Waschbärgeschichten/ Teil IV: Gute Freunde und bissige Raubtiere

Bild IV/2 Komm, wir spielen "Blinde Kuh", ich halte dir die Augen zu.
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Inzwischen waren unsere beiden Waschbären schon fast erwachsen, aber deshalb nicht manierlicher geworden. Eines Tages hatten wir versehentlich den Waschbärkäfig aufgelas-sen. Ein Wildfang hätte diese Gelegenheit zur Flucht in den nahen Wald wahrgenommen. Unser Ausreißer nutzte das ledig-lich zu einem nächtlichen Spaziergang über den Zaun in Nachbars Garten. Dort entdeckte er ein offenes Kellerfenster, das seine Neugier weckte. Er kletterte hinein und landete auf der Spielzeugeisenbahnanlage, die der Sohn des Nachbars im Keller aufgebaut hatte. Die Schalter zum Anstellen der Anlage hat er nicht gefunden. Man könnte ihm unterstellen, dass er diesen „Fehler“ suchen wollte, aber sicher war es lediglich die angeborene Neugier, die ihn dazu trieb, alles zu untersuchen. Eisenbahnwaggons fielen durch sein Herumhoppeln auf der Anlage zu Boden. Bei den anderen hat er eine Materialprüfung vorgenommen, dass der Bahnchef, Herr Mehdorn, seine Freude gehabt hätte. Durch festes Draufbeißen hat er die Festigkeit geprüft und Beulen hineingedrückt. Die kleinen Modellbäumchen knickten beim Drauftreten um und ließen sich bei seiner Überprüfung leichter zerbeißen. Es war wahr-scheinlich keine boshafte Zerstörungswut, sondern Forscherdrang, der ihn dazu trieb, auf seine Art mit der Eisenbahn zu spielen. Als der Nachbarsjunge am anderen Morgen in den Keller kam, fand er ein Chaos und mitten drin den Waschbär vor, der ihn unschuldig ansah, als könne er kein Wässerchen trüben. Er hat dann bei uns „Alarm“ geschlagen und wir haben den Sünder zurückgeholt.
Die Schäden hat er auf unsere Aufforderung hin schriftlich aufgelistet und wir haben den Schaden unserer Haftpflicht-versicherung gemeldet. Die hat den Waschbär als Haustier im Sinne der Vertragsbedingungen anerkannt und den Schaden erstattet. So sind wir bei diesem Streich noch einmal glimpflich davon gekommen.
Wir haben akzeptiert, dass Waschbären anders, als Menschen denken und reagieren; aber die Kinder wollten ihnen trotzdem Weihnachten auch eine Freude machen. Deshalb haben wir sie ausnahmsweise mit in die Wohnung genommen und sie unter den Weihnachtsbaum gesetzt. Dass sie dort nicht „O, du Fröhliche“ singen würden, war uns auch klar. Aber wer nun glaubte, dass sie mit den weit ausge- streckten Vorderpfoten „Männchen“ machten, um den Weihnachtsbaum in tiefer Ergriffenheit fröhlich begrüßen, der war auch auf dem Holzweg.. Sie richteten sich nur auf, um an die glitzernden Weihnachtskugeln zu gelangen und diese abzureißen. Mit aufgerichteten Vorderpfoten, die Kugel hochhaltend, hoppelten sie - wie mit dem Amselei (s. Teil II Absatz 2) - auf den Ellenborgen in die nächste Ecke, um das Diebesgut in Sicherheit zu bringen. Dabei fielen die Kugeln zu Boden und gingen zu Bruch. Als sie sich dann anschickten, den Weihnachtsbaum weiterhin zu demontieren, haben wir diesen Teil der Weihnachtsfeier abgebrochen und sie wieder in den Käfig gebracht. Die Kinder haben dort ringförmiges Hunde-futter auf Tannenzweige gestrippt und diese vor ihrer geöffne-ten Schlafkiste im Gartenhäuschen aufgestellt. So hatten die Waschbären eine artgerechtere Weihnachtfeier (s. Bild IV/1). Aber weitere Einladungen, in unsere Wohnung zu kommen, haben diese Rüpel wegen ungebührlichen Benehmens nicht mehr bekommen; zumal sie sich auch noch an der Tapete zu schaffen machten und diese an einer lockeren Stelle abreißen wollten.
In der Ranzzeit (= Paarungszeit = Febr./März), in der die Tiere besonders reizbar sind, haben sie zum ersten Mal zu erkennen gegeben, dass sie nicht nur die putzigen Kuschel-tiere, sondern trotz aller Zahmheit auch gefährliche Raubtiere
sein können. Der Sohn der Lehrerin unserer jüngsten Tochter wollte die Waschbären auch einmal sehen. Wir haben ihn mit seiner Mutter zum Kaffee eingeladen. Nach dem Kaffeetrinken sind die Kinder in den
