine- oder Hammelfleisch) kaufen. Davon sollten Mann, Frau und vielleicht noch Kinder leben.
Das glückte selbst in guten Jahren nicht immer. Fiel nun gar eine Teuerung ein, wie im Winter 1846/47, so erreichte die Not ein schier unvorstellbares Ausmaß. In Marburg wurden in diesem Winter zweimal bei 10 Grad Kälte Kinder auf der Straße geboren. In Hünfeld wurden die Armen von den Behörden zu völligen Bettlerzügen organisiert, welche täglich nach einem festgesetzten Turnus durch regelmäßige Umzüge in den einzelnen Stadtteilen und den angrenzenden Dörfern ihre Almosen zusammen bettelten.“
Solche Bettelzüge gab es auch in unserem oberhessischen Dorf Münchhausen! Georg Seibert, ein aus Roda stammender und später in Barmen tätiger Theologe, beschreibt die Lebensverhältnisse in Münchhausen im Jahre 1857 in einer kurzen Abhandlung: „Etwa eine Stunde von Roda entfernt liegt nämlich Münchhausen, ein Dorf, größer und bevölkerter als Roda, aber ebenso arm. Ganze Scharen von Bettelkindern strömen sonnabends nach Wetter und treiben dort ihr trauriges Geschäft. Wenig große Bauernhöfe hat Münchhausen, aber eine Menge elender Hütten, in denen zahlreiche Familien ein noch elenderes Dasein fristen. Weil der Boden unergiebig ist, so haben viele Bauern dem Ackerbau ganz entsagt und ein gutes Handwerk gelernt; namentlich sind tüchtige Zimmerleute in Münchhausen zu finden, die nach Wetter und Marburg und Frankenberg oft begehrt werden. Es mögen diese leicht den besten Theil der Bevölkerung Münchhausens ausmachen.“

Der einzige Ausweg: Auswanderung!
Dieser zitierte Pauperismus machte auch in Münchhausen nicht halt! Im Wochenblatt für die Provinz Oberhessen lesen wir seit den 1820er Jahren bis gegen Ende der 1860er Jahre von Zwangsversteigerungen in nicht unbeträchtlichem Umfang. Ein Beispiel sei hier genannt: Wilhelm Berghöfer, der mit seiner Frau Anna Gertrude geb. Althaus und fünf Kindern in Münchhausen einen kleinen Hof bewirtschaftete, der wohl zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel abwarf, verschwand in der Nacht vom 11. November 1852 aus Münchhausen, um über Hamburg nach Australien auszuwandern und im Alter von 45 Jahren (!) für sich und seine Familie ein neues Leben aufzubauen. Wir wissen nicht, ob die wirtschaftliche Situation der einzige Grund für Berghöfers Flucht aus Münchhausen war. Jedenfalls erfahren wir im Wochenblatt für die Provinz Oberhessen vom 04. Dezember 1952 folgendes:
„Steckbrief - Der Beigeordnete Wilhelm Berghöfer von Münchhausen, dessen Signalement unten folgt, hat sich am 11. d. M. aus seiner Heimath mit Zurücklassung seiner Familie entfernt, ohne bis jetzt zurückgekehrt zu sein. Sämtliche Polizeibehörden werden ersucht, denselben betretenden Falles zu verhaften und durch die Verbindungspatroullie der Gendarmerie sicher abliefern zu lassen. Signalement: Alter 45 Jahre, Größe 5´, 9´´, Haare gelblich, Stirn niedrig, Augenbrauen roth, Augen blau, Nase lang, Mund gewöhnlich, Zähne gut, Bart roth, Kinn spitz, Gesicht oval, Gesichtsfarbe gesund, Statur groß.“
Ein wenig Klarheit erhalten wir erst drei Jahre später, als sich nämlich Wilhelm Berghöfers Ehefrau im April 1855 vom Münchhäuser Gemeinderat ihre Lebensverhältnisse bescheinigen lässt: „Der Ehefrau des vor einigen Jahren abgereisten Wilhelm Berghöfer, Anna Gertrude geborene Althaus aus Münchhausen wird auf Verlangen bescheinigt, dass derselbe während der Abwesenheit ihres Mannes ihr sämtliches Mobiliar und Immobilien Vermögen Schulden halber verkauft worden ist, so dass dieselbe mit ihren fünf Kindern ganz arm ist, auch hat sie zu ihrer Alimentation keine ... welche derselben einen ... bringen könnte. Dieses bescheinigt Münchhausen am 3ten April 1855 der Gemeinderat, Bürgermeister Althaus, Imhof, Jesberg.“
Schließlich beantragt Anna Getrude Althaus am 04. April 1855 für sich und ihre fünf Kinder die „Entlassung aus dem Untertanenverband“ der Gemeinde Münchhausen, ohne die eine Auswanderung nicht möglich gewesen wäre. Schließlich begann die abenteuerliche Reise mit dem Segelschiff „Wilhelmsburg“ des hamburgischen Reeders Johann Cesar Godeffroy am 10. Mai 1855 in Hamburg und endete am 18. September 1855 im Hafen von Sydney. Hier in Sydney fand die Familie Berghöfer wieder zusammen und wurde bald eine geachtete Familie im Stadtteil Bankstown, wo unter wesentlicher Hilfe von Wilhelm Berghöfer eine Schule und eine Kirche gebaut wurden. Der Grundstein der Kirche trägt noch heute den Namen Wilhelm Berghöfer.

