Gedenken in Marburg an den 28. März 1945 – aber die Legende Voß bleibt Legende

Aus dem Protokoll der Spruchkammer Marburg, verfasst 4.2.1947, Leiter: Reg. Rat Dr. Schilling, Stadtarchiv Marburg PA 822/2 Walter Voß, S. 115
  • Aus dem Protokoll der Spruchkammer Marburg, verfasst 4.2.1947, Leiter: Reg. Rat Dr. Schilling, Stadtarchiv Marburg PA 822/2 Walter Voß, S. 115
  • hochgeladen von Karl-Heinz Gimbel

Die OP hat zu Recht mit Beiträgen an die Befreiung von Marburg vor 75 Jahren durch die Amerikaner erinnert. Dabei hat Redakteur Götz Schaub noch einmal die Legende um Bürgermeister Walter Voß aufgefrischt: Dieser sei damals der „Retter von Marburg“ gewesen. Zu den Geschichten um diese Zeit gehört auch – von Schaub nicht genannt –, dass Voß 2017 durch die Conze-Studie plötzlich und eigentlich sehr spät als Nazi „entlarvt“ wurde. So wäre es laut dieser Studie angeblich Voß gewesen, der 1933 den SPD-Mann Georg Gaßmann verhaften und hatte einsperren lassen. Dieser Tastbestand war der Conze-Studie zur Beurteilung von Voß sehr wichtig.

Die Conze-Studie bringt zu Voß Halbwissen

Leider hatte keiner der Studierenden bei den Einblicken in die Akten bemerkt, dass es nach 1945 gerade Oberbürgermeister Georg Gaßmann gewesen war, der Voß als den „Retter von Marburg“ hoch geehrt hatte durch jährliche Dankschreiben, Blumen und Widmung einer Straße. Dieser eklatante Widerspruch wurde in der Conze-Studie nicht bemerkt, eine Aufklärung dazu fehlte dementsprechend sowieso. Das dargestellte Halbwissen führte zur Entehrung von Voß. Im Rathaus hatte man blind auf die Halbwahrheiten der Studie vertraut und Voß per Beschluss entehrt und die Straßenbenennung zurückgenommen.

Kein verantwortungsvoller Bürger irgendeiner Stadt hätte jemandem, der wie Voß die völlige Zerstörung einer Stadt verhindert hätte, so entwürdigt. Voß war bis Kriegsende der Partei ergeben. Dass er ein Nazi gewesen war und treu der  Partei gedient hatte, wusste nach 1945 in Marburg jeder. Dazu brauchte niemand Akteneinsicht. Das angebliche Wirken von Voß am letzten Kriegstag hatte mehr gewogen. Damals glaubte man, ohne den selbstlosen Einsatz von Voß wäre die Innenstadt von Marburg so zerstört worden wie in Gießen und Kassel.

Hermann Bauer erfand den "Retter von Marburg"

Hermann Bauer schrieb in seiner Zeitung „Marburger Presse“, dass angeblich hundert amerikanische Bomber startbereit gestanden hätten, bei einer Verteidigung von Marburg die Stadt dem Boden gleich zu machen. Voß hätte unter Einsatz seines Lebens dies angeblich verhindert. Kein Haus wäre in Marburg stehen geblieben und man hätte Tausende Tote begraben müssen. (Anm: Die Spruchkammer nahm die Angaben von Bauer bei der Entnazifizierung von Voß als Wahrheit an und kam zu dem Urteil „unbelastet“). In der Conze-Studie wurde dies verschwiegen. Warum die Conze-Studie auf das Lesen dieser doch sehr wichtigen Spruchkammerakten verzichtet hat, ist unerklärlich.

Doch der Retter-Mythos von Voß ist Legende. Einer der am meisten an der Legende gestrickt hat, war Hermann Bauer, warum auch immer. Und alle haben Bauer geglaubt. In Veröffentlichungen von mir bei myheimat im Jahr 2016, im gleichen Jahr auch in meinem Buch über die Marburger Oberbürgermeister im Kapitel zu Voß und zuletzt in diesem Jahr mit dem Buch „Marburg im 2. Weltkrieg“, habe ich fast minutiös aus verschiedenen seit einiger Zeit zugänglichen Quellen den Ablauf am 28. März 1945 dargestellt.

Voß war pflichtbewusster Parteisoldat der NSDAP gewesen

Voß war kein Held gewesen. Voß saß an diesem Tag nichtsahnend über die auf Marburg vorrückenden Amerikaner bei einem Fliegeralarm samt seiner engsten Mitarbeiter im Keller des Rathauses. Er wurde durch den Einmarsch der amerikanischen  Panzer überrascht und nach der Besetzung aus dem Rathaus geholt. Maßnahmen zur Verteidigung der Stadt hätte er sowieso nicht alleine treffen können – und sie auch ebenso wenig verhindern können. Er hatte die Jahre über im „Dritten Reich“ nur pflichtbewusst nach Anweisungen der Partei gehandelt. Sich der Partei, Kreisleiter/Gauleiter, zu widersetzen, ist von ihm nicht überliefert. Dies ist ihm wohl auch niemals in den Sinn gekommen.

Legenden können schön sein - aber sie bleiben Legenden

In Marburg haben manche Legenden eine lange Lebensdauer. So glaubte man wohl lange, dass die Kirche für die Heilige Elisabeth auf der Kirchspitze errichtet werden sollte. Doch jede Nacht zerstörte der Teufel die Arbeiten vom Tage. Irgendwann wurde dies als Legende erkannt. Für Voß als „Retter von Marburg“ sollte das Gleiche gelten. Götz Schaub kann die Wahrheit zu Voß in Einzelheiten in meinem Buch finden. Er hat mein Buch dankenswerterweise in seinem Artikel erwähnt. Er muss es nur noch lesen, um vom Glauben an die Legende abzukommen. Immerhin hatte er bessere Kenntnisse zu Voß als die Verfasser der Conze-Studie.

Dieser Beitrag wurde in der Oberhessischen Presse als Leserbrief am 11. April 2020 veröffentlicht, allerdings wegen der Bestimmungen über die Länge eines Leserbriefs teilweise gekürzt.

Am 14. März wurde die Kopie von S. 115 Urteil Spruchkammer Marburg zu Walter Voß eingefügt

Dazu: Die Studierenden haben die Personalakte mehrfach als Beleg angegeben. Aber "den letzten und vielleicht eindrucksvollsten Beweis …" zur Würdigung von Voß durch die Spruchkammer haben die Studierenden "übersehen" - oder sie wollten ihn nicht sehen, weil er nicht in ihr Konzept, das Konzept derjenigen, welche die Studie beantragt hatten und benutzen wollten, nicht in das Konzept gepasst hatte. 
Das ist Geschichtsklitterung - und leider nicht zu loben und zu preisen.

Bürgerreporter:in:

Karl-Heinz Gimbel aus Marburg

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

19 folgen diesem Profil

8 Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.