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Waschbärkäfig gegangen, um mit den Tieren zu spielen. Der ca. 5jährige Junge kletterte auf den flach am Boden liegenden Baumstamm und rutschte dabei ab. Diese ruckartige Bewe-gung mit entsprechenden Geräuschen von einer ihnen frem-den Person haben die Tiere als Angriff angesehen. Sie gingen zum Gegenangriff über und sprangen an dem Jungen hoch. Dabei kratzten sie ihm im Gesicht. Die Tochter hatte so etwas noch nie erlebt und rief nach meiner Frau, die die Kinder aus dem Käfig geholt hat. Der Junge hatte drei Kratzer im Gesicht abbekommen, die in gefährlicher Nähe zum Auge lagen. Vorsorglich wurden die nicht allzu tiefen Wunden ärztlich behandelt. Er hat hinterher überall stolz erzählt, dass er von einem Waschbär „überfallen“ worden sei. – An die besondere Reizbarkeit in der Ranzzeit haben wir nicht gedacht. Wir haben danach keine fremden Kinder mehr in den Käfig gelassen.
Gegen uns hat sich ihre Reizbarkeit bis dahin nicht gerichtet. Es bestand trotzdem noch immer ein gutes Vertrauensverhältnis. In dem vorliegenden Fall waren die Menschen – wenn auch ungewollt – nicht ganz unschuldig gewesen. - Unsere Kinder haben sie weiterhin auf den Arm genommen – In einem anderen Fall saß der Wachbär auf dem so genannten „Hochsitz“ (ein Sitzbrett unter der Käfigdecke/ s. Bild IV/2) und die Tochter stand darunter. Er betastet nach Waschbärenart den Kopf von oben und betastete auch die Au-gen, so dass es so aussah, als wollte er sie zuhalten (s. Bild IV/3). Das ergab einen spaßigen Schnappschuss, weil ich die Kamera gerade zu Hand hatte. Der Waschbär hat zarte, mit vielen Tastnerven ausgestattete, Vorderpfoten; allerdings auch scharfe Krallen. Aber zu der Zeit konnte ihm die Tochter noch vertrauen, dass er ihr die Augen nicht verletzte oder gar auskratzte.
Sie hatten ein besser entwickeltes Zeitgefühl, als ich. Um 17 Uhr saßen sie auf dem vorderen Hochsitz, von wo sie den Hinterausgang beobachten konnten. Dort warteten Sie auf meine Frau, die das Futter um diese Zeit brachte. Wir haben ein unkontrolliertes Füttern durch sämtliche Familienmitglieder vermieden, damit sie nicht zu fett würden. Der Großmutter fiel diese Disziplin schwer, wenn sich meine Frau etwas verspätet hatte. Sie konnte sie nicht warten sehen.
Die älteste Tochter hat sich relativ wenig mit den Waschbären beschäftigt. Ein Waschbär lief im Garten herum, als sie die Käfigtür versehentlich aufgelassen hatte. Sie verfolgte ihn, konnte ihn aber nicht aufnehmen und hat meine Frau gerufen. Diese Verfolgung und die lauten Rufe haben ihn nervös gemacht. Als meine Frau nun auch noch hinter ihm herlief und ihm von hinten statt ins Knick ins Fell am Hintern fasste, hat er sich blitzschnell umgedreht und ihr mit seinen Reißzähnen kräftig in den Unterarm gebissen. -Jungraubtiere verfallen, wenn die Mutter ihr Fell im Knick zwischen die Zähne nimmt, in die so genannte Tragestarre. Das bleibt bei den erwachsenen Raubtieren bis zu einem gewissen Grad erhalten. Das Greifen ins Hinterfell war ein Fehler. - Vorsorglich hat sich meine Frau in der Klinik eine Tetanusspritze geben lassen. Als der Arzt sie gefragt hat,, sind sie vom Hund gebissen worden und sie geantwortet hat: „Nein vom Waschbären“, hat der geglaubt, sie stünde noch unter Schock, denn er kam aus Bayern, wo es zu der Zeit noch keine Wasch-bären gab – Als meine Frau nach der Behandlung schon im Weggehen auf dem Flur ging, kam er hinterher und wollte wissen, wie groß denn so ein Waschbär sei und ließ sich ihn genau beschreiben. - Dieser Vorfall hat das Vertrauensverhält-nis noch nicht gestört, weil wir uns im Klaren waren, dass er bei richtigem Verhalten nicht gebissen hätte.
Aber der schöne Friede wurde je zerstört, als ich während einer späteren Ranzzeit mit einem Brett unter dem Arm abends am Käfig vorbei ging und der Waschbär mich fauchend ansprang. Nur der Maschendraht hat mich vor Verletzungen geschützt. In Erinnerung an Hundeerziehung glaubte ich, dass ich ihm jetzt wirkungsvoll klar machen müsse, wer hier der Herr ist. Ich schlug mit dem Brett flach gegen den Maschendraht, dass dieser dröhnte, ohne den Waschbären zu treffen. Der war aber so sehr erschrocken, dass er mir das nicht vergessen konnte. Er hatte erkannt, dass auch der Mensch, der doch sein Freund war, bösartig werden konnte. Dabei hatte ich völlig falsch gedacht, weil doch der Waschbär kein Rudeltier ist und deshalb keine Rangordnungs-kämpfe kennt.. Eine Unterwerfung aus diesem Grund war ihnen