Das Geschäft mit der Auswanderung
Überall im Land bildeten sich schon in den frühen Tagen der Auswanderung (1820er Jahre) so genannte Auswanderungsagenturen, deren Agenten nun durch´s Land zogen, um in übertrieben positiven Darstellungen der neuen Welt auf die Auswanderung aufmerksam zu machen suchten. Australien suchte bereits in den 1850er Jahren vermehrt Schäfer, die bei freier Überfahrt sich auf Farmen für zwei Jahre verdingen mussten. So geschah es, dass bis 1862 insgesamt 13 Schäfer allein aus Münchhausen nach Australien auswanderten. Aber Johannes Althaus, Paul Althaus,Conrad Berghöfer, George Berghöfer, Heinrich Berghöfer, Christoph Dönges, Christian Eberle, Johann Jakob Funk, Johannes Hallenberger, Hermann Holzapfel, Johannes Mengel, Johannes Müller, Michael Müller und schließlich Caspar Scherer werden wohl nicht alle Schäfer gewesen sein. So wurde sicherlich auf beiden Seiten geflunkert in der Hoffnung, das größtmögliche Geschäft für sich selber heraus zu schlagen. Was waren schon zwei Jahre harte Arbeit auf einer Farm, wenn die Überfahrt dafür umsonst war und man anschließend ein freier Mann war? Für viele ging diese Rechnung auf und sie gründeten eigene Farmen. Für manche zerplatzte der Traum allerdings auch.
Dass das Geschäft mit der Auswanderung für die Agenten mehr als eine „good-will-tour“ war, entnehmen wir einem Zeitungsartikel vom 18.04.1857. Hierin beklagt sich der konzessionierte Auswanderungsagent Zumben aus Frankenberg:
„Durch die im Kreise Frankenberg sich verbreiteten Gerüchte, dass zu Münchhausen Familien und ledige Personen für Australien frei oder gegen Zahlung von Handgeld angenommen würden und sich auch aus dieser Gemeinde und Umgegend schon viele Familien der Expedition bereits angeschlossen hätten, sehe ich mich veranlasst, die Auswanderer des genannten Kreises, zur Vermeidung von Unannehmlichkeiten, unter Hinweisung auf den § 17 der allerhöchsten Verordnung vom 22. Februar 1853, wonach alle diejenigen Personen, welche ohne Konzession sich mit der Annahme und Beförderung von Auswanderern in irgend einer Weise befassen, für jeden einzelnen Fall mit Strafen belegt werden, zu warnen, sich nicht dieserhalb an eine Person zu Münchhausen zu wenden, indem niemand daselbst eine Konzession zu diesem Zwecke bis jetzt besitzt und dass die daselbst inzwischen vorgefallenen Kontraventionen – wenn nicht bereits geschehen – der Kurf. Polizei-Direction zu Marburg und einer anderen Oberbehörde zur Anzeige gebracht werden. Frankenberg, am 16. April 1857. Zumben, konzessionierter Agent.“
Zumben will also mit aller Macht verhindern, dass das Geschäft mit dieser Gruppe Ausreisewilliger an ihm vorbei geht. Wie die Dinge damals ausgegangen sind, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Allerdings erfahren wir in einer Mitteilung aus Australien, dass es tatsächlich zu diesem Zeitpunkt eine Gruppe Münchhäuser Auswanderer mit Reiseziel Australien gegeben haben soll. Nachweisen lässt sich momentan allerdings lediglich der am 08.08.1839 in Haus Nr. 7 geborene Philipp Imhof, der in Bremen am 02. Dezember 1857 mit dem Segelschiff „Diana“ startete und schließlich am 24. Mai 1858 im Hafen von Moreton Bay (heute Brisbane/Queensland) landete. Die ungünstige Quellenlage hängt damit zusammen, dass in Bremen alle Auswanderungsakten vernichtet worden sind und in Australien lediglich Fragmente von Passagierlisten vorhanden sind.
