15.Montagsgebet - Klinikärzte im Spannungsfeld zwischen Profit und Patientenwohl

Wie die OP berichtete http://www.op-marburg.de/Lokales/Marburg/Es-tobt-e... sprach Dr.med.Konrad Görg am 01.10.12 beim 15. gesundheitspoltischen Montagsgebet "Das Wort zur Sache".

Meine Empfehlung: Nehmen Sie sich (bundesweit) die Zeit diese Rede zu lesen - es lohnt sich!

Die Rede im Wortlaut, Zitat:

"Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde,

ich möchte mich ganz herzlich bedanken, dass ich heute hier zu Ihnen "das Wort zur Sache" sprechen darf. Und besonders danken möchte ich auch meinem Quintett "Marburg Brass" und Prof. Weyer an der Orgel für die so wunderbare Musik.

Gerne hätte ich dort oben mitmusiziert, aber als nun - neben meinem Zwillingsbruder - dienstältester Arzt am hiesigen Uni-Klinikum fühlt man eben doch so etwas wie eine moralische Verpflichtung, sich zu diesem wichtigen Thema hier in diesem Forum zu äußern.
Ich freue mich, dass Sie so zahlreich erschienen sind.

In den letzten Wochen und Monaten haben wir zur Situation an unserer Klinik - von den verschiedensten Standpunkten aus - wichtige Informationen erhalten. Heute möchte ich das Blickfeld noch einmal ein wenig verändern: Zunächst durch ein kurzes, selbstkritisches Zurückschauen in die Vergangenheit. Und mit einer so geschärften Wahrnehmung soll anschließend die derzeitige Situation am Klinikum betrachtet werden, und zwar unter besonderer Berücksichtigung unseres neuen Entlohnungssystems, des Fallpauschalensystems. Als Letztes möchte ich einige Ausblicke in die zukünftige Entwicklung des Krankenhauses wagen. Ich gebe zu, was ich zu sagen habe, mag für einige von Ihnen zu parteiisch sein, zu einseitig. Aber: Manchmal fordern gewisse Missstände parteiische Stellungsnahmen geradezu heraus, und als Ärzte müssen wir Partei ergreifen, Partei für die uns anvertrauten Patientinnen und Patienten. Außerdem: Wenn man gegen einen ökonomischen Zeitgeist argumentieren will, der immer mehr Lebensbereiche bestimmt, muss man wirklich tüchtig einseitig sein.

Ja, genau 33 Jahre sind es her, dass ich 1979 - damals noch unter Prof. Martini - als junger Assistenzarzt am hiesigen Klinikum zu arbeiten begann. Lange ist es her!
( Anmerkung von mir: Ja, lange ist es her - doch ich kann mich an diese Zeit noch gut und gerne erinnern ..., u.a. dass ich sehr gerne mit den schon damals sehr verantwortlichen Assistenzärzten Chr. + K. Görg zusammen gearbeitet habe)
Aber ich werde jetzt keinen jammervollen und nostalgischen Ton anstimmen, nach dem Motto: Früher war alles viel besser. Nein! Denn auch damals gab es große Ungerechtigkeiten wie z. B. Ungleichbehandlungen von Patienten, die für viele von uns nur schwer auszuhalten waren. Und so werden Sie in meinen Ausführungen immer wieder auch den einzelnen Arzt finden, der damals wie heute in einem Spannungsfeld stand und steht: ein Spannungsfeld zwischen einerseits seiner individuellen Menschlichkeit und Fürsorge für den Patienten, und andererseits persönlichen oder von außen einwirkenden finanziellen Interessen.

Hierzu zwei Begebenheiten - zunächst aus der Vergangenheit:
Es sind schon viele Jahre her, dass einmal ein Bürgermeister aus einer großen mittelhessischen Stadt wegen Fieber, Husten und Auswurf in unser Krankenhaus eingewiesen wurde. Lungenentzündung diagnostizierten wir Ärzte und nahmen ihn stationär auf. Damals gab es auch einen jungen Assistenzarzt in der Röntgenabteilung, der täglich in einer kleinen Kammer Röntgenaufnahmen der Lunge bei Patienten zu machen hatte. So auch an jenem Tag, als der Chef der Röntgenabteilung plötzlich - mit besagtem Bürgermeister im Rollstuhl - erschien. Sich vorbeidrängend an einer langen Wartenschlange im Flur, schob er auch den jungen Assistenzarzt beiseite, bugsierte den Bürgermeister zum Rö-Apparat, machte persönlich eine Lungenaufnahme und besprach anschließend in großer Sorgfalt den Befund mit seinem Privatpatienten. Nach einer halben Stunde schließlich signalisierte der Chef seinem Assistenzarzt, nun doch bitte weiterzumachen und die immer länger werdende Schlange endlich "abzuarbeiten".

So weit, so gut - oder auch nicht. Der Bürgermeister, als er wieder genesen und entlassen war, bedankte sich in der Presse aufs Herzlichste bei den Mitarbeitern für die so fürsorgliche Behandlung im Krankenhaus."Er könne überhaupt nicht verstehen, dass es Patienten gäbe, die diese Einrichtung kritisch bewerteten." So die Worte des Bürgermeisters.

