Zwischen den Häusern wohnt die Erinnerung

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Zum Geschichten-Erzähler gehören sicher auch Erinnerungen an die Jugendzeit. In Marburg an der Lahn gibt es eine Straße, in der ich meine Jugendzeit verbrachte. Die folgenden Geschichten sind aus dieser Zeit gegriffen. Es begann so ……..

(Eigentlich beginnt alles mit der Geschichte "Emil kehrt heim", aber die kennt ihr schon aus einem früheren Beitrag, hier steht er)

Ich will meiner Erinnerung Beine machen.

Damals reckten sie sich wie zwei dünne Stängel aus meiner etwas zu weiten Lederhose. Die Hosenträger, an denen sie baumelte, wurden vor der Brust mit einem Streifen zusammengehalten, auf dem ein weißes Oval mit röhrendem Hirsch geklebt war. Immer wieder glitten meine Finger darüber. Meist wenn ich verlegen war. Etwas schmächtig war ich gegen Ende meines ersten Schuljahres. Meine Eltern hatten alle Hoffnung in mich als ihren Sohn gesetzt, der ihnen noch unverhofft im Jahr nach der Rückkehr meines Vaters aus der Kriegsgefangenschaft zwischen die Beine purzelte.

Eines Morgens hatte ich Schmerzen irgendwo in der Hüfte und wollte nicht zur Schule. Tage zuvor gab es eine wilde Schlacht auf der Straße, bei der ich wohl einen Tritt erhielt. So richtig erinnerte ich mich nicht mehr. Meine Mutter machte sich gleich große Sorgen und so ging sie mit mir zur Kinderklinik, die nur wenige Straßen weiter hinter der Elisabethkirche in einem langen weißen Gebäude mit kleinem Park untergebracht war. Heute befindet sich darin das Institut für Orientalistik der Philipps-Universität.

Auf dem Weg zur Klinik ging ich an der Hand der Mutter. Sie machte noch Halt in einem Lebensmittelgeschäft. Mir wurde übel und ich ging zur Ladentüre, öffnete sie und fiel kopfüber die kleine Steintreppe hinunter, die den Eingang zum Laden bildete. Dass ich mit dem Kopf aufschlug, spürte ich nicht mehr. Als ich wieder zu mir kam, schaute ich in Gesichter, die ich nicht erkannte. Irgendwer trug mich. Dann war es wieder dunkel.

Wie von ferne hörte ich meinen Namen. Ich lag auf einem Tisch, schaute nach oben in eine helle Lampe. Um sie herum einige Gesichter. Das war’s dann auch. Am nächsten Tag saß meine Mutter neben meinem Bett. Sie weinte still als ich erwachte und zu ihr sah. Auf meiner Stirn spürte ich ein kühles feuchtes Tuch, das sie regelmäßig wechselte. Ich weiß nicht mehr, was ich dachte oder sagte. Aber ich erinnere mich noch an eine Leichtigkeit, mit der ich im Bett zu schweben schien und dass mein Kopf glühte als stecke er in einem Backofen.

In den nächsten zwei Wochen verlor ich jegliches Gefühl für die Zeit. Nur, dass meine Mutter täglich bei mir war, hatte etwas Regelmäßiges. An einem dieser Tage, erinnere ich mich, dass mein Klassenlehrer neben meinem Bett stand. Ein hagerer Mann, an dem die dunklen Anzüge schlotterten. Er hieß Schlotterrose. Aber wir nannten ihn Schlotterhose. Besonders lustig fanden wir, wenn er täglich in der Klasse mit der Geige spielte und wir mehr oder weniger hörbar dazu sangen. Aber er sorgte sich sehr, wie mir meine Mutter später erzählte. In der Klasse wurde für mich gesammelt und er brachte jede Woche bei seinem Besuch eine Tafel Schokolade für mich mit.

Später erfuhr ich, dass ich in der Hüfte eine Knochenhautentzündung hatte. Vielleicht durch den Sturz sei im Kopf eine Hirnhautreizung entstanden. Zwei Wochen hätte ich extrem hohes Fieber gehabt. Die Ärzte machten meine Eltern damit vertraut, dass man keinen wirklichen Ausweg sähe und sie mit dem Schlimmsten rechnen müssten. Sie war verzweifelt, wie eine Mutter nur sein kann. Aber am Ende der zweiten Woche hat sie mich dann geheilt.

Die Tochter ihrer Freundin war vor einiger Zeit nach Amerika ausgewandert. Das brachte sie wohl auf die Idee, mir etwas zu versprechen, wenn ich nur gesund würde. Sie versprach mir am Krankenbett, dass ich einen echten Cowboy-Anzug mit Hut und zwei Colts zum nächsten Weihnachtsfest bekommen werde. Dafür müsse ich aber schnell wieder gesund werden. Daran erinnere ich mich ganz genau. Ich sehe ihr Gesicht noch vor mir, wie sie sich über mich beugte und mir mit ihrer kühlen Hand über den heißen Kopf strich. Meine Augen, so erzählte sie mir später, hätten in diesem Augenblick so geleuchtet, dass sie gewusst habe, jetzt würde ich wieder gesund.

Die Ärzte seien sehr verwundert gewesen, als mein Fieber in den nächsten Tagen stetig sank. Nach sechs Wochen kam ich wieder in meine Schulklasse. Nie wieder sind meine Klassenkameraden für mich aufgestanden und klatschten. Aber damals taten sie es. Für meinen Lehrer gab mir meine Mutter immer einen kleinen Strauß vom Flieder mit, wenn er in unserem Garten blühte.

Küchengeschichten

Der Mittelpunkt der Welt meiner Kindheit war unsere Küche, im dritten Stock eines schmalen Fachwerkhauses an einer Kopfsteinpflasterstraße mit Namen „Zwischenhausen“ in Marburg an der Lahn. Eine lange Holztreppe mit durchgehendem Holzgeländer, das auch gerne zum Herunterrutschen einlud, endete vor der Wohnungstüre, hinter der ein quadratischer Flur ohne Außenlicht, der aber rechts durch die Küchentüre, in die im oberen Drittel eine undurchsichtige Glasscheibe eingelassen war, ein spärliches Licht empfing. Doch hinter der Türe befand sich die kleine Welt meiner Kindheit – unsere Küche.

Sie war nicht besonders groß, sondern passte sich der Kleinheit des Fachwerkhauses an, und mit meinen Kinderaugen war sowieso alles um mich herum irgendwie groß. Die Mitte beherrschte als zentralem Platz der rechteckige Küchentisch mit einer unverrückbaren Platzordnung. Mit dem Rücken zum Gasherd, der an die Stadtgasversorgung angeschlossen war, die schon in frühen Jahren den Komfort der Universitätsstadt bot, saß meine Mutter mit Blick auf die beiden Fenster – die auch klein und so den Hausproportionen angepasst waren. Als sei dies noch zu unterstreichen waren die jeweils beiden Fensterflügel, die nach innen öffneten, nochmals durch Holzstäbe in kleine quadratische Scheiben geteilt. Meiner Mutter gegenüber mit dem Rücken zu den Fenstern saß meine Schwester, die jüngere von beiden, die große war zu meiner Zeit – jedenfalls so weit meine Erinnerung reicht – jung verheiratet und ins Ruhrgebiet ausgewandert, weil es für den Mann dort im Bergbau gute Verdienstmöglichkeiten gab. Links von meiner Mutter an der langen Seite des Tisches und meinem Vater gegenüber war mein Platz, also zwischen den beiden Frauen aber an der langen Tischseite platziert und so nach meiner Wahrnehmung mit der Bedeutung irgendwie meinem Vater in gleicher Stellung zugeordnet, allerdings auch seiner unmittelbaren Beobachtung und Reichweite ausgesetzt. Die Mutter saß so in praktischer Reichweite zu den Töpfen in ihrem Rücken und zu ihrer rechten dem großen Küchenherd mit Brikettfeuerung, dem meine besondere Liebe galt. Meist war er nur im Winter und der Übergangszeit in Betrieb, denn er heizte zugleich die Küche und wenn die Türe offen blieb auch ein wenig das angrenzende Wohnzimmer mit der Funktion der guten Stube. Das Leben allerdings spielte sich in der Küche ab.