Schließlich fanden die Auswanderungsagenten noch eine ganz andere Möglichkeit, für sich und ihr Anliegen (die Auswanderung) zu werben: sie instrumentalisierten die Auswanderer selbst!
So wirbt der Hauptagent Friedrich Rathmann aus Kassel in einer Zeitungsanzeige vom 21.10.1865 mit der geglückten Überfahrt des Segelschiff´s St. Bernhard unter Kapitän Deetjen und benennt die Passagiere mit Namen. Wohl hoffend, dass dadurch weitere Ausreisewillige aus deren näherer Umgebung eine Passage bei Rathmann buchen. Aus Münchhausen waren damals auf dem Schiff: Nikolaus Althaus, Johannes Berghöfer, Ludwig Naumann 1, Ludwig Naumann 2 und Anna Catharina Schott.

Wie gestaltete sich die Überfahrt?
Aus heutiger Sicht würden wir vielleicht vermuten, dass die Schiffreise ein einziges Abenteuer war. Aber weit gefehlt! „Um die Mitte des 19. Jahrhunderts überquerten die meisten Auswanderer den Atlantik im Zwischendeck eines Segelschiffes. Dieser Raum befand sich zwischen dem Oberdeck und dem Laderaum und war oft nur provisorisch für die Aufnahme von Passagieren hergerichtet, da die Schiffe als Frachter gebaut worden waren.“ Hinzu kam eine unzureichende medizinische Versorgung, schlecht ausgestattet Kombüsen und ein steter Kampf mit der rauen See. Erst ab 1850 gab es in Hamburg gesetzlich verankerte Bestimmungen, an die sich die Reeder zu halten hatten. Die Mindesthöhe der Zwischendecks wurde auf 1,72m festgesetzt (ab 1887 gar 1,83m). Jeder Auswanderer hatte im Zwischendeck Anspruch auf eine Fläche von 12 Quadratfuß (1,88m x 0,63m), dies entsprach in etwa der Größe eines Bettes. Hätte man die Betten nebeneinander aufgestellt, wäre das Zwischendeck vollständig von ihnen ausgefüllt gewesen. Durch das Übereinanderstellen von je zwei Kojen erreichte man, dass ungefähr die Hälfte des eng bemessenen Raumes frei blieb. Dies war um so wichtiger, als das Zwischendeck nicht nur Schlafraum war, sondern bei schlechtem Wetter zugleich als Ess- und Aufenthaltsraum diente. Bei gutem Wetter sollten sich die Passagiere so viel wie möglich auf Deck aufhalten, damit das Zwischendeck lüften konnte. Die Lüftung erfolgte zunächst ausschließlich durch die nach oben aufgehenden Luken. Bei Regen und bei starkem Seegang, wenn die seekranken Passagiere frische Luft besonders dringend benötigten, mussten diese Luken geschlossen bleiben. Deshalb wurde 1868 der Einbau von Ventilatoren vorgeschrieben. Bei den Kojen handelte es sich um Betten für 1-4 Personen. In den Viermannskojen standen jedem Erwachsenen 47 cm von der Breite des Bettes zu. Kindern sogar nur die Hälfte davon, und für Säuglinge war überhaupt kein Platz vorgesehen. Dieser Regelung entsprachen allerdings auch die Preise: Kinder zahlten nur die Hälfte, Säuglinge wurden kostenlos befördert. Die Auswanderer fanden im Zwischendeck nur Bettgestelle vor, Matratze, Kopfkissen und Wolldecken mussten sie sich selbst mitbringen. Mit sanitären Anlagen waren die Auswandererschiff nur spärlich ausgerüstet: auf 50 Passagiere kam nur eine Toilette. Es fällt nicht schwer, sich auszumalen, wie dieser Mangel an Toiletten sich bei den auf Auswandererschiffen häufig ausbrechenden Cholera-Epidemien ausgewirkt hat. Ein weiteres Hauptproblem während der Überfahrten war das Zubereiten der Mahlzeiten. Selbst bei großen Schiffen mit mehreren hundert Passagieren standen nur etwa vier bis sechs Kochstellen zur Verfügung. Bei der Reisedauer der Segelschiffe und den damaligen Konservierungsmöglichkeiten blieb es nicht aus, dass es an Fleisch immer nur abwechselnd Salzfleisch und geräucherten Speck gab, dass gegen Ende der Reise das Brot teilweise schimmelig, die Butter ranzig und das Wasser kaum genießbar war. Hierunter litten nicht nur die Auswanderer im Zwischendeck, sondern auch Mannschaft, Kapitän und Kajütpassagiere.
