Ralph Boes: Hungern per Gesetz!

Ralph Boes beim Sanktionshungern | Foto: www.nachdenkseiten.de
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Sanktionen im SGB II verfassungswidrig?

Die Fraktion DIE LINKE im Kreistag Marburg-Biedenkopf meldete eine aktuelle Stunde nach § 15 GO Kreistag zum Thema: »Ausstehende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zur Frage „Sind Sanktionen im SGB II mit dem Grundgesetz vereinbar?“ und die Handlungsoptionen des KreisJobCenters (KJC)« an. Die Mehrheit des Kreistages wollte nicht darüber diskutieren.

Begründung für die Aktuelle Stunde: Das Sozialgericht Gotha hat erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der derzeitigen Sanktionspraxis im SGB II und hat seine Rechtsauffassung, dass Sanktionen verfassungswidrig sind (Az.: S 15 AS 5157/14) dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zur Überprüfung und Klärung vorgelegt.

Das Bundesverfassungsgericht hat in jüngster Zeit bereits zweimal Gesetze, die von ihrer gesetzgeberischen Intention her der Zusicherung des menschenwürdigen Existenzminimums dienen sollten, aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum für verfassungswidrig erklärt: BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010 („Re-gelsatz-Entscheidung“), BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012 („Entscheidung zu Leistungen im AsylbLG“).

Es ist müßig darüber zu spekulieren, wie die Entscheidung des BVerfG im vorliegenden Fall ausgehen wird. Es ist nicht müßig, im Kreistag darüber zu diskutieren, wie das KJC bis zur Entscheidung des BVerfG mit der „Hängepartie“ bei der Rechtsgrundlage umgehen soll. Soll das KJC von sich aus anhängige Verfahren und Bescheide aussetzen (Moratorium), oder soll es abwarten bis sich die Leistungsberechtigten mit „Anträgen auf Richtervorlagen“, Widersprüchen oder anderen juristischen Maßnahmen gegen die Sanktionen wehren? Sowohl für die Mitarbeiter_innen der Verwaltung, als auch für die Betroffenen ist dies eine wichtige aktuelle Frage, die zeitnah entschieden werden sollte.

Hier ein Artikel von Lutz Hausstein* auf den NachDenkSeiten über das "Sanktionshungern" von Ralph Boes vor dem Adlon in Berlin.

Die Würde des Menschen ist unantastbar …

… so steht es zumindest im Grundgesetz der Bundesrepublik.

Doch grau ist alle Theorie. Und auch das Papier der millionenhaften Auflage des Grundgesetzes ist geduldig. Mag es dort auch schwarz auf weiß geschrieben stehen – die reale Praxis ist eine andere. Schon seit 2011 beschreitet Ralph Boes seinen ganz eigenen Weg, die Außerkraftsetzung von Grundrechten öffentlich publik zu machen und sich für eine grundgesetzkonforme Sozialgesetzgebung einzusetzen.

Schon einmal hat er sich mit einem öffentlichen, von ihm so benannten, Brandbrief an die Bundeskanzlerin, den Bundespräsidenten, und die jeweilige Arbeitsministerin gewandt und hierbei die Missachtung der im deutschen Grundgesetz verbürgten Rechte angeprangert.

Boes beschränkt sich dabei nicht nur auf den Sanktionsmechanismus im SGB II, auch wenn dieser der zentrale Dreh- und Angelpunkt der repressiven Hartz-Gesetzgebung ist. Er beklagt gleichfalls die faktische Außerkraftsetzung des Artikels über die Menschenwürde (Art. 1 GG) sowie weiterer, elementarer Grundrechte. Denn mittels unterschiedlicher Umstände werden ebenfalls das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 GG), der Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG), der Schutz der Familie (Art. 6 GG), das Recht auf Freizügigkeit (Art. 11 GG), das Recht auf freie Berufswahl (Art. 12 GG) und die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) unterlaufen. Die Sanktionen bilden für die Umsetzung der Grundrechtsverletzungen allerdings den überaus wirksamen Hebel.

