Schienenreste der Marburger Straßenbahn aufgetaucht – aber tatsächlich über 100 Jahre alt?

Am Wilhelmsplatz liegen noch fast 90 Meter Rillengleise der Pferdebahn. Diese Schienen sind mindestens 110 Jahre alt.
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  • Am Wilhelmsplatz liegen noch fast 90 Meter Rillengleise der Pferdebahn. Diese Schienen sind mindestens 110 Jahre alt.
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Die alten Marburger haben sich seit jeher für ihre alte, längst vergangene Straßenbahn interessiert. Sie war 1951 aus dem Straßenbild verschwunden. Und bereits zwei Tage nach der letzten Fahrt ersetzte der neue Obus – auf fast der gleichen Linienführung - die alte Straßenbahn.

Bei Bauarbeiten am Rudolphsplatz wurden letztlich Schienenreste gefunden. Bereits vor ein paar Wochen zeigte die Oberhessische Presse (OP) ein Foto. Am Samstag nun brachte es ein Fundstück zu großen Ehren mit einem großen OP-Bericht. Leider zeigt sich in dem Bericht, dass dort niedergeschriebene persönliche Erinnerungen manchmal nicht ganz der Wahrheit entsprechen.

Hiermit soll wegen des großen Interesses am Fund und an der ehemaligen alten Straßenbahn einiges zurechtgerückt werden. Denn dass gefundene Reststück des alten Gleises ist nicht – wie behauptet – über hundert Jahre alt. Sondern sämtliche Gleise der Straßenbahn sind in den 1920er Jahren erneuert worden.

Nachdem von 1903 bis 1911 eine Pferdebahn durch Marburg fuhr, gab es in der Stadt eine Streitfrage: Sollten die Gleise der Pferdebahn liegen bleiben und für die „Elektrische“ (so nannten die Marburger ihre neue Straßenbahn im Gegensatz zur Pferdebahn) Nutzung finden oder überall neue Gleise hingelegt werden?

Die Stadtväter entschieden sich 1911 – wie so oft in Marburg – für die kostengünstigere Lösung: die alten Gleise von 1903 blieben liegen. Ein Gutachten hatte noch mindesten zehn Jahre Haltbarkeit versprochen. Doch zehn Jahre später war die Stadt noch ärmer als 1911. Es herrschte überall große Not. Erst mit einer relativen Besserung der Finanzen wurde 1924 damit begonnen, das gesamte abgenutzte Gleisnetz durch eine thermitgeschweißte Anlage zu erneuern.

Die alten Rillengleise der Pferdbahn können noch heute über eine Länge von fast 90 Metern am Wilhelmsplatz in Augenschein genommen werden. Die jetzt zu Tage beförderten Gleisstücke der "Elektrischen" sind neueren Datums, doch immerhin etwa 90 Jahre alt.

Es ist durchaus noch möglich, dass irgendwann noch weitere Gleisreste auftauchen werden. Denn mit Inbetriebnahme der Obuslinie wurden nur an wenigen Stellen die Gleise entfernt, in keinem Fall – wie in der OP angegeben - flächendeckend. Vielmehr wurden große Teilstücke überteert. Jahrzehnte später kamen bei grundlegenden Arbeiten der Straßenerneuerung verschiedentlich Gleisreste über größere Strecken wieder ans Tageslicht. So bei Arbeiten in der Schwanallee oder in der Universitätsstraße.

Wie schon beschrieben, verhinderten die sehr entbehrungsreichen Jahre nach dem Ersten Weltkrieg Erneuerungen. In den Akten sind Gleisbrüche und Entgleisungen wegen der Schadhaftigkeit verzeichnet. Die verheerende Inflation mit zuletzt täglichen Preissteigerungen ließen im November 1923 den Fahrpreis auf 100 Milliarden Mark steigen. Die im OP-Bericht für eine Fahrt angegebenen 200 Millionen Mark waren bereits Ende Oktober längst überholt. Investitionen waren bei dieser Preisgestaltung kaum möglich.

Leider verschwand die Straßenbahn 1951 aus Marburg. Doch noch mehr zu bedauern ist die Tatsache, dass zwar die Abschiedsfahrt großen Anklang und tausende Zuschauer brachte, jedoch keine der damals noch vorhandenen zehn Wagen als Erinnerung erhalten blieb. Die beiden neueren Vierachser der „Elektrischen“ wurden nach Darmstadt veräußert und die anderen bereits 40 Jahre alten Straßenbahnen schmerzlos verschrottet. In anderen Städten war man geschichtsbewusster.

Weitere Informationen:
Karl-Heinz Gimbel, Die Marburger Straßenbahn, Marburg 2013
oder im Internet: http://www.gimbel-mr.de/s2-elektrische.htm

Bürgerreporter:in:

Karl-Heinz Gimbel aus Marburg

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