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völlig fremd. Ich war nun sein erklärter Feind und alle Versöh-nungsversuche gingen ins Leere. –Sobald ich in die Nähe des Käfigs kam, sprang er fauchend gegen das Gitter, so dass ich mich nicht traute, den Käfig zu betreten. Der Versuch, mir mit dem Wasserschlauch Respekt zu verschaffen, misslang eben-falls. Waschtbärensind keine Löwen und nicht wasserscheu. Er griff mich in den laufenden Wasserstrahl stürmend an. Dann nahm er Deckung hinter dem Baumstamm, um von da den nächsten Angriff zu starten. - Nun musste ich normaler Weise nicht täglich in den Käfig gehen, weil der so gebaut war, dass man durch zwei flache Klappen sowohl das so genannte Waschbärklo, als auch die Wasser- bzw. Fressschalen zum Reinigen bzw. Befüllen herausnehmen konnte. Aber auf Dauer konnte das so nicht bleiben. Ich habe mir aus Resten von Fußbodenbelag und Lederschnallen gamaschenähnliche Stiefel gebastelt, so dass meine Beine geschützt waren. Mit einem Ginsterbesen bewaffnet bin ich dann in den Käfig gegangen und habe seine Angriffe mit dem Besen schubsend abgewehrt. So habe ich mir zwar keinen Respekt verschaffen können, aber der Waschbär hat mir Respekt vor ihm beige-bracht. Im Größenverhältnis griff da doch ein Zwerg einen Riesen an und ich musste den Mut dieser Tiere bewundern. - Wenn ich abends nach hause kam und das Fahrrad in das Gartenhäuschen stellen wollte, schliefen die Waschbären, die ihren natürlichen Rhythmus als Nachttier auf Tageszeit umgestellt hatten, schon in ihrer so genannten Sommervilla. Sie haben mich aber immer bemerkt und der mir feindlich gesonnene Waschbär biss aus Wut seiner Schwester fauchend in den Hintern, wenn diese vor ihm das Leiterchen herunter flüchtete. Die quietschte dann natürlich, so dass meine Nachbarn genau registrieren konnten, wann ich abends nach hause kam.
Weil wir mit dem friedlichen Bären keinen Kontakt aufnehmen konnten, hatten wir uns entschlossen, den Bissigen an einen Gastwirt im Kreis Marburg abzugeben, der einen kleinen Zoo nebenher betrieb. Er behauptete von Tieren etwas zu verstehen und wäre mit Prof. Grzimek per du. Den „Bären“ haben wir uns zwar nicht „aufbinden“ lassen. Aber wir haben ihn öfters besucht, um zu sehen wie es unserem Waschbär geht. Anfangs hat er mich jedes Mal angefaucht, aber nach Wochen hat er mich mit Missachtung bestraft und mich gar nicht wahrgenommen. – Mit dem zurückgebliebenen Waschbär lief jetzt alles wie in den guten alten Anfangszeiten. Der ist auch in der Ranzzeit nicht bösartig geworden und wir waren wieder gute Freunde.

Bürgerreporter:in:

Walter Wormsbächer aus Marburg

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