Der Tisch verband die Familie in seiner aus welchen Gründen auch immer entstandenen Tischordnung zu allen Mahlzeiten, war Platz der Hausaufgaben, abendlicher Spiele, war für uns Kinder das Zelt, was entstand, wenn wir die Stühle beiseite schoben und eine große Decke an allen Seiten bis zum Boden herabreichte. Er war der Platz strenger Zwiegespräche, wenn zwischen mir, meinem Vater oder meiner Mutter ein Schulzeugnis lag aber auch sonntäglicher Altar, wenn in seiner Mitte, der von meiner Mutter gebackene Rührkuchen mit weißem Puderzucker stand und seinen feierlichen Duft in die Küche verströmte, der sich mit dem aufgegossenen Kaffee aus der weißen Kanne mischte, von dem wir etwas verdünnt probieren durften. Am Kuchen liebte ich besonders die untere Kruste, meist war auch die untere Hälfte des Teiges mit Kakaopulver verfeinert, der obere Teil hatte dann einen feinen Vanillegeschmack. In der Kuchenform war die spätere untere Hälfte oben und erhielt im Backofen so ihren knusprigen Rand. Einen besonderen Genuss gab es schon am Vorabend, wenn ich die Teigschlüssel ausschlecken durfte. Dieser Sonntagsrührkuchen auf unserem Küchentisch, der zur Feier des Tages eine weiße Tischdecke trug, war der Höhepunkt eines jeden Sonntags.

Der Küchentisch war auch Arbeitsplattform für die Essenszubereitung. Besonders aufregend fand ich, wenn an seinem Rand ein Fleischwolf angeschraubt wurde, durch den die Spinatblätter aus unserem Garten gedreht werden mussten. Auf einem Stuhl kniend konnte ich diese Arbeit verrichten. Hin und wieder durfte ich auch am Tisch mitarbeiten, indem ich Taschentücher oder kleine Handtücher bügelte, wenn er zum Bügeltisch hergerichtet war. Dafür lag unter einem weißen Leintuch eine weiche Decke. Wenn meine Mutter dafür Zeit hatte, durfte ich eben die Taschentücher „bügeln“, musste aber dafür meist auch einen Stuhl zu Hilfe nehmen, jedenfalls in den ersten Jahren. Etwas größer wurde ich auch zum Ziehen langer Betttücher eingesetzt. Ich kam mir dann immer besonders stark vor, wenn ich meine Mutter mit einem heftigen Ruck aus dem Gleichgewicht brachte. Unvergesslich an unserem Küchentisch bleibt mir, wenn meine Eltern abends spät an ihm Rommé spielten. Das geschah in andachtsvoller Stille und ist für sich eine eigene Geschichte.

Neben dem Gasherd befand sich an der Wand ein emailliertes weißes Waschbecken und ein Wasserhahn recht eng an der Kaminwand, in die das Ofenrohr, welches zunächst gut 1 m aus dem Küchenherd emporstieg und dann in den Kamin oben abbog. Trotzdem war das Waschbecken neben dem Gasherd immer ein willkommenes Versteck, denn ich hatte unter ihm einen guten Platz, an den man sich den Blicken durch die Flurtüre entziehen konnte, wann immer es nötig war und nach mir - aus welchem Grunde auch immer - gesucht wurde.

Dieser Küchenherd war etwas ganz Fantastisches. Seine große Herdplatte war fast so etwas wie ein heißer Tisch. In der linken Hälfte der Herdplatte über der Feuerkammer befanden sich Eisenringe, die zur Mitte hin immer kleiner wurden und einzeln herausgenommen werden konnten. Das geschah immer, wenn dort ein gusseisernes Waffeleisen eingesetzt wurde. Es war im Laufe der Jahre mit einer so etwas wie eingebrannten Fettschicht innen und außen überzogen, denn es wurde nach der Benutzung nur mit Zeitungspapier sauber gewischt – die Druckerschwärze damals färbte noch nicht ab, deswegen konnte es auch in kleinen Stücken auf der Toilette benutzt werden; heute in unserer fortschrittlichen Welt geht das nicht mehr. Die Flammen mit einer Wolke Rauch schlugen aus dem großen Loch, bevor das Eisen mit den seitlichen kleinen Bolzen in dafür vorgesehene Führungskerben eingesetzt wurde. Ein dicker runder Fettpinsel, der seinen Platz in einem kleinen Emailleschüsselchen hatte, wurde schnell über beide Hälften des aufgeklappten Eisens geführt und schon ergoss sich aus einer Suppenkelle der dünnflüssige Teig in die jetzt schon heiße Hälfte des Waffeleisens über dem Feuer. Mit einem lauten Zischen wurde das Eisen zugeklappt, in dessen Innern jetzt der Teig in den einen Kreis bildenden Herzen mit Rautenmuster zu backen anfing. Im Nu zog ein wunderbarer Duft durch die Küche. Nach einiger Zeit stieß meine Mutter mit einem Holzstab, der an der Spitze bereits schwarz angebrannt war, das hieße Eisen in der rechten Hälfte nach unten, so dass es sich über die mittlere Achse drehte und nun die andere Seite über dem Feuer lag. Dabei entwich jedes Mal eine Rauchwolke in die Küche, die aber mit dem Backduft eine vorlockende Mischung abgab. Relativ schnell wurde das Eisen nach einer nochmaligen Drehung geöffnet und die ganze Pracht duftete uns aus dem geöffneten Eisen entgegen. Mit dem Holzheber wanderte die fertige Waffel auf den Teller. Unbeschreiblich war der Duft, der mit dem noch heißen Dampf in unsere Nasen stieg. Jeder durfte von der ersten Waffel gleich eines der Herzen genießen. Sie waren richtig knusprig, denn Mutter verwendete nie zu viel Milch für den Teig. Mit schnellem Pinselstrich war das Eisen erneut eingefettet, und die nächste Waffel folgte. Langsam türmte sich auf einem Teller ein Stapel von frischen Waffeln. Dabei war darauf zu achten, dass nicht die heiße Waffel aus dem Eisen sofort auf die vorige gelegt wurde, sondern erst einige Minuten auf einem kleinen Rost auskühlte, sonst waren sie nicht mehr knusprig. Wenn wir schon alle am Tisch saßen, dann wurde auch der Stapel nicht ganz so hoch, denn wir durften die frischen Waffeln bereits während des Backens anfangen zu verzehren. Nach der zweiten allerdings hat unsere Mutter das Rennen gewonnen, denn sie war schneller. Erst wenn der Teig zu Ende war, saßen wir wieder alle am Tisch. Gern wurden die Waffeln mit Puderzucker bestreut oder auch mit der selbst gemachten Marmelade bestrichen. Eigentlich war das noch schöner als der Rührkuchen, denn es war für mich mit Feuer und Qualm verbunden, und beides liebte ich sehr. Nur das Waffeleisen drehen durfte ich selten, denn nicht immer gelang es mir richtig und manchmal verbrannte ich mir auch die Finger. Wir konnten später unseren Kindern Waffeln nur in einem elektrischen Eisen backen. Deshalb haben sie auch nicht erfahren, dass Feuer und Qualm eigentlich erst den richtigen Genuss beim Waffelbacken und -essen ausmachen.