Wir erkennen im Blick auf diesen Patienten: Jeder sieht nur das, was er sehen kann und sehen will. Und ich frage mich daher für heute ganz allgemein: Wird es in unserem Gesundheitswesen jemals eine Veränderung geben, wenn wir unseren Politikern und anderen wichtigen Entscheidungsträgern realistische Erfahrungen in unseren Krankenhäusern immer wieder vorenthalten - eben weil sie Privatpatienten sind? Eine Erfahrung, wie zum Beispiel diese: 4 Stunden im Notfallbereich zu warten, ohne einen Arzt gesehen zu haben, um sich dann resigniert, geschwächt und letztendlich verzweifelt einfach davon zu schleichen, wie es mein Schwiegervater vor einem Jahr am Klinikum erlebte.

Eine weitere Geschichte: Einige Jahre später erhielt unser junger Assistenzarzt - jetzt auf Station - einen Anruf seines Oberarztes, er möge bitte - auf Geheiß des Chefs - ein Einzelzimmer für einen Privatpatienten, bei dem einige Untersuchungen zu machen seien, bereitstellen. Dies war dem Stationsarzt jedoch nicht möglich. Alle Betten auf seiner Station waren belegt. Und so kam, was kommen musste: Der Oberarzt erschien auf Station, nahm ein Zweibettzimmer, entließ die eine der beiden Patientinnen sofort - heute würden wir dies zynisch blutige Entlassung nennen - und schob die andere schwerer erkrankte Patientin einfach aus ihrem Zimmer in den ärztlichen Untersuchungsraum. Der Privatpatient hatte nun sein Einzelzimmer.

Wir sehen am Verhalten dieser leitenden Ärzte: Die Scheidewand zwischen Anvertrautsein und Preisgegebensein ist hauchdünn. Fürsorge und Willkür liegen nahe beieinander. Und wir erkennen: Auch in der Vergangenheit gab es Ärzte, die korrumpierbar waren - hier in diesem Fall durch die in unserem Gesundheitssystem angelegte Möglichkeit, privat liquidieren zu dürfen. Nebenbei: In Schweden wurde dieses "Zweiklassensystem" - auch aufgrund solcher Verwerfungen - abgeschafft.

Und wie ist die Situation heute? Es existiert noch immer ein Unterschied zwischen Privatpatienten und Kassenpatienten - die Erfahrung von Ungleichbehandlung hat sicherlich der eine oder die andere von Ihnen schon gemacht -,Wir haben also dieses alte Problem noch immer nicht gelöst - so lesen wir in den Zeitungen ganz aktuell, dass Privatpatienten anscheinend viel schneller Organtransplantate bekommen als Kassenpatienten - doch stehen heute ganz anders gelagerte Konflikte im Vordergrund, insbesondere in Marburg angesichts eines Klinikums in privater Hand. Denn ein börsennotiertes Unternehmen wie Rhön muss den Spagat eingehen zwischen einer guten Krankenversorgung und einer hohen Rendite, eine Rendite, welche die immensen Schulden des Konzerns tilgt und Gewinnausschüttung für die Aktionäre leisten soll - bei seriöser Betrachtung eigentlich ein unmögliches Unterfangen.

Wie sich ein derartiger Interessenskonflikt konkret auswirkt, möchte ich kurz mit einem Beispiel aus der Gegenwart aufzeigen. Eine der ersten Maßnahmen nach Übernahme durch den Rhönkonzern war es, aus Kostengründen für jeweils zwei räumlich sehr nahe - quasi gegenüberliegende Stationen im Krankenhaus - nachts nur noch eine einzige Krankenschwester einzusetzen anstatt wie bisher zwei. Diese beiden Pflegekräfte hatten sich früher bei allen möglichen nächtlichen Problemen auf den Stationen immer gegenseitig unterstützen können. Jetzt war folgendes Procedere vorgesehen: Sollten auf den beiden Stationen schwerkranke Patienten liegen, gab es die Möglichkeit, für die Nacht aus einem neu angelegten sogenannten Schwesternpool eine zweite Schwester anzufordern. Das Problem war nur, dass dieser Pool chronisch unterbesetzt war.
So auch an einem Wochenende im Frühjahr 2007, als eine alte sterbenskranke Patientin aufgenommen wurde. Ihr größtes Problem war, dass sie alleinstehend war, dass sie keinen Angehörigen hatte, der sich nachts im Krankenhaus um sie hätte kümmern können. So wurde für die Nacht aus besagtem Pool eine zweite Schwester angefordert, aber der Pool war - wie nicht anders zu erwarten - wieder einmal leer. Notgedrungen schob die Nachtschwester die sterbende Frau aus ihrem Zimmer auf den hell erleuchteten Stationsflur, um sie des Nachts bei ihren Rundgängen doch noch ab und zu ein wenig im Auge zu haben. In dieser menschlich untragbaren Situation ist unsere Patientin in ihrer dritten Nacht auf dem Flur verstorben.