Auch unseren Münchhäuser Auswanderern erging es in jenen Tagen nicht anders als anderen. So liegen „Triumph und Tragödie“ dicht bei einander, wie uns die folgenden Beispiele aufzeigen werden:
Reinhard Vogel heiratete in Münchhausen Helene geb. Berghöfer und wanderte mit ihr und dem bis dahin einzigen Kind Andreas im Jahre 1861 nach Australien aus. Sie kamen mit dem Segelschiff Cesar Godeffroy der hamburgischen Reederei Johann Cesar Godeffroy unter Kapitän Jacob Früchtenicht. Im Schiffsreport wird berichtet, dass das Schiff eine bis zum damaligen Zeitpunkt schnellste Überfahrt nach Australien schaffte (in nur 97 Tagen erreichten sie ihr Ziel Moreton Bay). Es gab während der Überfahrt sieben Todesfälle (darunter drei Kinder), aber auch zwei Geburten (darunter die Geburt von Georg Vogel, Sohn von Reinhard und Helene Vogel). Zusammen mit Familie Vogel reisten aus Münchhausen ebenfalls auf diesem Schiff: Familie Paul Althaus (drei Personen), Familie Georg Engel (vier Personen), Familie Hermann Holzapfel (drei Personen), Familie Johann Heinrich Müller (sechs Personen) sowie als Einzelpersonen Carl Arnold, Georg Berghöfer, Christoph Dönges, Johann Jakob Göbel, Johannes Göbel, Elisabeth Imhof, Heinrich Mengel, Michael Müller, Johannes Naumann, Caspar Scherer.
Ludwig Berghöfer, ein Schwager Reinhard Vogels, hatte bei seiner Schiffsreise nicht so viel Glück. Er und seine Familie, Ehefrau Anna Barbara geb. Cronau (aus Ernsthausen) sowie die Kinder Elisabeth, Elisabeth und Michael, starteten ihre Reise am 22.06.1978 auf dem Schiff Friedburg der hamburgischen Reederei Robert M. Sloman unter Kapitän H.D.A. Höpfner und erreichten Moreton Bay am 16.10.1878. Bevor sie allerdings an Land gehen konnten, wurde das gesamte Schiff 18 Tage lang unter Quarantäne gestellt, da am Bord der Typhus grassierte und bis dahin 18 Todesopfer gefordert hatte. Ludwig und Anna Barbaras zweitälteste Tochter erkrankte während der Quarantäne und verstarb. Sie wurde kurz darauf an Land beerdigt.

Fanden die Auswanderer das erhoffte Glück in der neuen Heimat?
Viele scheinen tatsächlich ihr Glück in der neuen Heimat gefunden zu haben. Zwar liegen keine Berichte vor, dass Münchhäuser Auswanderer in Amerika auf Öl gestoßen oder eine Goldader gefunden haben, aber einige Berichte liegen vor über Farmgründungen. Einige haben sogar gegen Ende ihres Lebens die alte Heimat durch einen Besuch beehrt.