Auf unserem Herd hatten ohne Probleme 4 Töpfe Platz und dennoch war daneben noch zum warm halten genügend Fläche. Ganz rechts vor dem Ofenrohr war ein langer Wasserbehälter, den wir Schiffchen nannten. In ihm befand sich immer Wasser, das bei Betrieb des Ofens recht heiß werden konnte. Wenn man den rechteckigen Deckel abnahm stieg heißer Wasserdampf empor. Mit einer Schöpfkelle konnte man so zu jeder Zeit heißes Wasser entnehmen. Das war wichtig, denn der Wasserhahn an der Spüle lieferte nur kaltes Wasser. Die Schöpfkelle hing an einem Gestell, das am Ofenrohr befestigt war, an dem auch ein Küchenhandtuch Platz fand und so immer trocken war. Neben der Feuerstelle und dem Aschenkasten darunter war eine große Klappe vor dem Backofen, der allerdings nach meiner Erinnerung nie benutzt wurde, weil unser Gasherd eine gleichmäßigere Hitze zum Backen lieferte. Außen war unser Küchenherd weiß emailliert und wurde wie die Herdplatte regelmäßig geputzt. Das bisschen Abfall, das es damals gab, wanderte auch durch unseren Herd, so dass unsere Abfalltonne aus Metall nur Asche enthielt.

Das Feuer im Küchenherd war für mich immer eine besondere Sache, von der eine eigenartige Faszination ausging. Dass es zu meinen Aufgaben zählte, sobald ich sie einigermaßen tragen konnte, die Briketts aus dem Keller zu holen, war selbstverständlich. Eine besondere Auszeichnung war es aber, wenn ich sie auch in den Herd schieben durfte. Weniger erfreulich war es, dass ich die Briketts, die lose vor dem Haus vom Kohlenhändler ausgeschüttet wurden, in den Keller tragen und dort aufstapeln musste, nur die zerbrochenen Halben wanderten in eine Kiste.

Mit dem Küchenherd verbindet mich noch ein ganz besonderes Erlebnis, das er mir an einem Heiligabend bescherte. Zu meiner großen Freude schenkten mir meine Eltern ein Feuerwehrauto mit Drehleiter. Doch das Besondere an diesem Feuerwehrauto war, dass es einen kleinen Wassertank unter der Leiter hatte und dahinter einen etwa tischtennisgroßen Gummiball, der zur Hälfte in das Auto eingelassen war. Vom Tank führte ein kleiner Schlauch auf eine Schlauchrolle. Wenn man ihn herauszog konnte man ihn dem Feuerwehrmann oben auf der Leiter durch den Arm stecken. Drückte man dann auf den Ball und hatte zuvor getankt, dann kam bei jedem Drücken ein kleiner Wasserstrahl aus dem Schlauch. Ich bekam also ein Schüsselchen, in das ich meine ersten Löschübungen spritzen konnte. Dabei spielte ich so versunken, dass meine Eltern wieder mit meiner Schwester ins Wohnzimmer zum Weihnachtsbaum gingen und mich spielen ließen. Damals begann meine Karriere als Feuerwehrmann, die ich dann erst wieder als ca. 50-jähriger bei unserer Freiwilligen Feuerwehr beendete. Nachdem ich ausreichend geschickt in die Schüssel gelöscht hatte, wollte ich nun doch einmal richtig ausrücken und fuhr zum Küchenherd. Die Leiter und meinen Feuerwehrmann in Position gebracht öffnete ich die Tür zur Feuerkammer des Herdes, aus der mir wunderbar glühende Briketts entgegenleuchteten. Ohne viel Tatütata fing ich an zu löschen und füllte natürlich den schnell leer gepumpten Tank immer wieder nach. Der weiße Dampf im Herd begeisterte mich immer mehr, denn ich hatte so nach und nach einen recht ordentlichen Löscherfolg. Und wie das so bei Bränden an Heiligabend ist, irgendwann kamen auch die Schaulustigen, doch das waren zu meinem Leidwesen meine Eltern. Statt meine hervorragenden Leistungen als junger Feuerwehrmann zu würdigen, machten sie dem Treiben ein Ende, indem sie kurzerhand das Löschfahrzeug abkommandierten und auf den Schrank verbannten, wo es bis zum 1. Feiertag blieb. Dabei hätte nicht mehr viel gefehlt, und das Feuer wäre abschließend gelöscht gewesen. Doch so wurde es wieder entfacht, und die ganze Mühe war umsonst. Immer wieder habe ich später von solcher Brandbekämpfung geträumt, doch leider war mir ein weiterer Einsatz nicht mehr vergönnt, und ich musste mich mit reinen Übungseinsätzen begnügen.

Unsere Küche hatte noch ein Sofa, ein Radio mit grünem, magischem Auge, einen Küchenschrank und einen Vogelbauer mit Kanarienvogel. Auch daran knüpfen sich kleine Geschichtchen, die ich vielleicht später einmal aufschreibe. Doch der Küchentisch läuft natürlich allen anderen Möbelstücken den Rang ab. Auf ihm wurden im Laufe des Jahres auch ab und zu einige unserer Angorakaninchen geschoren. Doch auch das ist eine andere Geschichte, die ich vielleicht später einmal erzähle. Für heute waren es genug Küchengeschichten.

Der Rosinenpuler

Es ist ganz sicher ein Zeichen des Alterns, wenn ich mich in der letzten Zeit immer wieder mit alten Geschichten befasse. Vielleicht habe ich aber auch nur mehr Zeit zurückzuschauen – jetzt, wo ich der wirkliche Herr meiner Tage bin. Das klingt ziemlich vermessen, denn wer weiß schon wirklich etwas über diese Herrschaft? Es könnte auch sein, dass meine in diesen Tagen häufige Anwesenheit in „meiner“ Straße „Zwischenhausen“ solche Erinnerungen provoziert. Ich gebe zu, dass ich mich gerne so provozieren lasse. Wie kleine Mosaiksteinchen finden sich langsam einzelne Bilder wieder zusammen. Sicher sind sie keine fotografische Abbildung, die da entsteht. Eher sind es archäologische Bruchstücke, Erinnerungsfetzen, die nachträglich zum Bild restauriert und wohl auch retuschiert werden. Die harten Fakten werden weich gezeichnet im träumerisch verklärten Rückblick. Doch ich räume ein, dass mir dieses Verfahren und auch das Ergebnis gefallen. Schließlich ist alles eine Frage der Perspektive, und die ändert sich nicht nur mit der Zeit sondern auch mit dem jeweiligen Standort. So ist ganz sicher die Rückschau kein Protokoll. Es ist wohl eine neue Geschichte, die sich nährt aus den Gefühlen, die aus jener Zeit rühren. Vielleicht ist es auch der Geschmack der Rosinen, der mir zurückgeblieben ist.