Trotzdem das Thema Sanktionen schon mehrfach durch massiven Druck aus der Bevölkerung gegen die weitverbreitete Ignoranz der großen, meinungsbildenden Medien in die öffentliche Diskussion gebracht wurde, blieben alle Interventionen bisher ohne konkrete Wirkung. Weder juristischenoch wissenschaftlich-publizistische Ausarbeitungen haben ein Umdenken in der Politik als gesetzgebendem Organ bewirkt. Die Entscheidung über Gesetze und deren Ausformung fällt nun einmal ausschließlich durch die Politiker im Bundestag. Lediglich die Umsetzung der Gesetze obliegt den ausführenden Stellen der Jobcenter, die allzuoft den Widerspruch zwischen Gerechtigkeit und Recht ertragen und exekutieren müssen. Mit oftmals fatalen Folgen.

Sogar die mit dem enormen Zuspruch von 91.000 Unterstützern eingereichte Petition der Jobcenter-Mitarbeiterin Inge Hannemann zur Abschaffung von Sanktionen mündete letzten Endes zwar in einer Anhörung vor dem Petitionsausschuss, die jedoch außer einigen entlarvenden Phrasen anwesender Politiker keine Änderung erbrachte. Das Sanktionsregime soll einfach auf Biegen und Brechen aufrecht erhalten werden.

Den traurigen Höhepunkt stellte die Antwort der Parlamentarischen Staatssekretärin im Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) dar, indem sie qua Deklaration und ohne jeglichen Nachweis die Bestätigung der Verfassungsfestigkeit von Sanktionen durch das Bundesverfassungsgericht erklärte. Das atmete schon fast den Geist einer „Pofallanischen Erklärung“. Eine konkrete Nachfrage nach belastbaren Fakten erbrachte sodann auch … nichts. Die Petition befindet sich auch heute noch, anderthalb Jahre nach der Anhörung, „in der Prüfung“.

Diese andauernde Ignoranz von Grundrechten der Bürger durch die Politiker ist sicherlich auch ein Grund für den Rückgang der öffentlichen Aufmerksamkeit gegenüber diesem Thema, das nichtsdestotrotz das (Über-)Leben vieler betroffener Menschen überschattet. Denn nur, weil dieses Thema aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden ist, heißt das ja keineswegs, dass damit das Problem verschwunden wäre. Auch 2014 gab es wieder über eine Million Sanktionen durch die Jobcenter gegenüber Empfängern von Arbeitslosengeld. Doch weder die Politiker, die allen Widerständen zum Trotz auf einer Beibehaltung der Sanktionen beharren, noch die meisten Medien haben sich einmal die Frage gestellt, wie eigentlich ein von einer Sanktion Betroffener diese Situation zu meistern hat. Was widerfährt einem Menschen, der zuerst im Zuge des Antragsverfahrens nachweisen musste, dass er über kein nennenswertes Vermögen verfügt und er aus diesem Grund unbedingt auf soziale Sicherungsleistungen angewiesen ist und dem nun durch Sanktionen genau diese Leistungen teilweise oder gar ganz entzogen werden?

Diese Problematik hat auch Ralph Boes schon seit 2011 kontinuierlich versucht, der Öffentlichkeit näher zu bringen. Da politisch eine strikte Verweigerungshaltung zur Änderung der Gesetzeslage vorliegt und auch die Massenmedien, die eine hinreichende Anzahl Menschen in diesem Land erreichen könnten, außer gelegentlichen Einsprengseln kritisch angehauchter Anmerkungen, diesen Kurs mittragen, legte Boes in einem über vier Jahre andauernden Schriftverkehr mit dem für ihn zuständigen Jobcenter den Widerspruch zwischen der geltenden Sozialrechtsgebung sowie deren Umsetzung und dem Grundgesetz wieder und wieder offen.

