Offener Brief: Warum macht Ihr das?

Verehrte Medienschaffende der schreibenden Zunft,

Ihr verwahrt Euch heftig gegen Vorwürfe, bei vielen Sachverhalten bei Eurer Arbeit zu regierungsnah und zu wenig kritisch vorzugehen. Ihr verwahrt Euch gegen den Vorwurf, Sachverhalte bewusst falsch darzustellen. Und Ihr verwahrt Euch gegen den Vorwurf, einen einheitlichen Meinungsbrei zu produzieren. Ich persönlich habe lange, sehr lange gezögert, ob ich Euch verteidigen, oder mich den Vorwürfen anschließen soll.

Die Vorwürfe sind berechtigt

Inzwischen besteht für mich kein Zweifel mehr: Die Vorwürfe sind berechtigt! Oder wie sonst ist der folgende Sachverhalt zu erklären?

Die einzige Lokalzeitung in Marburg brachte gestern auf der Titelseite den im Bild abgelichteten Artikel als Aufmacher. Schlagzeile: „Russland lässt Impfstoff zu“. Um im Untertitel und im Artikel sofort Stimmung gegen Russland zu machen. Der Tenor war in den überregionalen Leitmedien derselbe.

Ein einziger Aufschrei gegen die Frechheit Russlands, sich an der internationalen Suche nach einem Impfstoff in der Causa Coroanzu beteiligen, war zu hören und zu lesen. "Der Impfstoff-Murks aus Moskau" titelte die FAZ, "Hochriskantes Experiment" die ARD. Das ZDF-heute-journal bringt sogar ein Video, in dem Putin angeblich erklärt, der erste Corona-Impfstoff sei in Russland "zugelassen".

Kampagnenjournalismus gegen Russland

Blöd nur, dass der Impfstoff in Russland keineswegs „zugelassen“, sondern „registriert“ wurde. Ein himmelweiter Unterschied. Denn die Registrierung ist eine in Russland (und auch vielen anderen Ländern) juristische Formalie, um in die dritte Testphase einsteigen zu können. 

Im russischen Original heißt es unmissverständlich: Насколько мне известно, сегодня утром впервые в мире зарегистрирована вакцина против новой коронавирусной инфекции. Und "зарегистрирована" heißt mitnichten, wie vom ZDF dem russischen Präsidenten in den Mund gelegt, "zugelassen", sondern ohne jeglichen Spielraum "registriert".

All die kritischen Einwände gegen eiligst produzierte Impfstoffe werden von Euch nicht vorgebracht, wenn bundesdeutsche oder in der westlichen Wertegemeinschaft angesiedelte Pharmaunternehmen betroffen sind. Im Gegenteil: Da werden die Kritiker schon mal als Wirrköpfe, Impfgegner oder rechte Esoteriker abgestempelt. Eine ernsthafte Auseinandersetzung und Diskussion in der Gesellschaft, die dringend notwendig wäre, unterbleibt.

Erscheint jedoch auch nur die vage Möglichkeit am Horizont, ein russisches Präparat könne ein ernsthafter Konkurrent werden, beim Rennen um den Jackpot „Impfstoff SARS-CoV-2“ , gibt es kein Halten mehr. Alles wird aufgefahren, um Russland zu diskreditieren. Da wird sogar korrekt berichtet, dass Impfstoffe auf der Basis von RNA oder DNA genau genommen keine Impfstoffe sind, sondern Arzneimittel, die der Gentherapie zugehörig sind.

Warum tut Ihr das?

Bin auf das Medienecho gespannt wenn der erste bundesdeutsche mRNA-Impfstoff zugelassen wird, Vermutlich wird von "großem Durchbruch", "Meilenstein" oder ähnlichem die Rede sein. Dass Ihr mit der gestrigen Berichterstattung Eure eigene Glaubwürdigkeit weiter untergraben habt, fällt Euch im Eifer des Gefechtes gegen Russland gar nicht auf.

Ich weiß nicht, ob Ihr alle nur ungeprüft voneinander abschreibt. Oder ob Ihr ungeprüft Agenturmeldungen übernehmt. Beides ist gleich schlimm. Eine ehemaliges Mitglied der Redaktion der Lokalzeitung sagte mir einmal, als ich auf einen sachlichen Fehler in einem Artikel hinwies: „Herr Zeller, der Artikel ist eine dpa-Meldung. Wir können nicht jede dpa-Meldung lesen, die wir drucken. Die Ressourcen, um alle Agenturmeldungen und deren Inhalte zu überprüfen haben wir einfach nicht“. Das ist ehrlich. Aber ein Armutszeugnis für einen Berufsstand.

Schlecht für die Demokratie

Und dieser Zustand ist Gift für unsere Gesellschaft. Eine Demokratie lebt davon, dass die Bürger_innen über die relevanten Vorgänge in der Gesellschaft halbwegs korrekt informiert werden. Und die Bürger_innen müssen das Gefühl haben, im Großen und Ganzen diesen Informationen vertrauen zu können. Ohne dieses Vertrauen ist eine Gesellschaft nicht zukunftsfähig. Sie wird implodieren. So wie die DDR 1989 implodierte.

Wem diese Aussage zu weit hergeholt ist, möge sich mit Menschen unterhalten, die bei der Wende nicht nur am Fernseher dabei waren. Viele dieser Menschen äußern das Gefühl, dass ihr Vertrauen in ARD, ZDF & Co dasselbe Niveau erreicht hat, wie 1989 das Vertrauen in die "Aktuelle Kamera", "Neues Deutschland" oder "Junge Welt".

Stoff zum Nachdenken

Das sollte eigentlich genügend Stoff zum Nachdenken sein. Vor allem für die Medienschaffenden in den öffentlich- rechtlichen Medien. Sie sind nicht einem Herausgeber, Verlagshaus oder wem auch immer verpflichtet, sondern einzig ihrem Programmauftrag. Und diesem Programmauftrag werdet Ihr derzeit nicht gerecht. Ich weiß Ihr seht das anders. Mein Vertrauen in Euch ist jedenfalls aufgebraucht. Und verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen ist nicht so leicht.

Strengt Euch an.

Ausführlicher Faktenchek zum Sachverhalt mit Quellen hier anschauen

Bürgerreporter:in:

Hajo Zeller aus Marburg

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