Den Weg von unserm Haus in Zwischenhausen zu unserem Bäcker Erksleben am Ende der Straße war mir früh vertraut. Es war auch mein Weg zum Kindergarten. Dieser führte ein Stückchen weiter links in das Leckergässchen hinein und ein paar Schritte den Berg hinauf. Da stand das in meinen Augen riesige Backsteinhaus, das den evangelischen Kindergarten beherbergte. Die Kindergärtnerinnen trugen lange, dunkelblaue und gefaltete Kleider mit dünnen, feinen, senkrechten Streifen und eine weiße Haube. Bei manchen der Tanten war auch das Gesicht wie ihr Kleid gefaltet. Das störte mich aber nicht weiter. Meistens sah ich nur die Röcke. Mein Kopf reichte lediglich bis zu ihrem Gürtel. Was darüber war, musste ich nicht sehen. Ich hörte die Kommandos, wenn ich zwischen den Steinen draußen herumkletterte, mit Stöcken im Boden stocherte oder Bilder und Straßen in den Sand zeichnete. An bestimmte Spielsachen erinnere ich mich nicht mehr. Wichtig war meine kleine lederne Umhängetasche, in der sich mein Frühstücksbrot befand. Das sind die guten Erinnerungen.

Weniger erfreulich war das tägliche Ritual des Schlafens oder Ruhens. Irgendwann ertönte das Kommando zur Ruhe – gegen Mittag. Hände waschen, Schuhe ausziehen, auf das kleine Feldbett legen, mit grauer kratziger Decke zudecken. Ruhe! Aufstehen war verboten, und ich musste einmal ganz dringend aufs Klo. Doch an der Türe saß die dunkelblaue Schwester mit weißer Haube. Ich schlich hinter einen Flügel der offenen Falttüre, die den großen Raum in zwei kleinere abtrennte. Wegen der geringen Höhe hörte niemand, wie sich meine Blase durch den kleinen Wasserhahn langsam hinter die Türe entleerte. Ebenso wenig hörte man mich zurück schleichen. Das ist keine so gute Erinnerung. Doch jetzt ist sie raus, und ich bin noch einmal erleichtert.

Beim Bäcker holte ich einmal in der Woche einen Vier-Pfund-Brotlaib. Der roch gut, war mit einem Papier umwickelt und wurde von mir auf der Hüfte mit dem Arm umschlungen geschleppt. Dabei musste ich mehrmals die Seite wechseln. Vier Pfund wogen schwer, vor allen Dingen, wenn ich nach dem Fußmarsch noch die vielen Treppen hinauf zu unserer Wohnung steigen musste. Dafür bekam ich auch eines der begehrten Endstücke, die frisch am besten schmeckten. Das letzte Stück am Ende der Woche war meist ziemlich hart, wurde Hasenbrot genannt, und die bekamen es dann auch in unserem Garten. Dort hausten unsere Angorakaninchen in einer Stallanlage, aber das wäre eine neue Geschichte. Hier geht es um die „Rosinen“. Eine solche war das Endstück vom Vierpfünder. Wirklich gut waren aber die echten Rosinen.

Aus welchen Gründen auch immer, gab es nicht an jedem Sonntag einen Rührkuchen. Gelegentlich wurde ich am Freitag auf den Weg zum Bäcker geschickt, ein großes Rosinenbrot zu holen. Das war ein Vergnügen! Es war ein ziemlich rechteckiger Kasten, oben mit einer härteren Kruste, die über die Länge in der Mitte wie ein langer wulstiger Graben geteilt war. Unten und an den Seiten war das Rosinenbrot weich, und ich musste aufpassen, dass ich nicht mit den Fingern hineindrückte. Meist war es noch warm vom Backofen. Im Vergleich zu dem Vierpfünder war es federleicht und wurde von mir auf beiden Unterarmen liegend vor der Brust getragen. Der frische Backduft gemischt mit dem der süßen verführerischen Rosinen zog in meine Nase. In solchen Augenblicken schien mir der kommende Sonntag unerreichbar weit. Die Bäckerin bemaß das Papier für das Brot recht knapp, sodass es oben schnell auseinander stand und ich nicht nur die dunkle Kruste sondern auch einzelne schwarz gebackene Rosinen an der Oberfläche verlockend vor mir sah. Meine Schritte wurden langsamer. Das Brot lag dann auf meinem linken Unterarm und der weit geöffneten Hand. Vorsichtig befreite sich meine rechte Hand und glitt über das Brot. Wie von selbst blieb auch eine Oberflächenrosine daran hängen und verschwand schnell in meinem Mund. Bei den lockeren hinterließ das auf dem Brot keine Spuren. Es gab aber auch Rosinen, die sich wehrten, und dann blieb ein kleiner Krater zurück, aus dem das helle Innere als Punkt in der schwarzen Kruste schimmerte.

Der strenge Blick meiner Mutter veranlasste mich, sofort plausible Erklärungen anzubieten. „Die sind wohl beim Einpacken und Tragen abgefallen“, war einer solcher Versuche, die aber nicht wirklich überzeugen konnten. Ganz sicher wurde in diesen Tagen die Grundlage für strategisches Denken gelegt. Nach einiger Zeit war mir klar, dass Rosinen pulen an der Oberseite zu offensichtliche Übergriffe waren, die zu kurzfristigen Problemen führten. Also entwickelte ich eine Bohrtechnik an der Unterseite. Mein kleiner Zeigefinger der rechten Hand war dort meist schon mit der ersten Fingergliedlänge fündig. Die Fingerkuppe hatte eine ausgeprägte Sensorik für das Auffinden von weichen Rosinen entwickelt. Ebenso ausgefeilt war im Laufe Zeit die Fördertechnik. Bereitwillig stellte ich zu Hause das Rosinenbrot auf das Kuchenbrett aus dem Küchenschrank und schloss den Brotkasten. Die kleinen Eingriffe blieben beim sonntäglichen Aufschneiden meist unentdeckt. Ein gelegentlich strenger Blick meiner Mutter traf mich dennoch. Doch wir schwiegen beide. Das ist eine gute Erinnerung, und ich bin ihr noch immer dankbar dafür.

Weg zum Garten

Es ist immer ein schönes Erlebnis, wenn ich aus den unterschiedlichsten Gründen wieder einmal einen Tag in Marburg verbringe. Ich suche dann das Haus meiner Kindheit und Jugend in meiner Straße in meinem Zwischenhausen auf. Heute beherbergt es zahlreiche Studenten-WG. Wo im Erdgeschoss einmal eine Schuhmacherwerksatt war hat heute ein junger Rechtsanwalt sein Büro; vorher konnte man Kunstgewerbe einkaufen und wer weiß, was es dort in einigen Jahren geben wird. Es ist schön, dass mein Haus die Jahrhunderte bis heute überdauerte wie so viele schöne Fachwerkhäuser in Marburg. Sie geben der Stadt ihr bauliches Leben und wirken sicher auch auf die Menschen zurück. Die Straßennamen waren damals auch die unsrigen. Wir waren die „Zwischenhäuser“ und die von neben an, die waren die „Ketzerbächer“. Gemeinsam hatten wir die Elisabethkirche.

