Dem Volk auf den Mund geschaut...

Herr Georg Wenker, geboren am 25. Februar 1852 in Düsseldorf, verstorben am 17. Juli 1911 in Marburg/Lahn (Quelle: Wikipedia)
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  • Herr Georg Wenker, geboren am 25. Februar 1852 in Düsseldorf, verstorben am 17. Juli 1911 in Marburg/Lahn (Quelle: Wikipedia)
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Dem Sprachwissenschaftler Georg Wenker ist es mit seinen 40 Wenkersätzen erstmals gelungen, die Dialekte in Deutschland einzuteilen. Seine Arbeiten befinden sich im Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas an der Philipps-Universität in Marburg/Lahn.

…hat im wahrsten Sinne des Wortes der Sprachwissenschaftler Georg Wenker. Der am 25. Februar 1852 in Düsseldorf geborene Sprachwissenschaftler hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Dialektmerkmale im ehemaligen deutschen Reich zu erforschen. Im Jahre 1876 startete Herr Wenker die Untersuchung in der Umgebung seiner Heimatstadt Düsseldorf, um sie später auf ganz Westfalen und auf Anraten der „Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften“ auf ganz Nord- und Mitteldeutschland auszudehnen. Herr Wenker entwickelte einen Fragebogen mit 40 Sätzen auf Hochdeutsch, den er von 1879 bis 1887 an alle 50.000 Dorfschulen des damaligen deutschen Reiches versandte. Die Aufgabe der Lehrer bestand darin, die vorformulierten Sätze in Zusammenarbeit mit den Schülerinnen und Schülern in den jeweiligen Ortsdialekt zu übersetzen. Eine unvorstellbare Quote von 99 % der versandten „Wenkerbögen“ fanden den Weg zurück nach Marburg in den Deutschen Sprachatlas. Durch die erhobenen Daten war es Herrn Wenker und seinen Nachfolgern erstmals gelungen, die Dialekte in Deutschland einzuteilen. Weiterhin wurden 1.668 handgezeichnete Karten erstellt, die heute im digitalen Wenker-Atlas zu finden sind.

Im Winter 1879/1880 erreichte der Wenkerbogen auch die Schule meines Geburtsortes Lanzingen. Er trägt die Nummer 27456 und wurde an den damaligen Lehrer H. Brunner adressiert. Lehrer Brunner wurde am 18. Juli 1856 in Felsberg (Reg. Bez. Kassel) geboren und hat die 40 vorformulierten Wenkersätze mit den Schülerinnen und Schülern von Lanzingen in den ortsüblichen Dialekt jener Zeit übersetzt. Auf der ersten Seite des Wenkerbogens waren bereits die Ziffern 1. bis 40. vorgedruckt, so dass in dem freien Raum dahinter handschriftlich die übersetzten Sätze eingetragen wurden. Die Sätze waren so ausgewählt, dass Besonderheiten des Dialekts recht schnell deutlich werden, wie z. Bsp.:

a) Worte wie gut, geben, groß, graben, glauben, glücklich werden in der Mundart von Lanzingen ausgesprochen wie ein leises k

b) Worte wie Stall, stellen, sprechen, Spiel werden in der Mundart von Lanzingen ausgesprochen wie Schtall, schtellen, schprechen, Schpiel

Auch der unter Ziffer 26 vorformulierte Satz

„Hinter unserm Hause stehen drei schöne Apfelbäumchen mit rothen Aepfelchen“

war für die Forschung von Herrn Wenker besonders wichtig. Handschriftlich hat Herr Lehrer Brunner den Satz im Dialekt von Lanzingen wie folgt eingetragen:

„Hinnicht unserm Haus steh 3 schene Aebbelsbemche met rothe Aebbelchen.“

Mit Hilfe dieser Eintragung konnte Herr Wenker feststellen, dass die zweite Lautverschiebung im Dialekt von Lanzingen nicht stattgefunden hat, da im Dialekt noch nicht „Apfel“ gesprochen wurde.

Für die anderen Orte der Gemeinde Biebergemünd liegen ebenfalls Wenkerbogen unter den Nummern

27299 – Bieber, 27457 – Breitenborn, 27309 – Gassen, 27453 – Kassel, 27298 – Rossbach und 27452 – Wirtheim

in Marburg vor. Der ehemalige Vizepräsident der Philipps-Universität Marburg, Sprachwissenschaftler und Dialektforscher, Herr Heinrich J. Dingeldein, hat in einem Referat einmal betont: „…die Dialekte, wie wir sie heute kennen, sind erst nach dem 30-jährigen Krieg entstanden. …“ (Quelle: Artikel der Oberhessischen Presse)

Noch bevor Herr Wenker seine Arbeit vollendet hatte verstarb er am 17. Juli 1911 in Marburg. Seine Arbeiten befinden sich im Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas an der Philipps-Universität in Marburg/Lahn.