Diese Auseinandersetzung wurde mehrfach von Sanktionen gegen Ralph Boes, zuletzt sogar mehrfach mit 200 Prozent, begleitet, anhand derer er die Auswirkungen von Sanktionen auf die Betroffenen durch ein von ihm so bezeichnetes Sanktionshungern demonstrierte. Obgleich dieses Sanktionshungern gern immer wieder mit einem Hungerstreik gleichgesetzt wurde, handelt es sich dabei konsequenterweise nur um die strikte Umsetzung dessen, was Sanktionen für Betroffene real bedeuten. Ohne Rücklagen und nun auch ohne jegliches Einkommen können sich diese Menschen nicht das Geringste kaufen – sie müssen regelrecht hungern. Innerhalb kürzester Zeit entsteht so für sie eine existenzbedrohende Situation.

Der Staat und die staatlichen Einrichtungen, die die Existenz und die Würde der Menschen zu schützen haben, machen also das genaue Gegenteil – sie entziehen den Menschen ihre Lebensgrundlage und gefährden so die Existenz und die Würde. Genau diese Realität versuchte Ralph Boes mittels seines Sanktionshungerns der Öffentlichkeit zu vor Augen zu führen. Doch da es sich im privaten Rahmen abspielte und auch sonst wenig mediale Aufmerksamkeit darauf gerichtet wurde, blieb dieser Aktion der durchschlagende Erfolg im Sinne der Aufklärung der Öffentlichkeit verwehrt. So geistert bis heute noch die gern gebrauchte Floskel „In Deutschland muss niemand hungern.“ durch die vielfach nicht ausreichend informierte Öffentlichkeit, die nicht nur an den Stammtischen mit klugen, aber selten zutreffenden Kommentaren um die Deutungshoheit kämpft.

Seit dem 1. Juli befindet sich Ralph Boes nun erneut im Sanktionshungern, diesmal jedoch in aller Öffentlichkeit. Auf dem Pariser Platz, in Sichtweite des Hotel „Adlon“ und des Brandenburger Tors, sitzt Ralph Boes an einem Tisch und macht die Öffentlichkeit auf seine Situation, die er auch nur stellvertretend für alle Betroffenen eingenommen wissen möchte, aufmerksam. Denn er kämpft nicht so sehr für die Aufhebung der gegen ihn persönlich verhängten Sanktionen.

Er streitet für die generelle Abschaffung von Sanktionen ebenso wie für eine grundgesetzkonforme Sozialgesetzgebung. Ein zweiter Stuhl steht auf der anderen Seite des Tisches, an den sich jeder setzen kann, der sich informieren möchte. Zufällige Passanten, Unterstützer von Boes, Skeptiker seiner Sichtweise, zuletzt auch Politiker wie Gesine Schwan oder Katja Kipping. Gegenüber denen er begründen kann, warum die Hartz-Gesetzgebung gegen die Menschenwürde verstößt. Die aber auch anhand seiner eigenen, konkreten Situation bildhaft begreifen lernen können, was Sanktionen für jeden davon Betroffenen in der Realität bedeuten.

Ralph Boes war am 29. August im 60. Hundertag seit dem Beginn seines Sanktionshungerns Anfang Juli. Von über 90 kg Ausgangsgewicht ist er inzwischen auf 77 kg abgemagert. Unkonzentriertheiten wechseln sich mit Schmerzen und Schwäche- und Schwindelanfällen ab. Doch er exekutiert nur exakt das, was Sanktionen bedingen: Hunger. Er macht dies, im Gegensatz zu Tausenden anderen Betroffenen, allerdings öffentlich. Sie hingegen ziehen sich – aus Scham oder aus Angst – in ihre Privatheit aus der Öffentlichkeit zurück. Dadurch gerät die Ungeheuerlichkeit jedoch auch aus dem Blick der Allgemeinheit. Ralph Boes macht dieses Thema wieder öffentlich. Unter Einsatz seiner Gesundheit, vielleicht sogar seines Lebens.