Einem erstaunten Zimmermann, der an „meinem“ Haus Renovierungsarbeiten ausführte, erzählte ich, dass es gleich nebenan einmal eine Tankstelle gab. Die BP-Zapfsäule wurde mit einer Handpumpe betrieben. Sie war Teil der Garagenanlage, in der in einer relativ großen Anlage DKW, Opel, VW, Borgward und wer weiß noch welche schönen alten Marken standen. Wir Jungens schnupperten dort gerne die Luft von Benzin und Öl und fuhren unsere kleinen Spielautos auf dem Betonsockel der Tanksäule zum Tankstop. Auf dem Hof wurde Federball und Fußball und auch einmal Hickelhäuschen gespielt bis der Klempner, dem die Anlage gehörte, uns verscheuchte. Doch meist waren wir geduldet. Alle Familien hatten ja zu dieser Zeit Kinder, deren gemeinsames Zuhause die Straße war.

Von diesem Haus aus zogen sich unsere Pfade in die Stadt, die ich und meine Freunde austrampelten. Sie wurden zu Lebenslinien, die auch jetzt noch nach Jahrzehnten lebendig zu sein scheinen. Da mischt sich wehmütige Erinnerung mit lebendiger Begegnung zum Heute.

Ein solcher Weg wurde regelmäßig, im Sommer oft sogar täglich gelaufen, gerannt, gebummelt. Er führte zu unserem Garten, den meine Eltern schon vor dem Krieg am Weinberg unter dem Rhenania-Verbindungshaus eingerichtet hatten. Der Berg, auf dem es schon damals natürlich keinen Weinbau mehr gab, ist in vielen Terrassen angelegt. Vielleicht gab es früher einmal solche Versuche Wein anzubauen. Doch ganz bestimmt war es der sonnigste Berg, den ich mir vorstellen konnte. Gemüse, Obst, Beeren und auch Kaninchen wuchsen dort gemeinsam mit mir auf. In einer kleinen Gartenhütte neben den Kaninchenställen stand ein kleiner Kohleherd, auf dem unsere Mutter im Sommer das Essen kochte, wenn wir Kinder sofort nach der Schule in den Garten kamen.

Dieser Garten hatte wie viele in Marburg in der Kriegs- und Nachkriegszeit auch zum Überleben in der Stadt beigetragen. Später dann war er Kinderparadies und Lerninsel. Indianerspiele mit Freunden, erste kleine Lagerfeuer, die erste selbst gebastelte Pfeife mit trockenen Eichenblättern, die erste Zigarette und (nicht weiter sagen) die erste Weinflasche aus Papas Keller.

Auf dem Weg dorthin ging es von Zwischenhausen durch eine Gasse hinüber zur Ketzerbach. Links der Gasse befand sich eine Schreinerwerkstatt. Mit geschlossenen Augen hätte man sie am Holzgeruch erkennen können. Rechts auf der Ecke ein Kurzwarengeschäft, in dem die Mutter eines Schulfreundes, Strick- und Stickzeug, Knöpfe, Reisverschlüsse und was auch immer verkaufte. Am Ende der Gasse befand sich ein ganz besonders Lebensmittelgeschäft. Ich wurde dort regelmäßig zum Milch holen hingeschickt. Die wurde aber nicht einfach nur geholt sondern dort wurde Milch getankt. Mit einer blechernen Milchkanne, die von einem einzusteckenden Deckel verschlossen war, wanderte ich gerne. Man konnte auf ihr während des Weges trommeln, mit einem Stock sogar richtig laut. Über die Treppen zur Ladentür nach oben gestiegen stand ich dann vor der Theke. Meine Milchkanne wurde aus einer Schwengelpumpe gefüllt, wie bei den Autos – toll! Da lernte ich, wie viel ein halber, ein ganzer, eineinhalb und auch gelegentlich zwei Liter sind. Am liebsten allerdings holte ich einen Liter. Der war nicht so schwer, und ich konnte in der Gasse mein kleines Spielchen spielen. Heute würde man sagen, ich machte erste Erfahrungen mit der Zentrifugal- und Schwerkraft. „Milchkannenschleudern“ war die Sportart, die da auch gerne unter der Beobachtung von immer irgendwo anwesenden Spielkameraden und Spielkameradinnen ausgeübt wurde. Am ausgestreckten Arm die Kanne in einem Kreis so rund schleudern, dass die Milch drinnen blieb. Das verlangte Übung und Mut. Da kam es auch schon einmal vor, dass die Schwerkraft siegte, und dann gab es natürlich anschließend Hiebe.

Über die Ketzerbach hinweg, so lautet der Straßenname noch heute, führte mein Weg zum Garten weiter. Die Ketzerbach war damals noch eine wunderbare breite Baumallee. Zwischen den Häusern und den zwei Baumreihen verliefen beiderseits die Fahrbahnen und zwischen den Bäumen befand sich ein breiter lang gezogener Platz. Unter ihm floss die verrohrte Bach, wie man den Ketzerbach auch nannte. Jede Woche versorgte uns dort ein großer Wochenmarkt mit allen möglichen Lebensmitteln. Die Stände waren bekannt wie die Geschäfte im Viertel und jeder hatte so seine Spezialitäten, meistens auch billiger als sonst in den Geschäften. Für uns Kleinen allerdings war er mehr ein willkommener Tag, um zwischen den Ständen und den vielen großen Leuten Verstecken zu spielen und auch mal einen Apfel oder sonstiges zu ergattern. Nein, nein – nicht geklaut. Wenn wir allzu genau auf die Kisten schauten, dann bekamen wir schon mal etwas, und das schmeckte dann irgendwie anders als sonst - gut eben!

Gegenüber, neben dem Verwaltungsgebäude der EAM, gab es ein Zoogeschäft und, was noch wichtiger war, eine Metzgerei. Obwohl wir ein paar Häuser weiter vorne am Anfang Zwischenhausens eine Metzgerei hatten, die es ja auch heute noch gibt, wurde ich immer zu der auf der Ketzerbach geschickt. Mit der geliebten Milchkanne sollte ich dort am Schlachttag Wurstsuppe holen. Nicht vorne im Laden. Nein, ich ging dann vorbei an der Eckkneipe „Zur Lokomotive“ hinten in eine Gasse, die auch zu unserem Gartenweg gehörte. Durch die Hintertüre erhielt ich dann vom Metzger mit gestreifter Kleidung und weißer Kunststoffschürze die Kanne gefüllt. Die Suppe war noch heiß und die Kanne voll bis oben hin - kostenlos! Da war nichts mit Schleudern. Irgendwie war mir das klar, denn mit diesem Inhalt habe ich es nie versucht. Aber es gab auch ein kleines Stückchen Fleischwurst, und das war die eigentliche Attraktion. Der Weg zurück war länger als vom Milchgeschäft, und ich musste ganz schön schleppen.

Wenn ich auf dem Rückweg die Ketzerbach schon am Anfang überquerte, dann ging ich auf das Amerikahaus zu, in dem heute noch die Stadtbücherei untergebracht ist. Damals fand man im Amerikahaus eine große Bücherei und im Erdgeschoss wurden sogar Filme gezeigt. Nachdem ich Lesen konnte war die deutsch-amerikanische Bücherei einer meiner liebsten Aufenthaltsorte. Fernseher gab es in unseren Kreisen keinen, und wenn, dann war es schwarzweiß mit einem Programm. So waren die Amerikahaus-Filme ein Erlebnis. Raumfahrt, Geschichte, Physik aber auch schon mal ein Western oder ein schwarz-weiß Nachkriegsfilm, der heute zu den Klassikern zählt, konnten ohne Eintrittsgeld bestaunt werden. Während der Vorführung hörte man im mit Sperrholzplatten abgetrennten Vorführraum die Filmmaschine rattern. Doch die Bücherei war täglich verfügbar. Soweit die kurzen Arme an den vielen, vielen Regalen nach oben reichten konnte man schmökern und ausleihen. Ich schleppte manchmal eine ganze Tasche mit 4 oder auch 5 Büchern heim. Es war ja nur um die Ecke. Und in der Bücherei selbst, da war es ganz spannend, bei den „Erwachsenen-Büchern“ nach einem Ernest Hemingway zu greifen. Der hatte da manchmal so erotische Stellen in seinen Romanen, die ich gerade in der Pubertät unbedingt kennen musste. Ausleihen ging nicht, also wurde immer mal ein Kapitelchen in der Ecke gelesen. Und die Bibliothekarinnen ließen mich das auch, was mich heute noch erstaunt.