Der in den Blue Mountains nördlich von Sydney bekannte und geachtete Johannes Wilhelm Berghöfer (später John William Berghofer), der 1855 als 15jähriger Junge mit seiner Mutter und vier Geschwistern nach Australien kam, war dort mit dem Bau eines Passes über die Blue Mountains beauftragt, dem späteren Berghofer-Pass. 1927, kurz vor seinem Lebensende, kam er noch einmal zu Ehren, als der der damaligen Herzogin von York (der späteren Queen-Mum), die damals zu einem Besuch in Australien weilte, vorgestellt wurde. Sie ergriff seine Hand und sagte: „Oh, Mr. Berghofer, welch wunderbare Straße haben Sie über diese zerklüfteten Berge geschaffen!“
1910 kehrte Johannes Wilhelm Berghöfer in seinen Geburtsort zurück. Der damalige Lehrer Bernhard Paulus vermerkte in der Schulchronik für die Jahre 1910, 1911 und 1912: „Ein Nachtrag! Im Sommer 1910 besuchte Herr Johannes Wilhelm Berghöfer unsere Schule und nahm teil an zwei Unterrichtsstunden. Herr Berghöfer, in Münchhausen am 8. Februar 1840 geboren, wanderte aus (nach Australien) im Mai 1855, war dort Farmer, kehrte nach 55jährigem Aufenthalt nach hier besuchsweise zurück und schenkte der Schule zwecks Gründung einer Schulbibliothek 20 (zwanzig) Mark. Münchhausen, den 27.08.11, B. Paulus. 1911: Zu den im Sommer 1910 geschenkten 20 Mark (zwanzig Mark) sandte Herr J. W. Berghöfer aus Rosenthal in Australien noch weitere 10 Mark zur Tilgung der Schulden bei Gründung der Schulbibliothek. 1912: Herr J. W. Berghöfer sandte abermals 10 Mark (zehn Mark) aus Australien. Dieselben bestimmte er zugleich für die beigegebenen Bilder zwecks Einrahmen derselben. Es ist dies seinem Wunsche gemäß sofort geschehen.“
1930 schließlich kehrte Wilhelm Freiling in seine alte Heimat zurück. Die Oberhessische Zeitung widmete ihm damals zwei Berichte: Am 06. Mai 1930 schreibt das Blatt: „Vor nahezu 50 Jahren – am 31. Juli 1881 – wanderte der damalige 18jährige Tischlergeselle Wilhelm Freiling aus der Lohmühle zu Münchhausen nach Amerika aus. Hier war er als Bautischler fast die volle Zeit bis heute in Philadelphia tätig und steht zur Zeit noch seinem eigenen größeren Betriebe, in dem ganze Bauten übernommen und ausgeführt werden, vor. 1924 – nach 43jähriger Abwesenheit – trat er zum ersten Male die Reise nach Deutschland an. Unerkannt betrat der „Deutschamerikaner“ die Lohmühle. Welch´ freudige Überraschung aber beim endlichen Wiedersehen für zwei noch in der Lohmühle lebende Geschwister und den damals im Dorfe lebenden Bruder. Das Erzählen wollte kein Ende nehmen. Nur kurze Zeit weilte er hier, versprach aber, wenn ihn Gott gesund ließe, bald wiederzukommen. Er hat Wort gehalten. 1930 – im Nachwinter – kam der „gute Onkel aus Amerika“ wieder, von allen Verwandten und Bekannten freudig begrüßt. Und jeder Münchhäuser kennt ihn; sieht man ihn doch Sonntag für Sonntag unter den Kirchgängern. Auch der Männergesangverein ließ sichs nicht nehmen, Herrn Freiling als „Herzlichen Willkomm“ einige Lieder zu singen. Mit warmen Worten dankte der zu Tränen gerührte alte Herr und bat den Verein mit ihm noch einige Stunden im Kriegschen Saale zu verleben. Es waren angenehme, frohe Stunden, die jedem Sänger in bester Erinnerung bleiben werden. Manches Lied wurde noch vorgetragen und trockene Kehlen kamen nicht auf; dafür sorgte der gute, alte Herr. Die Stimmung war bis zum Ende gut. Der Gesangverein aber ernannte an diesem Abend Herrn Freiling zu seinem Ehrenmitglied. – In der Lohmühle hängt ein Bild von der Familie des Herrn Freiling aus Philadelphia. Acht Söhne und eine Tochter – alles gesunde, starke Menschen – umstehen die alten Eltern. Dass vier Söhne für den Weltkrieg ausgehoben und teilweise schon auf dem westlichen Kriegsschauplatze waren, erwähnte Herr Freiling als besonders schmerzliche Erinnerung.“
