Unwort des Jahres: Lügenpresse? Lügenpresse!

Marburg, Mitte Januar 2015

Lügenpresse? - Lügenpresse!

„Lügenpresse“ wurde zum Unwort des Jahres gekürt. Da war ich hin und her gerissen. Zunächst folgte ich den Argumenten von Stephan Hebel und Wolfgang Lieb auf den Nachdenkseiten. Beide mahnten einen sorgfältigen Gebrauch von Sprache an. Sie erinnerten daran, dass „Internationale Lügenpresse“ ein beliebtes Schlagwort nationalistischer Kriegstreiber rund um den ersten Weltkrieg war. Auch die Nationalsozialisten geiferten gegen die „rote Lügenpresse“.

Die Mahnung Stephan Hebels „Wer einen pauschalen und noch dazu historisch belasteten Kampfbegriff wie „Lügenpresse“ verwendet, begibt sich zum einen in schlechte Gesellschaft und begräbt zum anderen die dringend notwendige Mediendebatte unter einer unbrauchbaren Parole“ nahm ich ernst. Bis dahin tauchte das Wort „Lügenpresse“ in meinem Wortschatz in Gesprächen oder Diskussionsforen sowieso nicht auf.

"Lügenpresse" historisch belastet

Ich kritisierte lieber mit anderen Worten und Mitteln die Berichterstattung in den Leitmedien zum Beispiel zum Bürgerkrieg in der Ukraine oder zur ökonomischen Krise in der Welt und in Europa. Dabei gefiel mir sehr der Werbespruch der „Jungen Welt“, die mit dem Slogan wirbt: „Sie lügen wie gedruckt – Wir drucken wie sie lügen“. Es fiel mir daher nicht schwer, in Diskussionsforen die Titelvergabe an „Lügenpresse“ zu verteidigen.

Ein wenig nachdenklich wurde ich schon durch Albrecht Müllers Entgegnung auf Stephan Hebels Einlassung. Unter der Überschrift "Dass man auf die Wahl des Wortes „Lügenpresse“ zum Unwort des Jahres stolz sein kann, begreife ich nicht" skizzierte er die Wagenburgenmentalität vieler deutscher "Edelfedern", die sich mit ihren Arbeitgeber_innen, den großen Medienkonzernen, solidarisieren anstatt ihrem journalistischen Auftrag nachzukommen.

Auch die kritischen Stellungnahmen vieler Leser_innen der Nachdenkseiten zur Kür des Unwortes stimmten mich nachdenklich. Zudem waren Worte wie "Putinversteher" oder "Russlandversteher" - zu denen ich ja bekanntlich zähle - oder "social freezing" weitaus häufiger nominiert worden als "Lügenpresse".

Berichterstattung der ARD und des ZDF

Die Berichterstattung der ARD und des ZDF über die Demonstration in Paris zum Gedenken an die Ermordeten von Charlie Hebdo und dem jüdischen Supermarkt und die "Enttarnung" als Fake änderte meine Einstellung endgültig. Als ich merkte, wie die bundesdeutsche Bevölkerung mit getürkten Bildern hinter das Licht geführt wurde, war ich zunächst sprachlos. Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass ARD und ZDF auf eine derart dreiste Art und Weise ihre „Beitragszahler“ – ich bitte den Ausdruck zu entschuldigen – verarschen. Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Vielleicht bei RTL, aber nicht bei ARD und ZDF.

Als ich dann noch in der Süddeutschen Zeitung lesen musste, „Ein gestelltes Foto darf Geschichte schreiben“ war das Maß voll. Und ich wurde wütend. Richtig wütend. Der Kommentator Gerhard Matzig erklärte allen Ernstes, der Kniefall von Warschau, sei ja auch nur Kalkül gewesen. Und ich sei naiv, wenn ich tatsächlich geglaubt hätte, dass sich Spitzenpolitiker einem derartigen Risiko aussetzen würden.

Niemand hat von Hollande, Merkel, Gabriel – der war auch dabei – und wie sie alle heißen mögen, verlangt, dass sie sich unter Demonstranten mischen. Aber wenn sie so tun als ob, und die Leitmedien helfen ihnen dabei, dann gibt es nur ein Urteil: „Lügenpresse“. Und von nun an ist das Unwort des Jahres in meinen Wortschatz aufgenommen.

Ab jetzt: Lügenpresse

Eine Chronologie der Berichterstattung von ARD und ZDF in Printform hier
Eine Chronologie der Berichterstattung von ARD und ZDF als Video hier
Ein Make of als Videomittschnitt hier

Bürgerreporter:in:

Hajo Zeller aus Marburg

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