Aber auf dem Weg zum Garten, da ging es hinter der Metzgerei weiter bergauf. Ein paar Treppen, danach ein steiler Anstieg und dann traf man auf den ersten Querweg. Rechts oben stand hinter Bäumen wie in einem Park das Verbindungshaus von Hasso Borussia. Ich musste links weiter. Der Weg war zwischen den Gärten nach oben und unten so schmal, dass ich zur Seite treten musste, hatte ich einmal Gegenverkehr. Links schaute man auf die Hinterhäuserfront der Ketzerbach und rechts kamen nach ein paar Metern ein großes Backsteinfachwerkhaus und dann nur noch Gärten, solche wie der unsrige eben. Doch nur bei uns standen tolle Hütten mit Kaninchenställen, einem Hühnerhaus und auch einem Heuhaus. Es gab eine Wasserleitung mit zwei Zapfstellen auf den Hauptetagen. Unter einer stand eine alte Zinkbadewanne. Aber unser Garten, das wäre wieder eine neue Geschichte. Der Weg dorthin war eine meiner wichtigen Lebenslinien, mit allem was sich auf ihm und daneben abspielte. Wie wichtig dieser Weg wirklich war, das sehe ich erst heute viele Jahrzehnte später.

Elisabethkirche – Post - Bahnhof

Gartenlaube, vorne am Eingang zu Zwischenhausen. Ich sitze hier bei meinem Kaffee und denke zurück an die Fußballweltmeisterschaft 1954. Da jubelten wir hier im ersten Stock. Fritz Walter und Sepp Herberger, das waren die Namen, die alle in Begeisterung versetzten. Und ich bekam das Buch „11 rote Jäger“ geschenkt, in dem der Wiederaufbau der deutschen Nationalmannschaft nach dem Krieg beschrieben wurde. An der Wand oben auf einem Regal stand ein damals brandneuer Fernseher mit in den Ecken gerundetem Bildschirm, schwarz-weiß das Bild, sehr grob aber ein Wunder der Technik zur damaligen Zeit.

Und die Gartenlaube, die hieß damals noch „Kaffee Menz“. Und Fußball ist noch immer ein Thema in dieser völlig neu gestalteten Gaststätte. „Gladenbach spielt ganz gut Fußball“, lässt ein Gast aus der Zeitung aufschauend laut hören. Trotz der frühen Morgenstunde ist hier Betrieb. Letzte Reste des vorangegangenen Abends werden aufgewaschen, Torten und Kuchen herein getragen, Handytelefonate geführte und das neueste Angebot von Supermärkten besprochen. Familiäre Atmosphäre, fast eine Eckkneipe, wenn nicht das Ambiente von einem höheren Niveau wäre und mehr verspricht. Vielleicht aber ist es auch nur der Kontrast zu der früheren Einrichtung, die ich noch im Kopf habe. Es ist immerhin mehr als 50 Jahre her, dass ich hier als kleiner Steppke zwischen den Großen des Viertels nur geduldet war. Ein Sinalco, war das größte was mir hier geschehen konnte. Eine Limonade, deren Namen sich sinnigerweise aus „sine alcohol“ zusammensetzte, also „ohne Alkohol“.

Damals wurde ich oft die paar Meter ans Eck geschickt, um dem Papa eine Flasche Bier zum Abendbrot zu holen. Heute kann ich es gestehen, dass ich das Leergut manchmal heimlich zurückbrachte. Mit 5 Flaschen zu 20 Pfennig hatte ich dann das Eintrittsgeld zusammen, was notwendig war, um in der Bahnhofstraße ins Roxi zu gehen. Das war so ein Revolverkino, wie es meine Eltern nannten. Dort liefen Western am laufenden Band. Das heißt, man konnte so lange drin sitzen bleiben, bis man genug hatte. Zwischen den Vorstellungen ging nur kurz das Licht an, und schon ging es weiter. Manchmal wurde da schon ein ganzer Sonntagnachmittag verbracht. Auf dem Heimweg an der Hauptpost vorbei durch die Elisabethstraße war dann mein Gang deutlich verändert. Die Arme hingen locker zur Seite, die Hände offen neben den Hüften, jederzeit bereit, die Colts zu ziehen.

Aber natürlich musste ich nicht nur Bier für den Vater holen, sondern auch Wasser für die Mutter. Und das lag auf meinem Weg zum Roxi. Am Ende Elisabethstraße, da wo der Wehrdaer Weg anfängt, lag und liegt in einem kleinen Gebäude gefasst die Elisabethquelle. Mit der schon an anderer Stelle beschriebenen Zwei-Liter-Blechkanne holte ich dort zu besonderen Anlässen, meist sonntags, Wasser. Das Quellwasser sollte angeblich besonders gut sein, wenn einmal zur Feier des Tages Bohnenkaffee gebrüht wurde. Das Leitungswasser sei dafür wohl nicht gut genug, weil gechlort oder so, also dackelte ich zur Elisabethquelle, damit die großen Leute und der Besuch einen guten Kaffee bekamen. Ich hingegen freute mich auf meinen Kakao und ein gutes Stück Rührkuchen. Manchmal war es auch ein so genannter Obstboden, darauf meistens Beere aus unserem Garten.

Auf dem „Wasserweg“ kam ich auch am Europäischen Hof vorbei, der bei uns der „Europäer“ hieß. Dahinter soll sich mal ein Luftschutzkeller für das Viertel befunden haben, der in den Berg hineingebaut worden war. Ich habe ihn nie kennen gelernt. Kurz vor meiner Geburt war der Krieg zu Ende. Ein Jahr vor meiner Geburt kam mein Vater aus der russischen Kriegsgefangenschaft nach Hause. Und in die Niedergeschlagenheit der Nachkriegszeit wurde ich als Hoffnungsträger geboren, ob nun gewollt oder nicht, das kann dahin gestellt bleiben. Aber ich wurde doch in eine neue Zeit hineingeboren, in der auch für meine Eltern neue Hoffnung wuchs. Und das habe ich auch irgendwie gespürt. Trotzdem, wenn einmal vom Krieg gesprochen wurde, dann von den schrecklichen Erlebnissen an der Front und dem russischen Arzt, der meinem Vater das Leben rettete. Mein Vater zeigte ihm die Bilder seiner Familie, und der Arzt zeigte ihm die seinen. Sie verstanden sich ohne Worte. Und mein zum Skelett abgemagerter Vater bekam eine Bescheinigung, dass er an der Ruhr erkrank sei. Und so wurde er ganz schnell nach Westen weitergeschickt. Man hatte wohl Angst vor Ansteckung, vermuteten wir. Am Marburger Hauptbahnhof nahm ihn meine Mutter in Empfang. Er soll so ausgesehen haben, dass sie ihn zunächst nicht erkannte. Bis auf die Tatsache, dass in unser Haus einmal eine Brandbombe durchs Dach geschlagen war und in einem Mehlsack aufgefangen wurde, ohne dass sie explodierte, sind alle verschont geblieben. Doch in der Nachbarschaft ist so mancher Vater und Sohn nicht zurückgekehrt. Das Leben aber ging weiter, und eine neue Zeit hatte begonnen. Meine pazifistische Grundhaltung wurde aber aus den Erzählungen heraus geprägt. Wie unsere Zeit unsere Kinder geprägt hat, das bleibt noch abzuwarten. Das Gefühl für die elementaren Bedürfnisse jedenfalls scheint unsere Generation nicht weitergegeben zu haben. Die Ellenbogen- und Konsumgesellschaft ist sicher die andere Seite des so genannten Wirtschaftswunders. Trotzdem kommt heute an den sozialen Rändern der Gesellschaft wieder eine Erfahrung auf, die andere Fragen stellt und auf neue Antworten wartet. Und unser Blick in die Welt vermittelt uns heute an anderen Orten das teuflische Gesicht des Krieges und der Ausbeutung. Aber es reicht wohl nicht in die unmittelbare Erfahrung der Familien hinein. Ich wünschte mir mehr unmittelbare Kontakte zu Kriegsfamilien. Bei den Asylbewerberfamilien könnten wir sie gewinnen, doch wer will das schon wirklich?