Auch von anderer Seite gerät die Verfassungswidrigkeit von Sanktionen nun wieder stärker in den Blickpunkt. Jahrelang ist es den Jobcentern durch geschicktes, taktisches Agieren gelungen, Grundsatzentscheidungen der Justiz über diese Thematik zu vermeiden. Da nur Betroffene selbst den Klageweg beschreiten können, sie sich jedoch eben gerade aufgrund ihrer finanziellen Situation in akuter existenzieller Bedrohung befinden, klagten sie in der Vergangenheit selbstverständlich gegen die gegen sie persönlich gerichteten Sanktionen, um eine Aufhebung dieser Sanktion zu erreichen.

Jede erfolgreiche Klage verhinderte so jedoch die Verhandlung vor der nächsthöheren Instanz. Doch selbst verlorene Klagen, falls die Betroffenen in Berufung gehen sollten, benötigen fast ausnahmslos mehrere Jahre, bevor sie vor dem Bundessozialgericht verhandelt werden. Und – welch Überraschung – droht auch dort dem verklagten Jobcenter eine Niederlage, erkennt es spätestens da seine Niederlage an, um eine letztinstanzliche Entscheidung vor dem Bundesverfassungsgericht zu vermeiden. Lieber verliert man doch einen einzelnen Fall, als das zugrunde liegende Konstrukt der Gefahr einer Niederlage vor dem BverfG auszusetzen.

Nun jedoch legte das Sozialgericht Gotha eine Klage besonderer Art (hier nachlesen [PDF – 511 KB] direkt dem Bundesverfassungsgericht vor. Darin erkannte der Kläger seine „Verfehlungen“ – im Sinne der geltenden Sozialgesetze – an, die in dieser Logik zwingend Sanktionen nach sie ziehen. Gleichzeitig bestritt er jedoch die Verfassungsfestigkeit eben dieser Sozialgesetze. Das Sozialgericht Gotha folgte seinen Einwänden insofern, dass es gleichfalls eine Unvereinbarkeit der aktuellen Sozialgesetzgebung mit der im Grundgesetz verankerten Menschenwürde, der Sozialstaatlichkeit, der Unverletzlichkeit von körperlicher Unversehrtheit und Leben und der Berufsfreiheit erkannte.

Mehr als ein Jahrzehnt der gesamten Agenda 2010, nicht nur der Sanktionsregelungen, hat nicht nur das deutsche Grundgesetz schwer beschädigt, es hat damit auch schwere Deformierungen in der Bevölkerung hervorgerufen. Die Auswirkungen auf unsere Gesellschaft sind grundlegend und vielfältig. Sie reichen von einer Zunahme von Armut in allen Altersgruppen bis hin zu reiner Existenzangst, einer massiv erodierenden Arbeitsmarktsituation mit nichtexistenzsichernden Niedriglöhnen, einer die europäischen Partnerländer erdrosselnden Exportlastigkeit der deutschen Wirtschaft mit katastrophalen Auswirkungen auf die jeweils dortigen Bevölkerungen bis hin zu einer aus Ängsten und Demütigungen resultierenden Fremdenfeindlichkeit heutiger Tage. Die Sicherstellung der Menschenwürde aller Bürger bildet einen entscheidenden Schlüssel, diese Verwerfungen zu beseitigen, die einer sich demokratisch bezeichnenden Gesellschaft unwürdig sind.

„Es gibt keine Toleranz gegenüber denen, die die Würde anderer Menschen infrage stellen.“ Bundeskanzlerin Angela Merkel, 26.08.2015 in Heidenau

Es wird Zeit, den hehren Worten endlich Taten folgen zu lassen.

*Lutz Hausstein (46), Wirtschaftswissenschaftler, ist als Arbeits- und Sozialforscher tätig. In seinen 2010, 2011 und 2015 [PDF – 1.3 MB] erschienenen Untersuchungen „Was der Mensch braucht“ ermittelte er einen alternativen Regelsatzbetrag für die soziale Mindestsicherung. Er ist u.a. Ko-Autor des Buches „Wir sind empört“ der Georg-Elser-Initiative Bremen sowie Verfasser des Buches „Ein Plädoyer für Gerechtigkeit“.

Bürgerreporter:in:

Hajo Zeller aus Marburg

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