Unsere Sprache wird sich auf Grund der Veränderungen der
Lebensbedingungen und der Arbeitswelt auch in Zukunft wandeln. Durch diese Veränderungen hat das Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas sicher auch weiterhin ein interessantes Betätigungsfeld !

4.3 Die 40 Sätze Nord- und Mitteldeutschlands sowie der späteren Erhebung Süddeutschlands
1. Im Winter fliegen die trocknen Blätter durch die Luft herum.
2. Es hört gleich auf zu schneien, dann wird das Wetter wieder besser.
3. Thu Kohlen in den Ofen, daß die Milch bald an zu kochen fängt.
4. Der gute alte Mann ist mit dem Pferde durch´s Eis gebrochen und in das kalte Wasser gefallen.
5. Er ist vor vier oder sechs Wochen gestorben.
6. Das Feuer war zu stark/heiß, die Kuchen sind ja unten ganz schwarz gebrannt.
7. Er ißt die Eier immer ohne Salz und Pfeffer.
8. Die Füße thun mir sehr weh, ich glaube, ich habe sie durchgelaufen.
9. Ich bin bei der Frau gewesen und habe es ihr gesagt, und sie sagte, sie wollte es auch ihrer Tochter sagen.
10. Ich will es auch nicht mehr wieder thun!
11. Ich schlage Dich gleich mit dem Kochlöffel um die Ohren, Du Affe!
12. Wo gehst Du hin? Sollen wir mit Dir gehn?
13. Es sind schlechte Zeiten.
14. Mein liebes Kind, bleib hier unten stehn, die bösen Gänse beißen Dich todt.
15. Du hast heute am meisten gelernt und bist artig gewesen, Du darfst früher nach Hause gehn als die Andern.
16. Du bist noch nicht groß genug, um eine Flasche Wein auszutrinken, Du mußt erst noch ein Ende/etwas wachsen und größer werden.
17. Geh, sei so gut und sag Deiner Schwester, sie sollte die Kleider für eure Mutter fertig nähen und mit der Bürste rein machen.
18. Hättest Du ihn gekannt! dann wäre es anders gekommen, und es thäte besser um ihn stehen.
19. Wer hat mir meinen Korb mit Fleisch gestohlen?
20. Er that so, als hätten sie ihn zum dreschen bestellt; sie haben es aber selbst gethan.
21. Wem hat er die neue Geschichte erzählt?
22. Man muß laut schreien, sonst versteht er uns nicht.
23. Wir sind müde und haben Durst.
24. Als wir gestern Abend zurück kamen, da lagen die Andern schon zu Bett und waren fest am schlafen.
25. Der Schnee ist diese Nacht bei uns liegen geblieben, aber heute Morgen ist er geschmolzen.
26. Hinter unserm Hause stehen drei schöne Apfelbäumchen mit rothen Aepfelchen.
27. Könnt ihr nicht noch ein Augenblickchen auf uns warten, dann gehn wir mit euch.
28. Ihr dürft nicht solche Kindereien treiben!
29. Unsere Berge sind nicht sehr hoch, die euren sind viel höher.
30. Wieviel Pfund Wurst und wieviel Brod wollt ihr haben?
31. Ich verstehe euch nicht, ihr müßt ein bißchen lauter sprechen.
32. Habt ihr kein Stückchen weiße Seife für mich auf meinem Tische gefunden?
33. Sein Bruder will sich zwei schöne neue Häuser in eurem Garten bauen.
34. Das Wort kam ihm von Herzen!
35. Das war recht von ihnen!
36. Was sitzen da für Vögelchen oben auf dem Mäuerchen?
37. Die Bauern hatten fünf Ochsen und neun Kühe und zwölf Schäfchen vor das Dorf gebracht, die wollten sie verkaufen.
38. Die Leute sind heute alle draußen auf dem Felde und mähen/hauen.
39. Geh nur, der braune Hund thut Dir nichts.
40. Ich bin mit den Leuten da hinten über die Wiese ins Korn gefahren.

Auf diesem Wege danke ich Herrn Dr. Lars Vorberger (Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas, Pilgrimstein 16, Marburg/Lahn) für seine freundliche Unterstützung und die Bereitstellung der Unterlagen.

Bürgerreporter:in:

Hans-Christoph Nahrgang aus Kirchhain

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