Einen Spielplatz gab es in unserem Viertel nicht. Die Straße war unser Spielplatz. Ein Bereich aber war ein ganz besonderer: die Elisabethkirche. Um sie herum hatten wir Platz zum Fußballspielen. Zwischen den dicken Eckpfeilern waren die Tore, und auf der angrenzenden Sand- und Wiesenfläche war das Spielfeld. Da wurde um das große Steinkruzifix herumgerannt. Wenn der Ball in die Büsche zur Straße verschwand, dann war er im Aus. Das Tor galt für beide Mannschaften. Der Torwart war meist nicht parteiisch und hielt für beide. In stilleren Stunden wurde auch mit Klickern (Murmeln) gespielt. Da gab es die Toner und die Glaser. Die höheren Semester mit Taschengeld spielten mit Groschen und Fünfern auch Ditschen an den Sandsteinwänden der Elisabethkirche. Leser aus dieser Zeit kennen die Regeln. Andere sollten sich danach erkundigen. Im Innern der Kirche hatten wir unseren Kindergottesdienst und später belegten wir die Bänke der Konfirmanden. Diese Zeit müsste sicher ein ganz eigenes Kapitel bilden.

Und natürlich darf das Hauptpostamt nicht vergessen werden. Mein Vater war bereits in der Vorkriegszeit als Briefträger im Postdienst. Während des Krieges übte meine Mutter so nebenbei diesen Beruf auch aus. Die Frauen mussten während des Krieges an vielen Stellen die Plätze der Männer einnehmen, und sie waren stolz darauf. Und auch noch zu meiner Zeit erlebte ich die Postler, wie sie sich nannten, als eine große Familie. So wurde es jede Woche zum Erlebnis in den Keller des Postamtes zum Duschen zu gehen. Dunkelweiße Kachelbäder mit großem Duschteller und zwei sternförmigen Hähnen, davor in einer Wandnische eine Holzbank und ein paar Kleiderhaken. Zuhause hätte der Kohlebadeofen angeheizt werden müssen, hier war es umsonst. Ohne besonderen Aufwand gab es heißes Wasser. Der Heizungskeller der Post bestand aus 3 oder waren es vielleicht auch 4 großen Heizkesseln, die mit Koks beschickt wurden. Auch hier hinein durfte ich. Und dann gab es im Keller noch eine eigene Schreinerwerkstatt. Viele Einrichtungen des Amtes waren aus Holz, wurden dort repariert oder selbst hergestellt. Eine ganz besondere Attraktion war die Postkantine, die gleich über den Posthof hinweg mit einer Küche ein eigenes Gebäude hatte. Da durfte ich auch mal eine Erbsensuppe oder auch Würstchen mit Salat bestellen. Zu besonderen Anlässen gab es ein ganz tolles Wiener Schnitzel. Oben im Postgebäude wurden in einem großen Saal die Briefe von Hand sortiert. Das ging so rasend schnell, dass ich glaubte, die Sortierer mussten die Adressen überhaupt nicht mehr lesen. Überhaupt war das Postamt etwas ganz spannendes. Ich durfte da überall hineinschauen. Heute braucht man da ein Praktikum. Da war ein Kommen und Gehen von großen gelben Postautos und ein reger Verkehr zwischen Bahnhof und Postamt

Ganz am Ende der Bahnhofstraße hatte die Post im Hauptbahnhof auch eigene Räume und Elektrowagen mit vielen Anhängern, die die Postsäcke auf die Bahnsteige brachten. Von dort aus wurden sie in die speziellen Postwagons verladen, von denen jeder Zug einen mitführte. Und da dampften und zischten die Dampflokomotiven. Am liebsten standen wir oben auf dem Eisernen Steg, der über die Gleise zum Ortenberg führte. Wenn die Loks anfuhren und darunter hindurch, dann standen wir im weißen Dampf und stanken nachher entsprechend danach. Aber es war ein kleines Abenteuer. Vom Steg aus konnte man den ganzen Bahnbetrieb überblicken am Stellwerk vorbei bis hinten zum Lokschuppen und der Drehscheibe. Sie verteilte die andampfenden Loks in die einzelnen Stellplätze des Schuppens, der aussah wie ein Fächer. Und natürlich waren wir alle irgendwann einmal fest entschlossen, solche Ungetüme selber zu fahren. Zum engen Lahntal gehörten eben auch die täglichen Dampfwolken der Lokomotiven, und es war ja damals noch eine Hauptstrecke. Dampf und das Pfeifen der Lokomotiven vor den ratternden Zügen gehörten als lebendige Technik mit zum Marburger Stadtbild.

So eine lebendige Technik war auch der kleine Motorkahn, die Elisabeth. Sie startete gleich hin dem Universitätsbad am Wehrdaer Weg und tuckerte mit ihrem alten Diesel in Richtung Wehrda, um dort an der Gaststätte „Lahngarten“ halt zu machen. An ganz besonderen Sonntagen fuhren wir dorthin, es gab ein Wurstbrot, eine Limonade und Gartenmöbel mit eisernen Beinen auf Kies. Heute würde man den einen Biergarten nennen. Für uns Kinder war es eine wunderbare Schiffsreise über die Lahn unter den schon damals hohen Bäumen hindurch. Und die Wurstbrote schmeckten dort mindestens so gut wie auf dem Sellhof; doch das wäre dann wieder ein anderer Weg durch Marburg.

Eisenbahnfahrt nach Köln

Die Luft flirrte über dem Korn. Es war irgendwann im Sommer. Ein heißer Tag war es und ein Ferientag. In diesem Jahr hatte ich zum ersten Mal Ferien bekommen. Ich konnte gerade so über das Kornfeld schauen, das zum Feldweg hin mit blauen Kornblumen und rotem Mohn, überwiegend aber mit Kamillesträuchern eingefasst war. Gelegentlich riss ich einen Kornhalm ab, band einen Knoten herein und wirbelte damit durch die Luft. Dann riss ich die Ähre ab, steckte sie in die Tasche der kurzen Lederhose und warf den Halm auf die andere Seite des Weges. In der Mitte des Weges wuchs Gras. Ich ging in einer der ausgefahrenen Spuren in Richtung des Dorfes, das man Aldenhoven nannte, und in dem seit ein paar Jahren meine älteste Schwester wohnte.

