Früher war mehr Weihnachten

Mein Adventshaus, mein Vater hatte es, meine Großeltern hatten es
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  • hochgeladen von Karl-Heinz Töpfer

Die Weihnachtszeit im Marburger Land war für mich die schönste und spannendste Zeit des Jahres. Und natürlich lag es auch daran, dass ich noch Kind und Jugendlicher war. Diese Zeit begann schlagartig, wenn meine Mutter zum ersten Advent den Kranz schmückte, mit roten Kerzen und mit roten Schleifen am rot lackierten Holzständer mit goldenem Stern aufhing.

Der Duft frisch gebackener Plätzchen erfüllte die Wohnung, und immer lockte das Marburger Warenhaus, an dessen Schaufensterscheiben wir Kinder unsere Nasen platt drückten, wenn sich dahinter unzählige Plüschtiere als Bergleute, Märchenfiguren oder Musikanten bewegten. Dort machte ich auch dann meine Weihnachtseinkäufe: Eine Dose “HB“-Zigaretten für meinen Vater, eine Rolle Häkelgarn mit Nadel für meine Mutter und noch ein Püppchen für meine kleine Schwester. Schließlich wollte ich nicht mit leeren Händen dastehen. Bis auf die erleuchteten Weihnachtsbäume auf dem Marktplatz und vor dem Bahnhof war kaum Weihnachtsschmuck in den Straßen und Geschäften zu sehen. Dafür war es meist kalt, und es lag Schnee.

Vom Nikolaus hatte ich nichts zu befürchten, denn der hatte meist keine Zeit und legte seine Reisigrute mit ein paar Süßigkeiten einfach vor die Haustür. Ein paar Lieder für Weihnachten wurden auch schon mal auf der Blockflöte geübt. Eine ruhige Zeit war es - ohne Glanz und Gloria und ohne Lautsprecher-Gedudel. Und der “Blaue Brief“ von der Schule war dank der Weihnachtsvorbereitungen meiner Eltern vorübergehend in Vergessenheit geraten.

An manchen Abenden, wenn alle schliefen, schlich ich, von der puren Lust auf Plätzchen getrieben, ins Wohnzimmer und machte mich über die Suppenterrinen im Schrank her, in denen meine Mutter das Weihnachtsgebäck aufbewahrte. Wenn man nicht zu viel nahm, merkte sie das nicht. Richtig spannend wurde es aber, wenn ich allein zu Hause war, denn dann war Haussuchung angesagt. Mit detektivischem Gespür durchkämmte ich die Wohnung auf der Suche nach geheimen Verstecken. Irgendwo mussten die Weihnachtsgeschenke ja verborgen sein.

Meist wurde ich in den Schränken hinter der Wäsche fündig. Dann wurde getastet, gerüttelt und in schwierigen Fällen auch schon mal vorsichtig aus- und wieder eingepackt. Nein, dem Zufall wollte ich schon damals nichts überlassen. Besonders verdächtig war der Tag, an dem mein Vater mit mir zusammen ein bekanntes Optikergeschäft in der Wettergasse aufsuchte, das auch elektrische Eisenbahnen führte, einfach nur so, um zu schauen. Mit geschickten Reaktionen gelang es mir leicht, seine Aufmerksamkeit auf die Objekte meiner Begierde lenken.

Mit dem Geburtstag meiner Oma am Tag vor Heiligabend näherte sich für mich der absolute Höhepunkt der Weihnachtszeit, für meine Eltern dagegen die stressigsten Tage des Jahres. Morgens hasteten wir zu Fuß zum Bahnhof und fuhren mit einmal Umsteigen ins 25 Km entfernte Halsdorf zu den Großeltern. Dort trafen im Laufe des Abends Verwandte und andere Geburtstagsgäste ein – einige sogar noch mit der Pferdekutsche. Und das Schönste, alle brachten sie mir eine Kleinigkeit mit. Man saß in der guten Stube am großen Tisch, und es gab traditionell Weihnachtsplätzchen, vor allem aber belegte Brote mit gekochten Eiern, Blut-, Leber- und “roter“ Wurst, für die ich heute noch alles gebe. Während sich die Erwachsenen unterhielten, verzog ich mich auf das Sofa in die Küche, um die Wild-West-Groschenromane meines Patenonkels regelrecht und ungestört zu verschlingen. Tom Prox und Bill Jenkins waren meine Helden des Abends bis kurz vor Mitternacht. Denn immer zu später Stunde wurden nämlich Kaffee und Torten aufgetischt, bevor sich die Gäste mit den besten Wünschen für eine frohe Weihnacht verabschiedeten und sich auf den Heimweg begaben. Am nächsten Morgen durfte ich noch den großen Weihnachtsbaum meiner Großeltern schmücken.

Gegen Mittag dann, schnell zum Bahnhof und zurück nach Marburg, um zuhause den nächsten Baum zu schmücken. Später am Nachmittag gingen wir in die überfüllte Elisabethkirche. Der Pfarrer freute sich, dass er die Schäfchen, die sich das ganze Jahr nicht in der Kirche blicken ließen, wenigstens an Heiligabend begrüßen konnte. Zum Klang der Turmbläser traten wir den Heimweg an – dann endlich war Bescherung und meine Blockflöte kam holpernd zum Einsatz.

Am ersten Feiertag ging es wieder zurück nach Halsdorf zur Bescherung bei den Großeltern. Noch vor dem obligatorischen Weihnachtskaffee mit Christstollen und Plätzchen bestätigte sich auf wundersame Weise, dass ich in besagtem Optikergeschäft die richtigen Signale gesetzt hatte Bis zum Abend verblieb noch genug Zeit für meine beiden Revolverhelden. Entspannt konnte ich mich Tom Prox und Bill Jenkins zuwenden, wohl ahnend, dass die noch fehlenden Zutaten für meine elektrischen Eisenbahn und einiges mehr am nächsten Tag schon auf mich warten würden.

So war es dann auch! Am zweiten Feiertag in Gemünden/Wohra bei den anderen Großeltern und den anderen Verwandten, die wir dort ebenfalls trafen. Bis zum Einbruch der Dunkelheit ging ich zusammen mit meinem Cousin hinaus in den Schnee – schließlich war ja Winter. Mit Schneebällen machten wir Zielübungen auf offen stehende Fenster in der Nachbarschaft, was uns viele Jahre später beim Militär zugutekommen sollte. Abends spielte ich gegen Oma Mühle und freute mich diebisch über ihre Zornesausbrüche, wenn sie wieder und wieder in meine Zwickmühle geriet.

Eine schöne Zeit war es, wenn es in den warmen Wohnstuben nur nach Tannenbaum, Wachskerzen, nach Kaffee und Gebäck duftete. Eine Zeit voller Vorfreude war es, da Kinderwünsche in der Regel nur an Weihnachten und zu Geburtstagen erfüllt wurden. In den Familien wurde sich noch unterhalten, ohne dabei das laufende TV-Programm zu übertönen und ohne von Computern und Smartphones abgelenkt zu werden. Eine Zeit der Ruhe und Besinnung war es, die heute in meiner Erinnerung weiterlebt.

Freuet euch, das Christkind kommt bald.

Bürgerreporter:in:

Karl-Heinz Töpfer aus Marburg

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