Nach einem solchen Ereignis mussten wir Ärzte uns selbst anklagen, weil wir nicht rechtzeitig diese strukturelle Misere erkannt hatten. Aber wir haben nach diesem Vorfall verspätet dann doch noch gehandelt und einen Beschwerdebrief aufgesetzt. Ja, und wenige Tage später wurde diese Nachtwachenanordnung in der Tat rückgängig gemacht, sodass wieder jede einzelne Station ihre eigene Nachtschwester bekam. Der Rhönkonzern hatte also auf unsere Beschwerde hin reagiert. Der Sparzwang zu Lasten von Patienten wurde in diesem Falle aufgehoben.

Doch machen wir uns für die Zukunft nichts vor. Gesellschaftliche Subsysteme - wie man Krankenhauskonzerne soziologisch nennen kann - werden heute durch den Code "Geld" gesteuert. In einem solchen Subsystem kann Ethik nur bedingt handlungswirksam werden, da der Code "Moral" mit Signalen wie "gut" und "böse" kompatibel ist, aber nicht mit dem Code "Geld". Mit anderen Worten: Unternehmen, die vornehmlich nach moralischen Überlegungen in unserem Wirtschaftssystem handeln, werden vom Markt gnadenlos mit Untergang bestraft. Oder sie werden zu einem Spielball, zu einem Objekt der Begierde von Großkonzernen, von sogenannten "Global Players" der Marktbranche, ganz nach dem Motto der kapitalistischen Konkurrenzideologie: Fressen oder Gefressenwerden.

Entschuldigen Sie bitte die letzten harten Worte, aber wir müssen wieder lernen, die Dinge richtig beim Namen zu nennen. Dieses Dilemma ist natürlich nicht nur auf den Rhönkonzern begrenzt. Alle Krankenhäuser, städtische, staatliche und auch kirchliche, unterliegen heute einem zunehmenden Kosten-Nutzen-Kalkül. Unmenschliche Arbeitsbedingungen für die Mitarbeiter, Stellenabbau, Entlassungen, Ausgliederung in den Billiglohnsektor und Überlastungsanzeigen im Pflegebereich sind die Folge und ich frage mich: Wo bleibt in diesem kommerzialisierten System überhaupt noch die Zeit - und vielleicht demnächst auch die Fähigkeit - für das Gespräch am Krankenbett? Empathie, menschliche Wärme und Fürsorge für den Kranken werden heute ersetzt durch einen möglichst reibungslosen Service an einem Dienstleistungskunden. Wir haben hierüber in dieser Kirche in den letzten Wochen schon vieles und wichtiges erfahren. Manche Krankenhäuser meinen nun, den enormen wirtschaftlichen Druck, dem sie ausgesetzt sind, über das sogenannte "Fallpauschalensystem" entschärfen zu können Und hier erscheint am Horizont eine neue, weitere, schreckliche Form der Zwei-Klassen-Medizin.

Dies muss ich etwas genauer erklären: Seit 2003 erfolgt in Deutschland die Abrechnung stationärer Leistungen am Patienten nicht mehr über den früheren Krankenhaustagessatz, sondern über eine für die jeweilige Erkrankung des Patienten bundesweit festgelegte Fallpauschale. Mit der Einführung dieses Systems gibt es für gewisse - ich betone: für gewisse Krankenhäuser nun eine Möglichkeit, in die Gewinnzone zu kommen. Man unterscheidet heute nämlich nicht mehr so sehr zwischen lukrativen Privatpatienten und armen Kassenpatienten, sondern zwischen Erkrankungen, Erkrankungen, mit denen man Geld verdienen kann und solchen, mit denen man Verluste macht. Amerikanische Gesundheitsmanager unterscheiden in ihrer pragmatischen und etwas schnoddrigen Art zwischen "cash cows" und "poor dogs". Cash cows - also Kühe, die man melken kann - sind Patienten mit Krankheiten, bei denen ein Krankenhaus Gewinne erzielt, wo technisch aufwändige Maßnahmen durchgeführt werden, wie z. B. Hüft- und Kniegelenksprothesen-OPs, Nieren- und Knochenmarkstransplantationen, um nur einige wenige zu nennen. Poor dogs sind Patienten mit Krankheiten, bei denen ein Krankenhaus kein Geld verdienen kann, wo es immer draufzahlen muss. Solche armen Hunde sind für Kliniken - wirtschaftlich gesehen - absolut unattraktiv. Zu ihnen zählen u.a. alte Patienten, Patienten mit vielen Krankheiten und chronisch Kranke, wie z.B. Patienten mit chronisch offenen Beinen oder Patienten, die sich wund gelegen haben oder auch Rheumatiker.
... "

weiter geht es z.B. hier
http://www.elisabethkirche.de/Nachrichten.488+M5c9...
oder hier
http://www.notruf113.org/dr_konrad_gorg.html
Anmerkung: Notruf 113 betreibt auch einen blog
http://notruf113.blog.de/
oder hier
http://www.nachdenkseiten.de/?p=14621

Bürgerreporter:in:

Petra Schlag aus Marburg

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