Sie hatte geheiratet und war mit ihrem Mann von Marburg ins Ruhrgebiet gezogen, weil er dort als Bergmann Arbeit fand. Man hatte mir gesagt, dass Aachen nicht weit sei, und von Köln aus waren es vielleicht zwei Stunden mit der Eisenbahn. Wir mussten in Düren umsteigen. Meine Schwester hatte mich im Kölner Hauptbahnhof abgeholt. Bis dahin war ich von Marburg alleine in einem durchgehenden Eilzug gefahren. Er wurde von einer Dampflokomotive gezogen. Damals gab es nur Dampflokomotiven, denn es war kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Ein Eilzug hielt nicht überall, doch auf der Strecke zwischen Marburg und Köln oft genug, dass ich an jeder Haltestelle das Fenster in meinem Abteil öffnete. Dazu nahm ich den langen Lederriemen, der unter dem Fenster befestigt war und zog ihn etwas nach unten und dann zu mir hin, damit ich ihn aus dem Stift lösen konnte, an dem er durch ein Loch hing. Durch sein Gewicht sank das Fenster nach unten, und ich führte langsam den Lederriemen nach, der vor dem Fenster in der Wagonwandung verschwand.

Um meinen Kopf herausstrecken zu können, stieg ich auf die Heizung, über der noch ein Aschenbecher befestigt war. Dann konnte ich mich an den Griffen am oberen Fensterrand festhalten und hinaus auf den Bahnsteig schauen. Vorne dampfte und zischte die Lok, und auch zwischen den Wagen kam an verschiedenen Stellen der Dampf heraus. Es roch nach Eisenbahn, und die Wagons waren außen schmutzig. Der Schaffner stand neben dem Zug, hielt seine Kelle hoch und steckte die Pfeife in den Mund. Kaum war der schrille Pfeifton erschallt, schnaufte vorne die Lok, Dampfwolken stiegen empor, und ein Ruck ging durch den Zug. Der Schaffner stand noch einen Moment auf dem Trittbrett vor der Waggontüre und verschwand dann nach innen. Hinter sich zog er mit lautem Krachen die Türe zu. Ich sprang von der Heizung und zog mit beiden Händen und allen Kräften am Lederriemen. Das Fenster kam langsam nach oben. Es war nicht ganz leicht, den Riemen wieder mit einem der Löcher in den Haltehaken unter dem Fenster einzudrücken. Das musste ich mehrmals wiederholen, bis dann das Fenster wieder ganz oben war. Es sollte auch schnell gehen, denn eigentlich durfte ich es nicht.

Mein Vater hatte mich am Morgen in Marburg dem Schaffner übergeben und gesagt, dass ich in Köln von meiner Schwester am Zug abgeholt würde. Der Schaffner versprach auf mich aufzupassen, und ich versprach auf meinem Platz im Abteil brav sitzenzubleiben und nicht im Zug herumzulaufen, kein Fenster zu öffnen und auf meinen Koffer aufzupassen. Der braune Koffer mit runden aufgesetzten Lederecken lag oben über den Sitzen in der Gepäckablage. Auf jeder Seite des Abteils waren drei Sitzplätze. In Eilzügen war das Abteil zum Gang mit einer Schiebetüre abgetrennt. Die Sitze waren mit rötlichem Kunststoff bespannt.

Auf dem Weg zur Toilette kam ich an einem Erste-Klasse-Abteil vorüber. Dort waren die Sitze mit Stoff bezogen und auf den Kopfstützen mit einem weißen Tuch, in dessen Mitte das rote DB-Emblem leuchtete. Auch wenn ich nicht zur Toilette musste, ging ich zwischendurch dort hin. Wenn ich den Deckel anhob, dann konnte ich unten auf die Bahnschwellen und den Schotter schauen. Wenn ich ins Klo pinkelte, dann spritzte es unten nach hinten weg, und es kam von unten ein kalter Wind. Neben dem Klobecken trat man auf einen langen Hebel für die Wasserspülung. Die ging aber nur, wenn der Deckel geschlossen war. Das alles fand ich aber erst nach vielen Versuchen heraus. Deshalb war es gut, dass ich auch zur Toilette ging, ohne dass ich musste.

Auf der Strecke zwischen Marburg und Köln gab es viele Tunnels. Bevor der Zug durch einen fuhr, ging das Licht an. Kurz vor jedem Tunnel pfiff die Dampflok. Sie pfiff auch bei jedem Weg, der die Schienen kreuzte. Im Tunnel zogen die weißen Dampfwolken zwischen den Wagons und der Tunnelwand nach hinten. Das Licht aus den Abteilen beleuchtete die Steine der Tunnelwand. Es stank im Abteil, auch wenn das Fenster geschlossen war. Besonders laut war in den Tunnels das Rattern der Eisenräder auf den Schienen zu hören. Zwischen den Tunnels sauste draußen die Landschaft vorbei, direkt am Bahndamm neben den Gleisen auch die Telegrafenmasten. Manchmal drehten die Kühe auf einer Weide ihre Köpfe, und ein paar Autos standen an einer Schranke. Den Berg hinauf wurde der Zug immer etwas langsamer. Das hörte ich am Takt der ratternden Räder, und der Dampf wurde schmutzig.

Meine Schwester stand am Bahnsteig und ich am geöffneten Fenster auf der Heizung, als der Zug in den Kölner Hauptbahnhof einfuhr. Ich hatte den großen Dom kommen sehen und dann meine Schwester, die winkte. Sie kam ins Abteil, drückte und küsste mich. Ich drückte und küsste zurück, und sie nahm den Koffer von der Gepäckablage. Wir gingen hinaus auf den Domplatz und später an den Rhein. Der Zug nach Düren fuhr erst in einer Stunde. Der Dom schien mir zehnmal so groß wie unsere Kirche zu Hause, und die fand ich bis dahin als das Größte, was es geben konnte. Der Zug nach Düren hatte keine Abteile sondern Holzbänke, und auch die Dampflok war kleiner. Irgendwo gab es da auch noch einen Ort, der Jülich hieß. Nach Aldenhoven fuhren wir mit einem roten Triebwagen, der aussah wie ein Bus auf Schienen. Vom Bahnhof in Aldenhoven liefen wir zur Bergarbeitersiedlung, in der meine Schwester und ihr Mann eine kleine Wohnung hatten. Meine Schwester trug den Koffer und ich den Lutscher, den sie mir am Kiosk gekauft hatte. Ich sollte im Wohnzimmer auf dem Sofa schlafen. Vor dem Haus stand ein Apfelbaum. Vor den anderen Miethäusern, die alle neben dem Erdgeschoss noch ein Obergeschoss hatten, standen auch Apfelbäume. Hinter den Häusern gab es eine lange Reihe von kleinen Schuppen, in denen ich später Hunde, Hühner und Kaninchen traf.

Jetzt war ich schon gleich am Ortsrand von Aldenhoven angekommen. Neben dem Weg waren jetzt Wiesen mit Bäumen. Es war heiß, und die Luft flirrte.

Hier enden zunächst die Marburger Erinnerungen.

http://www.falk-dautphetal.eu

Bürgerreporter:in:

Gerhard Falk aus Dautphetal

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