Zum Abschied erschien folgender Artikel am 06. Juli 1930:
„Dem lieben Deutsch-Amerikaner-Onkel brachte der Männergesangverein Münchhausen am Sonntag (22. Juni) ein Abschiedsständchen. Er ist Ehrenmitglied in unserem Verein und wahrlich ein recht rühriges. Der Männergesangverein durfte mit ihm manche frohe Stunde verleben. Wie glänzte sein Auge, wenn er von seiner in Münchhausen verlebten Jugend erzählte. Die schönen Volkslieder aus früheren Zeiten wurden wieder einmal aufgefrischt und unser lieber Herr Freiling beherrschte sie noch wie kaum einer. Manch liebes Wort wurde an solchen Abenden gemütlichen Zusammenseins herüber und hinüber gesprochen. – Es darf offen gesagt werden: Unser lieber Onkel Freiling aus Philadelphia hat zu seinen alten Freunden noch viele neue gefunden. So wünschen ihm alle Mitglieder des MGV eine glückliche Überfahrt auf dem stolzen Schiff „Europa“ und sagen beim Abschied: „Auf frohes, gesundes Wiedersehen in Münchhausen!“

Und heute?
Als man in den 1980er Jahren mit den Vorbereitungen zur 200-Jahrfeier der Entdeckung Australiens begann, wurden viele Familien neugierig, woher denn eigentlich ihre Vorfahren stammten. Und man begann zu forschen! Seit jener Zeit bestehen wieder Kontakte zu einzelnen Familien wie Althaus, Berghöfer, Freyling, Naumann, Mengel, Müller, Naumann oder Imhof. Manche haben ihre Familiengeschichte aufgeschrieben, im Falle der Familie Freyling existiert so gar ein „Freyling family research centre“. Mittlerweile sind auch Auswanderungslisten in Hamburg oder Einwanderungslisten in den U.S.A. digitalisiert und können über internet abgerufen werden. Die Familienforschung ist also ein Kinderspiel geworden! Und dennoch gilt es, die Erinnerung an diejenigen hoch zu halten, die vor rund 150 Jahren alles hinter sich gelassen, viele Strapazen auf sich genommen und ein neues Leben versucht haben. Manche haben´s geschafft, einige sind im Dunkel der Geschichte für immer verschollen… Viele sind stolz auf das Land ihrer Vorväter und jedes Jahr besuchen Australier und seit zwei Jahren auch Amerikaner unseren Ort Münchhausen. Mittlerweile konnten 260 Köpfe ermittelt werden (ledige Männer, Witwen, Waisen und ganze Familien), die aus Münchhausen auswanderten. Entgegen dem Trend liegt dabei die Zahl derer, die nach Australien gingen, etwas über 50%.

Und was bringt die Zukunft?
Bereits 1995 startete die Münchhäuser Berghöfer-Familie mit rund 50 Köpfen ihren australischen Namensvettern und entfernten Verwandten einen Besuch ab, der im Berghöfer-Familientreffen in Toowoomba (westlich von Brisbane) mit über 500 Teilnehmern gipfelte. Seitdem haben sich unzählige Gegenbesuche ergeben. Nun ist es wieder so weit!
2013, vermutlich im deutschen Frühjahr und australischen Herbst, wird es wieder so weit seit und eine Reise wird uns – diesmal nicht auf den Spuren der Berghöfer-Familie – sondern ganz allgemein als Touristen in dieses Traumland führen. Interessierte, die sich unseren Reiseplänen anschließen möchten, sind herzlich willkommen!

1 Arnold Beuke: Werbung und Warnung – Australien als Ziel deutscher
Auswanderer
2 Wilhelm Abel: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen
Deutschland
3 Georg Seibert: Das Ende des Wucherers – in: Barmer Wochenblatt 18.01.1857
4 Birgit Gelberg: Auswanderung nach Übersee
5 George Bergman: John William Berghofer – The life of a Blue Mountains
Pioneer

Bürgerreporter:in:

Holger Durben aus Münchhausen

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